Kapitel 126

Es blieben weniger als zwei Tage bis zum Entscheidungskampf. Der Kampf hatte fast die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Gasthäuser in Funing waren längst gefüllt, denn unzählige Menschen aus der Jianghu strömten in diese kleine, normalerweise unbekannte Stadt. Es war genau wie damals, als Shen Qiao und Kunye sich duelliert hatten.

Es gab jedoch einen Unterschied. Shen Qiao war damals zwar berühmt gewesen, aber nicht wegen seiner Kampfkünste. Der Grund, warum sein Kampf mit Kunye Aufmerksamkeit erregt hatte, war, dass er auf einer gewissen Ebene die Fortsetzung des Glanzes von Qi Fengge und Hulugu darstellte. Alle hatten in ihren Nachfolgern nach dem Glanz der beiden größten Kampfkunstmeister des Landes gesucht.

Viele Menschen sahen den Kampf zwischen Yan Wushi und Hulugu jedoch als eine Konfrontation zwischen den Kampfkunsten der Zentralebene und des Kök-Türken-Khaghanats.

Buddhistische, daoistische und konfuzianische Sekten und sogar zahlreiche andere große und kleine Sekten ‒ neun von zehn, die von der Nachricht gehört hatten, waren sofort herbeigeeilt.

Es hieß, ein Gasthaus sei komplett von der Linchuan-Akademie gebucht worden. Sogar Akademiemeister Ruyan Kehui war persönlich gekommen, um dem Kampf beizuwohnen.

Zenmeister Fayi von der Tiantai-Sekte, Yi Pichen vom Chunyang-Kloster des Qingcheng-Berges, Xuandus-Violetter-Palast, die Fajing-Sekte, die Hehuan-Sekte, der Liuli-Palast, die Bixia-Sekte und sogar der Kosa-Weise aus dem fernen Tuyuhun ... All diese Leute kamen entweder selbst oder schickten ihre Schüler. Es war klar, dass sie sich diesen spannenden, einmaligen und entscheidenden Kampf nicht entgehen lassen wollten.

Dieses Ausmaß an Aufmerksamkeit ‒ praktisch die ganze Welt sah zu! Es war ein weitaus größeres Spektakel, als es der Kampf zwischen Shen Qiao und Kunye gewesen war. Aber ein Kampf, der so viele Augen auf sich ziehen konnte, musste auch ein Kampf sein, der enorme Risiken barg.

Ein Erfolg würde bedeuten, in der Welt unvergleichlich zu werden. Ein Misserfolg käme einem Sturz in den Abgrund gleich.

Dies war nicht nur ein Duell der Kampfkünste, es war auch ein Duell um ihren Ruf ‒ und um ihr Leben. Niemand war so naiv zu glauben, dass der Kampf zwischen diesen beiden nur ein freundschaftlicher Übungskampf sein würde. Jeder wusste, dass Hulugu vor zwanzig Jahren während des Duells zwischen Qi Fengge und Hulugu schwer verletzt worden war und fast gestorben wäre. Er musste schwören, die Zentralebene zwanzig Jahre lang nicht mehr zu betreten. Stattdessen ging er in die Länder jenseits der Großen Mauer und zog sich in die Abgeschiedenheit zurück. Qi Fengge selbst war auch nicht gerade glimpflich davongekommen ‒ viele Leute flüsterten insgeheim, dass Qi Fengge in diesem Duell ebenfalls schwer verwundet worden war und dass dies eine lauernde Gefahr in ihm hinterlassen hatte, die später zum Tod des Vollendeten Meisters Qi geführt hatte. Natürlich war diese Behauptung nur ein Gerücht; niemand konnte sie bestätigen.

Wie dem auch sei, viele Menschen in der Jianghu waren nur durchschnittliche Praktizierende, die wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang keinen Blick auf den Kampfgipfel werfen würden. Hier aufzutauchen war für sie bereits die Chance ihres Lebens, auch wenn sie den steilen Yinghui-Gipfel nicht erklimmen und nur am Fuße des Berges im Bezirk Funing warten konnten.

„Ich habe gehört, dass die größte Spielhölle des Bezirks Funing, das Tongfu-Glücksspielhaus, bereits seine Pforten geöffnet hat. Sie nehmen Wetten darauf an, wer den Kampf von Zongzhu gegen Hulugu gewinnen wird." Der Verwalter des Herrenhauses berichtete Yan Wushi respektvoll über die Situation.

