Kapitel 39

Es war hundert Jahre her, dass die Östlichen Wu-Dynastie ihre Hauptstadt in Jiankang errichtet hatte. In dieser Zeit war die Östlichen Jin-Dynastie nach Süden gewandert und nutzten den Jangtse als Barriere, um sich vom militärischen Chaos im Norden abzuschotten. Und so wurde Jiankang zur wohlhabendsten Stadt, nicht nur in der Zentralebene, sondern im ganzen Land. Händler aus allen Teilen der Welt kamen hierher, während Reisende und Wanderer wie Webschiffe kamen und gingen. Tagsüber überschwemmten Pferde in endlosen Strömen die Straßen, und wenn die Nacht hereinbrach, verwandelte sich die Stadt in ein Meer von Laternen, die bis zum Morgengrauen leuchteten. In den Bordellen ging es noch lebhafter zu – in ihren dufteten Betten und vergoldeten Zimmern herrschte die ganze Zeit über schlaflose Nächte.

Städte wie Chang'an und Yecheng waren zwar auch Hauptstädte, aber der Tribut, den sie durch ausgedehnte Kriege erlitten hatten, war offensichtlich. Alle zogen das vergleichsweise friedliche Jiangnan vor, in dem es kaum Kämpfe gab. Es wurde als so paradiesisch angesehen, dass es sogar ein Sprichwort gab, das besagte, dass ‘alle Blumen des Landes in Jiankang zusammenkommen‘. Die Beamten der Nördlichen Zhou-Dynastie, wie Yuwen Qing, sprachen dies vielleicht nicht laut aus, aber in ihren Herzen bewunderten sie Jiankang sehr. Die sie begleitenden Bediensteten brauchten ihre Gefühle nicht zu verbergen – sie keuchten bereits vor Ehrfurcht. Das schmeichelte den Beamten von Chen, die sie in Empfang genommen hatten und die es sich nicht nehmen ließen, auf dem Weg die verschiedenen Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen.

In der Stadt angekommen, übernachtete Yuwen Qings Gruppe natürlich in dem Gästekomplex, den Chen für sie bereitgestellt hatte. Auch Yan Wushi wurde dort untergebracht, und zwar aufgrund seiner offiziellen Stellung und weil er ihr Retter gewesen war. Yuwen Qing verzichtete bereitwillig auf den Haupthof und ging in den Nebenhof, um sich um seine Konkubine Yu Zi zu kümmern. Seit dem Schreck in jener Nacht war sie krank und bettlägerig geworden und blieb es auch. Erst als sie sich in der Stadt niedergelassen hatten, begann sie sich zu erholen.

Nachdem fehlgeschlagenen Attentat hatte die Hehuan Sekte keine Anzeichen von Bewegung gezeigt. Zunächst war Yuwen Qing noch beunruhigt, doch dann dachte er an Yan Wushi. Wenn die Attentäter Erfolg hätten, während Yan Wushi in der Nähe war, würde sein Ruf als Sektenanführer der Huanyue Sekte ruiniert werden. Und in der Jianghu war der eigene Stolz mehr wert als das eigene Leben. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf entspannte sich Yuwen Qing allmählich und unternahm mit seiner geliebten Konkubine eine Tour durch Jiankang, während er auf die Vorladung des Kaisers von Chen wartete.

Eines Tages, als Shen Qiao in seinem Zimmer dem Dienstmädchen zuhörte, das ihm aus einem Buch vorlas, kam jemand und meldete, dass Yuwen Qing zu Besuch sei.

Auf Shen Qiaos Nicken hin legte Ruru das Buch weg und öffnete die Tür.

Yuwen Qing trat ein und schaute sich um. „Äh? Ist Junior-Präzeptor Yan nicht hier?"

Shen Qiao lachte. „Wir beide haben schon immer getrennte Zimmer gehabt. Wenn der Senior-Beamte Yuwen ihn sehen möchte, sind Sie im falschen Zimmer. Aber ich habe gehört, dass Sektenanführer Yan heute geschäftlich zu tun hat – er ist heute in der Früh abgereist."

Yuwen Qing gluckste trocken. „Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Seine geschätzte Person ist zu beängstigend. Jedes Mal, wenn ich mit ihm spreche, bin ich nervöser als bei Seiner Majestät!"

Ruru konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.