Yu Shengyan hatte es in diesen Tagen nicht gewagt, vor Yan Wushi zu erscheinen. Keiner wusste, wohin er verschwunden war.

Obwohl sie in dem Ersatzherrenhaus am Stadtrand wohnten, bedeutete das nicht, dass sie keine Nachrichten erhalten konnten. Im Gegenteil, der Verwalter schickte jeden Tag Leute aus, um sich nach den neuesten Informationen zu erkundigen, z. B. welche neuen Sekten im Bezirk angekommen waren, in welchem Gasthaus sie wohnten, wohin die Leute von der Linchuan-Akademie heute gegangen waren und so weiter. All diese Nachrichten drangen schnell zu ihren Ohren.

Obwohl er einer der Beteiligten an dem entscheidenden Kampf war, wirkte Yan Wushi gelassener und ruhiger, als man es sich hätte vorstellen können. Er hielt gerade eine Walnussschale in der Hand ‒ das Dienstmädchen hatte sie nach dem Knacken einiger Walnüsse an der Seite liegen lassen ‒, die er dem Kitz zuwarf. „A-Qiao, komm her."

Das Kitz schmiegte sich an Shen Qiao, um Zuneigung zu bekommen, und trank mit gesenktem Kopf Wasser aus seinem Becher. Die Walnussschale traf es am Kopf, aber anstatt sich über Yan Wushis Angriff aufzuregen, trank es einfach in aller Ruhe weiter.

Es war Shen Qiao, der ein solches Verhalten nicht ertragen konnte. Abgesehen davon, dass dieser Mann seinen Namen für das Kitz gewählt hatte, der eindeutig keine guten Absichten verbarg, war das Kitz völlig wohlerzogen und provozierte nie jemanden, aber Yan Wushi schikanierte und neckte es ständig.

Eine weitere Walnussschale flog herüber, doch diesmal traf sie nicht das Kitz, denn ein Blatt schlug sie weg. Stattdessen streifte sie das Ohr des Verwalters und bohrte sich dann in die Säule hinter ihm.

Dem Verwalter brach der kalte Schweiß aus.

Shen Qiao reagierte entschuldigend: „Es tut mir leid, habe ich Sie erschreckt?"

Der Verwalter schüttelte wiederholt den Kopf. Wie sollte er diese Entschuldigung annehmen? Yan Wushi konnte nicht anders, als in Gelächter auszubrechen.

Shen Qiao wollte mit den Augen rollen, aber das hätte ihn viel zu lächerlich gemacht. Er streichelte das unwissende Kitz und dachte, dass er eine Gelegenheit finden würde, ihm einen neuen Namen zu geben.

Yan Wushi fragte plötzlich: „Wie stehen die Wettquoten?"

Der Verwalter schaute einen Moment lang ins Leere, bevor er merkte, dass die Frage an ihn gerichtet war. Schnell sagte er: „1-10".

Shen Qiao hatte noch nie gespielt, aber auch er wusste, was diese „1-10" bedeutete. Er war über sich selbst erstaunt. „Auf wen?"

„Auf den Sieg des Meisters", sagte der Verwalter.

„Und was ist mit den Wetten auf Hulugu?"

Der Verwalter hustete leicht: „1-2."

Shen Qiao war sprachlos.

Yan Wushi war nicht verärgert, sondern lächelte: „Sie scheinen nicht optimistisch zu sein, dass ich gewinnen werde!"

Als Hulugu wieder in der Jianghu auftauchte, hatte er auf dem Qingcheng-Berg sein beeindruckendes Debüt gegeben. Zuerst hatte er Yi Pichen besiegt, dann Shen Qiao. Sie gehörten zu den zehn Besten der Welt, beide auf der Ebene eines Zongshi, und doch hatten sie in einem Wimpernschlag gegen Hulugu verloren. Diese Kampfrekorde waren genug, um die ganze Welt in Erstaunen zu versetzen.