Yuwen Qing war schon immer der Typ gewesen, der Schönheiten verwöhnte. Als er ihr Lachen hörte, wurde er nicht wütend, sondern lächelte sie an.

Das brachte Ruru ein wenig in Verlegenheit.

Yuwen Qing wandte sein Lächeln an Shen Qiao. „Möchte Shen-Gongzi bei diesem schönen Wetter einen Spaziergang machen? Jiankang liegt am Ufer des Huai-Flusses, und ich habe gehört, dass es hier viele Fähren gibt, jede mit ihrem eigenen Markt. Warum sehen wir uns nicht ein wenig um und kaufen unterwegs ein paar frische Flussdelikatessen? Dann können wir uns heute Abend von der Anlage ein Festmahl zubereiten lassen!"

Danach schien er an etwas anderes zu denken. „Aber Ihr kommt doch aus einer taoistischen Sekte. Müsstet Ihr nicht auf Fleisch verzichten und Euch nur vegetarisch ernähren?"

„Nein, nichts dergleichen", sagte Shen Qiao. „Ich fürchte nur, dass mein schlechtes Sehvermögen auf eurem Ausflug eine Belastung sein könnte.

Yuwen Qing lachte. „Shen-Gongzi hat mir das Leben gerettet! Damals war ich eine Last für Euch, es gibt also keinen Grund, so bescheiden zu sein."

Shen Qiao wies ihn nicht ein zweites Mal ab. „Dann werde ich so höflich sein und annehmen."

Der Gästekomplex war nicht weit von einem der Übergängen entfernt, folglich lehnte es Yuwen Qing ab, eine Kutsche zu nehmen. Stattdessen nahm er Yu Zi und die anderen mit auf einen Ausflug zu Fuß mit. Zuerst war er sogar besorgt, dass es für Shen Qiao unbequem werden könnte, aber obwohl Shen Qiao einen Bambusstock zur Unterstützung benutzen musste, war er nicht langsamer als die anderen und brauchte keine Hilfe. Er ging Seite an Seite mit Yuwen Qing, nicht anders als die anderen.

Yuwen Qing bemerkte, dass Shen Qiao kein Schwert trug. „Shen-Gongzi, wo ist Euer Schwert?"

Shen Qiao lächelte, als hätte er den Grund für seine Besorgnis erkannt, und sagte: „Der Senior-Beamte Yuwen muss sich keine Sorgen machen. Wenn wir auf den Feind treffen, wird mein Bambusstock ausreichen, um ein paar von ihnen abzuwehren. Außerdem ist dies immer noch Jiankang. Da die Linchuan Akademie Wache hält, wird die Hehuan Sekte nicht so leichtsinnig und übermütig sein, uns hier anzugreifen!"

Shen Qiao hatte seine Befürchtungen durchschaut. Yuwen Qings Gesicht wurde rot und verlegen. „Kein Wunder, dass ich das Gefühl hatte, dass alles viel friedlicher war, seit wir die Stadt betreten haben. Der Junior-Präzeptor war sogar selbstbewusst genug, um die Stadt zu verlassen und sich um seine Angelegenheiten zu kümmern. Und das ist der Grund."

„Chen und Zhou sind jetzt miteinander verbündet", erklärte Shen Qiao. „Wenn Ihr den Attentätern von Jiankang zum Opfer fallen würdet, könnte Chen sich nicht einmal vor dem Kaiser von Zhou rechtfertigen. Sie werden also ihr Bestes tun, um Eure Sicherheit zu gewährleisten. Der Komplex wird ständig von Kampfkünstlern bewacht – ihr habt es nur noch nicht bemerkt."

Yuwen Qing schlich sich näher an ihn heran und flüsterte: „Shen-Gongzi, ich weiß, dass Ihr nicht der Typ seid, der sich aushalten lässt, und ich würde es nie wagen, auf Euch herabzusehen. Der Junior-Präzeptor ist heute nicht da, also gehe ich das Risiko ein und sage Euch die Wahrheit: Wisst Ihr, wie die Leute in Chang'an Euch ansehen?"

Shen Qiao lächelte, sagte aber nichts.

Yuwen Qing dachte, das bedeute, dass er es nicht wisse, und sagte ihm deshalb taktvoll: „Sie nennen Euch einen Drachen, der in den Untiefen gefangen ist und gezwungen ist, von Sektenanführer Yan abhängig zu sein. Sie glauben, dass Ihr, … ähm um Euch zu schützen, Eure Moral und Integrität über Bord werft. Aber ich bin mit Euch gereist und Ihr habt mir das Leben gerettet, also weiß ich natürlich, dass die Wahrheit nichts dergleichen ist. Aber wie heißt es doch so schön: ‘Gerüchte können sogar Metall verbiegen!‘ Wenn Ihr könnt, solltet Ihr Euch von Junior-Präzeptor Yan fernhalten. Warum solltet Ihr Euch von anderen grundlos verleumden und demütigen lassen? Selbst ich werde wütend, wenn ich höre, was sie sagen!"

Shen Qiao wusste, dass Yuwen Qing ihm dies wegen der Szene sagte, die er neulich in der Kutsche gesehen hatte, aber er konnte es nicht kurz und bündig erklären. Er konnte nur sagen: „Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Freundlichkeit, aber Ihr irrt Euch. Ich habe nicht diese Art von Beziehung zu Sektenanführer Yan, aber weil er ein wenig ... unberechenbar ist, übertreffen seine Handlungen oft alle Erwartungen."

„Ich weiß, ich weiß!", sagte Yuwen Qing. „Natürlich seid Ihr kein Lustknabe, der von Sektenanführer Yan abhängig ist. Ich habe auch keine Vorurteile gegenüber Homosexuellen, aber in Anbetracht Eurer jetzigen Situation, wenn Ihr und Junior-Präzeptor Yan, ähm, ineinander verliebt seid, fürchte ich, dass die Gerüchte und Verleumdungen, denen Ihr ausgesetzt seid, nur Euch schaden werden, nicht Junior-Präzeptor Yan!"

Shen Qiao war ratlos. „Wir sind nicht ineinander verliebt, und ich bin auch nicht homosexuell.

„Ich weiß, ich weiß!", sagte Yuwen Qing. „Das ist nichts, was man laut aussprechen kann. Wir haben ein stilles Einverständnis, also ist es in Ordnung!"

Shen Qiao verlor den Willen zu sprechen. Was auch immer Yuwen Qing daraufhin sagte, er ließ es zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus fließen.

Auf der Fähre herrschte mit dem Geschrei und Gerede ein hektisches Treiben. Eine Vielzahl von Waren lag verstreut herum, und es gab eine ganze Reihe von Leuten wie Yuwen Qing, die zu Fuß gekommen waren, um zu stöbern und einzukaufen. Andere waren in Kutschen oder auf Pferden unterwegs, und wieder andere riefen vom Flussufer oder von anlegenden Schiffen aus ihren Familien Lebewohl zu. Plötzlich standen alle Schulter an Schulter, denn Kutschen und Pferde strömten wie der Fluss selbst und drohten sich gegenseitig zu zertrampeln.

Dann stürmte ein Pferd von hinten auf sie zu – vielleicht hatte es sich erschreckt oder sein Besitzer hatte es schlecht gelenkt. Um auszuweichen, musste sich die Gruppe in verschiedene Richtungen zerstreuen, und Shen Qiao wurde von den anderen getrennt. Er war jedoch nicht beunruhigt, da Yuwen Qing mehrere Männer um sich hatte, die ihn beschützten. Langsam ging er zurück zum Markt und folgte den Ständen am Flussufer. Ab und zu hörte er, wie die Händler Dinge anpriesen, die ihn interessierten, und er blieb stehen, um ihre Waren zu inspizieren. Obwohl die Krämer seine Sehschwäche bemerkten, waren seine Kleidung und sein Auftreten ganz anders als die eines Bettlers, weshalb sie es nicht wagten, ihn mit Verachtung zu strafen. Stattdessen priesen sie ihm begeistert ihre Waren an.

„Herr, bitte sehen Sie sich an, was ich habe. Sie sind alle aus den feinsten Bambusstreifen geflochten. Körbe, Stühle, ich habe alles! Und hier sind ein paar kleiner Krimskrams – die können Sie Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn zum Spielen mit nach Hause bringen!" Als er Shen Qiao hocken sah, nahm er einen Bambusball und drückte ihn ihm in die Hand. „Hier fühlen Sie mal. Er ist sehr glatt, ohne jegliche Splitter!"

„Er ist in der Tat sehr glatt." Shen Qiao streichelte sie und lächelte. „Dann nehme ich einen."