Auf der anderen Seite war da Yan Wushi. Obwohl er in der Tat beeindruckend war, hatte Hulugus Stärke vor diesem Kampf ausgereicht, um seinen Glanz zu trüben. Außerdem stammte Hulugu aus der gleichen Generation wie Qi Fengge. Seine Kampfkünste hatten bereits ein Niveau erreicht, bei dem das Alter kein Hindernis darstellte oder seine physische Kraft einschränkte. Stattdessen war es ein Zeichen für seine Erfahrung.

Shen Qiaos Tonfall war flach: „Wenn ich sehe, wie du im Moment drauf bist, bin ich auch nicht optimistisch.“

Yan Wushi hob eine Augenbraue: „Wie ist mein ehrwürdiges Ich so? Nur weil eine große Schlacht bevorsteht, soll ich mich so verloren und verwirrt verhalten, dass ich weder schlafen noch essen kann? Oder soll ich in Tränen ausbrechen, während ich mich an deine Schenkel klammere und weine: 'A-Qiao, ich will nicht mehr hingehen'?"

Shen Qiao warf ihm einen Blick zu, sagte aber nichts.

„Ich glaube, es gibt keinen Grund zur Sorge", tröstete ihn Yan Wushi, „Du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen. Ich habe dir bereits die Huanyue-Sekte anvertraut. Schlimmstenfalls bekomme ich nur einen weiteren Riss in meinem Schädel. Es ist ja nicht so, als wäre er noch nie geknackt worden."

Shen Qiao war wieder einmal sprachlos.

Yan Wushi lächelte strahlend und zuckte mit den Schultern: „Wenn er bricht, kann Xie Ling vielleicht wieder zurückkehren. Dann könnt ihr beide euer Liebesgespräch noch einmal genießen."

Darauf hatte Shen Qiao absolut nichts zu erwidern.

Er war eine Person der Jianghu, und zwar eine mit außergewöhnlichen Kampffähigkeiten. Außerdem hatte er persönlich mit Hulugu gekämpft und wusste daher natürlich, was dieser Kampf bedeutete. Und weil er das wusste, dachte er in diesen Tagen ständig darüber nach, wie er Yan Wushi helfen konnte, um ihm eine größere Chance auf den Sieg zu geben.

Aber wenn es um den Weg der Kampfkunst geht, ist es leichter gesagt als getan, Abkürzungen zu finden. Auch wenn es Shen Qiao gelungen war, seine Knochen und Muskeln wieder aufzubauen, so hatte er doch zuerst alle seine Kampfkünste verloren. Man konnte zwar nichts Neues aufbauen, ohne das Alte zu zerstören, aber wer würde schon etwas "zerstören" wollen, das perfekt funktionierte? Die Tatsache, dass Yan Wushi den Fehler des dämonischen Kerns reparieren konnte, war bereits ein unglaublicher Glücksfall. Hätte er nicht die Schriftrolle der Zhuyang Strategie von Chen Gong erhalten, wären seine Chancen auf einen Sieg gegen Hulugu vielleicht noch geringer gewesen.

Shen Qiaos Herz wurde von Sorgen geplagt, und seine Gedanken kreisten unaufhörlich, während er in seinen Erinnerungen wühlte. In den letzten Tagen hatte er öfter geschwiegen als sonst.

Im Moment dachte er lange nach, vergaß aber nicht, zwischendurch zwei weitere Walnussschalen für das Kitz zu blockieren.

„Ich habe viel nachgedacht, aber ich habe mich an etwas erinnert", sagte er schließlich, „Nach dem Kampf zwischen Shizun und Hulugu sind mir einige Dinge klar geworden. Es ist viele Jahre her, und ich war damals noch jung, deshalb erinnere ich mich nicht mehr so genau. Nach so langer Zeit habe ich mich nur an ein wenig erinnert. Vielleicht wird es dir nicht helfen, aber es ist immer noch besser, ein wenig zu wissen, als völlig unvorbereitet in die Sache zu gehen."

„Hm", sagte Yan Wushi. Er wartete in aller Ruhe auf den Rest.

Shen Qiao brauchte einige Zeit, um seine Gedanken zu ordnen: „Shizun sagte einmal, dass Hulugu ein Wunderkind der Kampfkunst ist. Er hat praktisch mit jeder Waffe trainiert und beherrscht sie alle. Aber am Ende entschied er sich, keine Waffe zu benutzen und sich stattdessen auf seine bloßen Handflächen zu verlassen. Das lag nicht nur daran, dass seine innere Kultivierung so hervorragend war, dass eine Waffe nur eine oberflächliche Berührung wäre, sondern vielmehr daran, dass er all diese Waffen bereits in jede seiner Bewegungen und Haltungen integriert hat. Aber jeder hat seine Stärken und Schwächen. Abgesehen vom himmlischen Dao gibt es in dieser Welt keine perfekten Existenzen. Das gilt für Hulugu genauso wie für jeden anderen; er muss seine eigenen Schwächen haben. Vor zwanzig Jahren hat er gegen Shizun verloren, weil seine Fähigkeiten und seine innere Energie denjenigen von Shizun leicht unterlegen waren. Aber dieses Mal, wenn du deine innere Energie gegen seine einsetzt, hast du vielleicht keine Chance zu gewinnen, also musst du woanders nach weiteren Schwächen suchen."

Als er dies sagte, wurde ihm selbst etwas klar: „In Wahrheit sind diese Worte vielleicht gar nicht nützlich für dich, und du kannst sie nur als Referenz verwenden."

Wenn zwei Menschen kämpfen, erleben sie viele Gefühle, die geheimnisvoll und tiefgründig sind. Diese Gefühle lassen sich nicht in Worte fassen ‒ nur die Kämpfenden können sie erleben. Selbst wenn Shen Qiaos Zunge aus Silber gegossen wäre, könnte er sie wahrscheinlich nicht klar ausdrücken. Aber da er unbedingt wollte, dass Yan Wushi gewann, hatte er sich bemüht, sie aus seinen Erinnerungen herauszuholen.

Yan Wushi sah ihn mit einem zärtlichen Blick an. „Auch wenn ich derjenige bin, der gegen Hulugu kämpfen wird, bist du derjenige, der vor Angst zusammenbricht. Du machst eine schwere Zeit durch."

Shen Qiao war zwischen Lachen und Weinen hin- und hergerissen: „Dieser Kampf ist keine Bagatelle. Das sieht man schon an der Zahl der Menschen im Bezirk Funing! Du bist der Einzige, der so sorglos ist! Ich werde deine Schüler nicht erwähnen, aber hast du nicht bemerkt, wie nervös alle in dem Herrenhaus in den letzten zwei Tagen waren?"

Yan Wushi lachte und richtete sich auf: „Ich weiß, dass du dir am meisten Sorgen um mich machst. Warum ziehst du andere Leute da mit hinein? Den ganzen Tag so herumzusitzen ist so langweilig. Komm, ich nehme dich mit zum Spielen."

Shen Qiao runzelte ein wenig die Stirn, aber Yan Wushi war bereits hinausgegangen, weswegen er ihm nur noch folgen konnte.

Yan Wushi führte ihn in die Stadt des Bezirks, aber anstatt einem bestimmten Zongshi in einem Gasthaus aufzusuchen, ging er mit geübter Leichtigkeit in eine Spielhölle. 

Shen Qiao schaute auf.

Tongfu-Glücksspielhaus.

Der Ort war überfüllt. Eine ganze Reihe von Jianghu-Praktizierenden war anwesend und trug zu der geschäftigen Atmosphäre bei. Da der Kampf noch nicht begonnen hatte, waren viele gekommen, um sich die Zeit mit Glücksspielen zu vertreiben. Die Wettbretter für Hulugu und Yan Wushi zogen natürlich die meisten Leute an ‒ die Menge stand so dicht, dass sie fast wasserdicht schien. Aber Yan Wushi rief nur einen der Händler in der Spielhölle herbei und legte einen Einsatz für sich selbst fest, dann zog er Shen Qiao zu sich.

„Dies ist das Spiel ‚groß oder klein'. Es ist sehr einfach, zu spielen: Es gibt drei Würfel, und wenn deine Summe kleiner oder gleich zehn ist, ist sie klein. Ist sie größer oder gleich elf, ist sie groß", sagte er zu Shen Qiao. Als er die Verwirrung auf seinem Gesicht sah, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Dies war eine andere Welt, eine Welt, die Shen Qiao völlig fremd war. Überall ertönten Rufe; einige Menschen jubelten vor Freude, weil sie Geld gewonnen hatten, während andere jammerten, weil sie es verloren hatten. In seiner daoistischen Robe sah Shen Qiao offensichtlich fehl am Platz aus. In Anbetracht seiner Robe und seiner außergewöhnlichen, auffälligen Erscheinung hätte man ihn längst erkannt, wären nicht die meisten der Menschen, die sich hier tummelten, nur rangniedrige Mitglieder der Jianghu gewesen.