Von nebenan ertönte die süße Stimme eines Kindes. „Onkel, Onkel, mein Bruder hat mein kleines Bambusküken kaputtgemacht, also hat Vater gesagt, ich soll kommen und ein neues Kaufen!"

Der Krämer musste die Eltern des Mädchens kennen. „War dein kleiner Bruder wieder einmal ungezogen? Aber ich habe keine Bambusküken mehr. Das, dass du vorhin gekauft hast, war das Letzte. Es dauert lange, eines zu weben, und der Onkel ist gerade beschäftigt, also werde ich in ein paar Tagen eines für dich weben!"

„Dann werde ich dem Onkel hier helfen", sagte das kleine Mädchen. „So kann er schneller mit dem Verkauf fertig werden. Könntest du mir dann früher ein Küken weben?"

Der Krämer brach in Gelächter aus. „Womit kannst du mir helfen? Geh schnell nach Hause, sonst machen sich deine Eltern Sorgen, wenn sie dich nicht finden können!"

„Oh." Vor lauter Enttäuschung schien das kleine Mädchen den Tränen nahe zu sein.

Abrupt sagte Shen Qiao: „Haben Sie noch Bambusstreifen?"

Der Krämer war verblüfft. „Ja, habe ich. Möchte dieser Herr Bambusstreifen kaufen?"

„Hm. Ich möchte etwas mit Ihren Bambusstreifen machen und dann bezahlen, was ich Ihnen schulde. Darf ich?"

Der Krämer lachte. „Dieser Herr ist zu bescheiden! Natürlich dürfen Sie!"

Er hob eine Handvoll Bambusstreifen auf und gab sie Shen Qiao. „Aber können Sie wirklich etwas weben, mit Ihren Augen?"

Auch Shen Qiao lachte. „Als ich klein war, habe ich welche für meine jüngere Schwester und meine Brüder gewebt, damit sie sich nicht langweilten. Ich erinnere mich noch ein wenig daran."

Er sagte ‘ein wenig‘, aber seine Hände bewegten sich flink. Mit flinken Fingern knüpfte er einen Knoten in den Bambus, wickelte das eine Ende um das andere und steckte es dann in einen Schlitz, den er bereits geflochten hatte. Im Handumdrehen war ein kleines Küken zum Leben erwacht.

Das kleine Mädchen war überrascht und überglücklich. „Ein Küken, ein Küken!"

Shen Qiao reichte es ihr. „Ich weiß nicht, wie dein letztes ausgesehen hat", sagte er mit einem Lächeln, „also habe ich einfach eines nach dem Zufallsprinzip gewebt. Es ist vielleicht nicht so schön."

„Es ist hübsch! Sehr hübsch! Danke, großer Bruder! Du bist der Beste!"

Der Krämer an der Seite sagte etwas säuerlich: „Ich bin nicht viel älter als dieser Herr, aber du nennst ihn Großer Bruder, während du mich Onkel nennst!"

Shen Qiao lachte laut auf.

Das kleine Mädchen rannte los, hüpfte und tänzelte. Shen Qiaos Beine waren vom vielen Hocken etwas taub, also stand er auf und bezahlte dem Hausierer die Bambusstreifen und den Ball. Der Krämer lehnte sein Geld ab, aber Shen Qiao bestand darauf und drückte dem anderen Mann die Münzen in die Hand. „Darf ich fragen, in welcher Richtung der Gästekomplex für ausländische Gesandte liegt?"

„Sind Sie ein ausländischer Gesandter, der nach Chen gekommen ist?" Dem Krämer dämmerte es allmählich, und er fuhr fort: „Der Komplex ist nicht weit von hier, aber bei all den Menschenmassen werden Sie ihn mit Ihren Augen nicht finden können. Ich bringe Sie dorthin!"

Shen Qiao war dankbar, fragte aber: „Was ist mit Ihrem Stand ...?"

Der Krämer lachte. „Kein Grund zur Sorge! Ich komme jeden Tag hierher, um Bambuswaren zu verkaufen, und die sind nichts Wertvolles. Außerdem kennen sich die Besitzer der Stände hier alle – ich werde sie einfach bitten, ein Auge auf alles zu haben. Wie könnte ich zulassen, dass ein Gast von weit her wie Ihr sich verirrt!"

Er führte Shen Qiao entlang der Fährenüberfahrt zurück. „Auf den Hauptstraßen wimmelt es nur so von Menschen, da kann man sich leicht verirren. Auf den Gassen geht es hier schneller!"