Und Yan Wushi brauchte nicht erwähnt zu werden. Schon seine bloße Anwesenheit ließ denen, die in seiner Nähe waren, den Atem stocken ‒ absolut niemand wagte es, zweimal in seine Richtung zu schauen.

Hier entschied nicht die Kampfkunst, sondern das Glück über Sieg und Niederlage. Es war unmöglich, zu sagen, wie viele Menschen hier ihr Glück verspielt hatten und am Ende mittellos dastanden. Jahr für Jahr florierte die Spielhölle, doch wie viele Besucher, die hier ein- und ausgingen, hatte sie schon verschlungen?

Shen Qiao, der nicht einmal gezuckt hätte, wenn ein Berg vor ihm zusammengebrochen wäre, war nun etwas ratlos, als er hier stand.

Vielleicht dachte Yan Wushi, dass diese Art von Shen Qiao unglaublich liebenswert wäre und dass der Ausflug in die Höhle nicht umsonst gewesen war. Er zog ihn lächelnd zu sich heran: „Qi Fengge hätte dich nie in eine Spielhölle mitgenommen, oder?"

Shen Qiao runzelte die Stirn, seine Antwort war klar: Wie konnte Shizun mich jemals an einen solchen Ort bringen?

Yan Wushi führte ihn zum Spieltisch und sprach in einem beruhigenden Ton, wie man ihn bei einem Kind anwendet: „Es macht sehr viel Spaß. Sieh, selbst bei einem Spiel wie groß oder klein sind diese Leute völlig vertieft und haben Angst, dass sie auch nur das kleinste Detail übersehen."

Shen Qiao warf einen Blick auf die Gesichter der Leute um ihn herum. Sie schienen alle zutiefst fasziniert zu sein, denn ihre Augen waren ganz auf die Porzellanbecher in der Hand des Gebers gerichtet.

Sobald der Porzellanbecher angehoben wurde, war das Ergebnis klar und die Mienen aller veränderten sich augenblicklich: Ursprünglich angespannt, strahlten die einen vor Freude, während die anderen vor Enttäuschung in sich zusammenfielen.

Aber Shen Qiao konnte ihre Aufregung nicht verstehen. Er war eine Figur, die sich an diesen Ort verirrt hatte, ein leidenschaftsloser Beobachter. Er konnte sich nicht in ihre Gefühle hineinversetzen.

Yan Wushi drückte Shen Qiao einen hölzernen Glücksspielchip in die Hand, den er zuvor eingetauscht hatte. Das waren zehn Tael, genug Geld, um mehr als ein halbes Jahr lang die Ausgaben einer normalen Familie zu decken. Das war zwar auch ein ziemlich hoher Einsatz, aber die Huanyue-Sekte war unglaublich reich, und so zuckte Yan Wushi nicht einmal mit der Wimper. „Versuch es doch mal."

„Schließt eure Wetten ab! Schließt eure Einsätze ab!", rief der Geber, während er den Porzellanbecher schüttelte und ihn dann verkehrt herum auf den Tisch stellte.

Shen Qiao zögerte einen Moment lang, dann schnippte er mit dem Finger. Der Holzchip landete lautlos auf der Stelle, an der das Wort „klein" geschrieben stand.

Obwohl der Geber sehr beschäftigt war, schaute er auf und sah, dass es ein gutaussehender junger Mann mit einem Schwert auf dem Rücken war. Er fragte sich, ob dieser Mann gekommen war, um die Bude zu verwüsten.

Der Porzellanbecher erhob sich. Sie war „klein".

Die Quoten für diesen Tisch waren 1:1, also gewann Shen Qiao einen weiteren Holzchip. Das bedeutete, dass er jetzt zwanzig Tael hatte.

In der zweiten Setzrunde wählte er "groß".

Die Ergebnisse wurden bekannt gegeben. Es war wirklich „groß". Es folgten mehrere Runden, und jedes Mal setzte Shen Qiao richtig. Sogar die Gäste in der Nähe waren auf ihn aufmerksam geworden und fragten sich: Spielen heutzutage sogar daoistische Priester gerne Glücksspiele? Aber das hielt sie nicht davon ab, ihre Wetten zusammen mit Shen Qiao zu platzieren.

Der Geber hielt es nicht länger aus: Er meldete die Angelegenheit heimlich dem Besitzer. Der Besitzer kam mit mehreren Leuten heraus und sah, dass es sich um einen Mann aus der Jianghu handelte, mit dem man nicht zu spaßen hatte. Also überreichte er Shen Qiao schnell eine großzügige Summe und bat sie respektvoll, zu gehen. Er erzählte ihnen sogar, dass es im Bezirk noch ein weiteres Sifang-Glücksspielhaus gab, das ebenfalls sehr groß sei.

In dem Moment, als sie die Höhle verließen, begann Yan Wushi zu lachen. Er lachte, bis er sich bückte und sich auf Shen Qiaos Schulter abstützte.

Shen Qiao sagte nichts.

Yan Wushi lachte fast, bis ihn die Tränen kamen. „Das ist das erste Mal, dass ich aus einer Spielhölle rausgeschmissen werde. Das habe ich dir zu verdanken. Hast du deine innere Energie benutzt, um den Würfeln zuzuhören?"

„... Woher sollte ich wissen, dass so etwas verboten ist?" In Shen Qiaos Tonfall schwang ein Hauch von unbewusster Empörung mit.

Yan Wushi stupste ihn an: „So lauten die Regeln. Selbst wenn Qi Fengge gekommen wäre, wäre es ihm untersagt, seine innere Energie zu benutzen. Sonst gäbe es keine einzige Spielhölle, die ihn reinlassen würde."

Überraschenderweise war Shen Qiao darüber schnell erleichtert. Er lächelte sogar. „Jedenfalls wäre ich nie hineingegangen, wenn du mich nicht hierhergeschleppt hättest."

Er betrachtete den schweren Geldbeutel in Yan Wushis Hand und fragte neugierig. „Du hast ziemlich viel gewonnen. Hast du deine innere Energie nicht verbraucht?"

Yan Wushi lachte. „Diese Spielhölle hat einen guten Ruf. Der Geber betrügt nicht, also verlässt sich jeder auf sein eigenes Glück. Das macht es ein bisschen lustiger. Meinst du nicht, dass es eher langweilig wird, wenn du deine innere Energie einsetzt, um den Würfeln zuzuhören und das Ergebnis vorher zu erfahren?"

Obwohl Shen Qiao keine Freude an solchen Spielen hatte, verstand er doch, was Yan Wushi sagte. Er nickte: „Ein bisschen Spannung ist eine Möglichkeit, die Dinge angenehmer zu gestalten."

Yan Wushi spielte mit dem Geldbeutel und schwenkte ihn hin und her. Einen Wimpernschlag später hatte er ihn in die zerbrochene Schale eines Bettlers am Straßenrand geworfen, wobei er sein Ziel nicht verfehlte. Der Bettler hatte nicht damit gerechnet, dass ihm eines Tages ein Vermögen vom Himmel fallen würde ‒ er war verblüfft.

Derjenige hingegen, der ihm das Geld zugeworfen hatte, schenkte ihm nicht einmal einen Blick, als wäre alles, was er weggeworfen hatte, ein Stein.

„Das stimmt", sagte er, „Im Leben geht es nur um Glücksspiele. Reinkarnation ist ein Glücksspiel. Manche Menschen werden in gute Familien hineingeboren und müssen sich nie um Essen oder Kleidung kümmern. Andere werden als Kinder von Bettlern und in ein Leben in Armut geboren. Heiraten ist auch ein Glücksspiel, ob das Paar harmonisch sein wird und ob die Familie stabil sein wird. Dabei kann es sich um eine gewöhnliche Familie auf dem Markt handeln, um eine wohlhabende, extravagante Familie oder sogar um die Kaiserfamilie des Kaisers selbst. Ist das nicht alles ein großes Glücksspiel?"

Shen Qiao dachte an sich selbst. Wenn Qi Fengge ihn nicht als Schüler aufgenommen hätte, wäre es egal gewesen, wie talentiert er war. In dieser turbulenten Welt wäre er wahrscheinlich schon längst ein einsamer Geist, der durch die Wildnis irrt.