Der Krämer kicherte und stützte Shen Qiaos Arm, um ihn zu führen. „Wenn dieser Herr noch ein paar Tage hierbleibt, sollte er noch ein paar Spaziergänge durch die Stadt machen. Das meiste Essen im Süden ist ganz wunderbar und mit viel Sorgfalt zubereitet. Wenn Sie sie erst einmal gegessen haben, werden Sie sicher ..."

Etwas pfiff durch die Luft, so klein, dass es leicht zu übersehen war. Der Krämer hatte es nicht bemerkt und redete weiter, aber Shen Qiaos Gesichtsausdruck veränderte sich minutiös. Mit einem Schwung seines Stocks schlug er die winzige Nadel aus der Bahn und gegen eine Wand.

Gleichzeitig verstummte die Stimme des Krämers abrupt und er fiel schlaff zu Boden.

Die Person, die Shen Qiao überfallen hatte, hatte auch den Krämer angegriffen. Shen Qiao konnte nicht überall gleichzeitig sein – er hatte die Nadel, die auf ihn zukam, abgewehrt, hatte aber keine Zeit, das Gleiche für den Krämer zu tun. Er hatte ein wenig zu spät gehandelt.

„Und welcher Freund ist das? Warum müsst Ihr Euch so verstecken?" Er bückte sich, um den Zustand des Krämers zu überprüfen, und war etwas erleichtert, als er sah, dass der Mann nur bewusstlos war.

„Shen-Lang ist so sanft und freundlich, selbst zu einem Bambusverkäufer, warum ist er dann so gemein zu mir?"

Ein süßer Duft wehte zu ihm herüber, zusammen mit einer Stimme, die so honigsüß war, dass sie tropfte.

Ein kleines Stirnrunzeln legte sich auf Shen Qiaos Züge. „Bai Rong?"

Sie saß fröhlich auf einer Mauer, die Beine an den Knöcheln gekreuzt, während sie sie hin und her schwang. In ihrer Hand hielt sie eine Pfingstrose, die sie irgendwo gepflückt haben musste.

„Es ist eine Weile her!", sagte sie.

„Sind wir uns nicht erst begegnet, als Ihr mitten in der Nacht versucht habt, Yuwen Qing zu ermorden?"

„Kennst du nicht das Sprichwort 'Ein Tag Abstand fühlt sich an wie drei Herbste'?", sagte Bai Rong. „Es sind schon so viele Herbsttage vergangen!"

Egal, ob es sich um Yan Wushi oder Bai Rong handelte, Shen Qiao konnte sich niemals an eine solch grenzwertig-flirtende Redeweise gewöhnen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu schweigen.

Bai Rong verdrehte die Augen und warf ihm dann die Blume zu, die sie in der Hand hielt. „Hier, fang!"

Shen Qiao fing sie reflexartig auf. Er hatte sie für eine getarnte Waffe gehalten, aber eine Berührung sagte ihm, dass es eine Blume war. Die Erkenntnis erschreckte ihn.

Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, wurde Bai Rong noch vergnügter. „Du dachtest, ich hätte eine versteckte Waffe nach dir geworfen? Hältst du mich wirklich für so hinterhältig?"

Shen Qiao schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht."

„Was ist es nicht?", fragte Bai Rong.

„Als Ihr versucht habt, Yuwen Qing zu töten, hatten seine Konkubine und ihre Zofe keine Chance zu entkommen, aber Ihr habt sie nicht getötet. Das beweist, dass Ihr keine wahllose Mörderin seid, die keine Moral kennt. In ihrem Namen sollte ich Euch für Eure Barmherzigkeit danken."

Bai Rong blinzelte. „Woher weißt du, dass ich ihnen Gnade gezeigt habe? Vielleicht war ich einfach zu faul, mehr zu tun."

Shen Qiao lächelte, widersprach ihr aber nicht.

Bai Rong seufzte. „Du bist so hübsch, wenn du lächelst! Du solltest wirklich mehr lächeln. Es macht mich sehr glücklich, dass du so gut von mir denkst – darf ich dich küssen?"

Gleich nachdem sie gesprochen hatte, bewegte sie sich.

Shen Qiao dachte, sie wolle ihn wirklich küssen. Reflexartig wich er drei Schritte zurück, nur um festzustellen, dass sie immer noch auf der Mauer saß. Sie hatte ihn nur geneckt.