Yan Wushi hatte das Glücksspiel als Metapher benutzt, und es gab tatsächlich vergleichbare Aspekte. Shen Qiao konnte nicht sagen, dass es falsch war.

Er schüttelte den Kopf: „Yan Wushi, du bist ein Spieler durch und durch."

Um sich das größte Vergnügen zu verschaffen, würde er sogar sein Leben aufs Spiel setzen. Auf der ganzen Welt gab es vielleicht keinen verrückteren Spieler als ihn.

Yan Wushi lächelte. „A-Qiao kennt mich gut. Wenn ich sicher wäre, gegen Hulugu zu gewinnen, warum sollte ich dann hingehen? Die Dinge sind nur dann interessant, wenn mein Sieg ungewiss ist! Wenn diese Spannung fehlen würde, wäre das Leben wirklich so langweilig!"

Ein schwaches Lächeln zupfte an Shen Qiaos Mundwinkel. „In dieser Welt sieht man selten so eigensinnige Menschen wie dich."

„Komm, da ich etwas Geld gewonnen habe, werde ich dich einladen."

„Du hast deinen Gewinn gerade einem Bettler gegeben", erinnerte ihn Shen Qiao.

„Ich gewinne Geld zum Vergnügen, und wenn jemand zufrieden ist, sollte er andere verwöhnen. Was hat das mit Glücksspiel zu tun?"

Kurzum, er war glücklich.

Yan Wushi zerrte den sprachlosen Shen Qiao weg.

 

 

 

Erklärungen:

Tael, , ist ein Gewicht, das in China und Ostasien verwendet wird. Dabei gibt es unterschiedlicher Angaben, aber in China wird diese auf 50 Gramm festgelegt.




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6 Kommentare:

  1. Yan Wushi ist die Ruhe selbst. Jeder ist gespannt auf den Kampf, Wetten werden abgeschlossen und Shen Qiao macht sich richtig sorgen. Und Yan Wushi hat nichts besseres zu tun, als das Kitz zu necken und Shen Qiao in ein Glückspielhaus zu bringen. Mit Shen Qiao seinen Fähigkeiten würde ich da auch gerne mal hingehen und mal so nebenbei ein wenig Geld gewinnen *hust*
    Aber es hat ihn auch etwas abgelenkt, während Yan Wushi das Geld "wegwirft", als wäre es absolut von keiner Bedeutung. Ein Segen natürlich für den Bettler XD

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    1. Yan Wushi schleppt Shen Qiao in eine Spielhölle und verhindert nicht, dass er betrügt. Im Grunde ist er der Bad Boy, der das gute und wohlerzogene "Mädchen" zu üblen Taten verführt.
      Ich habe mich noch nie am Glücksspiel versucht, ich besitze nicht ein Mal ein Pokerface, aber weiß, ob ich mit den Kultivierungsfähigkeiten von Shen Qiao es doch versuchen würde.
      Yan Wushi ist im Grunde genommen nur eins wichtig Shen Qiao und eventuell die Kampfkünste, aber wenn man auch gefühlt im Geld schwimmen kann wie Dagobert Duck, kann man es sich leisten solche Summen wegzuschmeißen.

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  2. A-Qiao hat versehentlich beim Glücksspiel geschummelt.😂 Ahh, das war so ein süßes Kapitel! Danke für die Übersetzung!

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    1. Shen Qiao kam aber auch mit dem Schummeln sehr glimpflich davon Ich weiß nicht was ihm in unserer Welt geblüht wäre, wenn er beim Schummeln erwischt worden wäre.

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  3. Vielen lieben Dank. Ich musste echt schmunzeln als Shen Qiao unwissend geschummelt hat. Ich kann die Fortsetzung kaum erwarten. Lg Diana

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    1. Hallo Diana,
      vielen lieben Dank für dein Lesen und deinen Kommentar. Ich musste auch bei Shen Qiao unabsichtlicher Schummelei schmunzeln, es passt einfach zu seinem Charakter und zu Yan Wushis, dass er Shen Qiao nicht davor bewahrt hat.
      Zum Glück ist die Fortsetzung ratzfatz gekommen.

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