Bai Rong lachte so heftig, dass sie fast von der Wand stürzte. „Shen-Lang, warum bist du so süß? Du gefällst mir einfach immer mehr!"

„Es muss doch einen Grund geben, warum Ihr zu mir gekommen seid, nicht wahr?", fragte Shen Qiao.

„Was, kann ich dich nicht ohne einen Grund aufsuchen?", sagte Bai Rong und lächelte. „In Ordnung, es gibt keinen Grund, es dir nicht zu sagen. Ich bin dir aus der Ferne gefolgt, in der Hoffnung, eine Gelegenheit zu finden, dich zu vergiften, zu betäuben und zu verschleppen. Leider bist du viel zu wachsam, weswegen ich es bis jetzt noch nicht versuchen konnte. Ich habe so viele Schwierigkeiten auf mich genommen, nur um mit dir zu sprechen."

In ihren Worten mischten sich Wahrheiten und Lügen, halb aufrichtig und halb hinterhältig. Shen Qiao wusste nicht, ob er ihr glauben sollte oder nicht. Er schwieg und hielt seine Wachsamkeit aufrecht.

„Das Küken, dass du für das kleine Mädchen gewebt hast, war so schön", fügte Bai Rong hinzu. „Kannst du auch eins für mich machen?"

Shen Qiao war verblüfft und schüttelte dann den Kopf. „Ich habe keine Bambusstreifen dabei."

Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, warf er ihr den Bambusball in die Hand. „Hier, Ihr könnt stattdessen mit diesem Ball spielen."

Ein Kichern brach aus Bai Rong heraus. „Willst du mich überreden wie ein Kind?"

Obwohl sie sich dagegen gewehrt hatte, ergriff sie schnell den Ball und begann ihn in ihrer Handfläche auf und ab zu werfen.

„Hat die kleine Bai-Niangzi jemals daran gedacht, die Hehuan Sekte zu verlassen?", fragte Shen Qiao.

„Warum fragst du mich das ...", sagte Bai Rong neugierig.

Nach der Hälfte ihres Satzes wurde ihr Gesichtsausdruck ganz ernst, aber ihr Tonfall blieb leichtfertig. „Sektenanführer Shen muss etwas von Sektenanführer Yan gehört haben, und nun hält er unsere Hehuan Sekte für schmutzig und verdorben. Haben wir es etwa nicht verdient, mit dir, dem erhabenen Sektenanführer des Xuandu Berges, zu sprechen?"

Als sie geendet hatte, sprudelte es nur so aus ihr heraus, als würde sie angreifen, wenn sie Shen Qiaos Antwort nicht akzeptabel fände.

„Nein", sagte Shen Qiao.

Bai Rongs Gesichtsausdruck änderte sich schneller als das Umblättern einer Seite. Im Nu trug sie wieder ein Lächeln, so schön wie eine Blume. „Oder wolltest du die Hehuan Sekte als bedauernswert bezeichnen? Willst du sagen, dass unsere Männer und Frauen ohne Rücksicht auf Rang und Alter kultivieren? Und du sagst mir, ich solle die Seiten wechseln und mich korrigieren?"

Shen Qiao runzelte die Stirn. „Ich habe nur das Gefühl, dass es Euch dort nicht gefallen könnte."

„Die Hehuan Sekte ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Wenn ich nicht dortbleibe, wohin kann ich dann gehen? In die Huanyue Sekte? Oder zur Fajing Sekte? Ist Mord in deinen Augen besser als duale Kultivierung? Jeder nennt die Hehuan Sekte eine dämonische Sekte, aber ist die Huanyue Sekte nicht auch eine? Vergiss nicht, dass Yan Wushi viel mehr Blut an seinen Händen hat als ich! Und wenn du von diesen angesehenen, rechtschaffenen Sekten sprichst, die von sich behaupten, so tugendhaft zu sein – wenn du immer noch der Anführer des Xuandu Berges wärst, wärst du dann bereit, mich zu akzeptieren? Und selbst wenn es so wäre, was ist mit allen anderen auf dem Xuandu Berg?"

Shen Qiao war ein wenig verblüfft über ihre lange Reihe von Fragen. „Ja, Ihr habt recht", sagte er seufzend. „Ich habe mich falsch ausgedrückt."

Er hatte sich nicht so viele Gedanken über seine Frage gemacht. Er spürte nur, dass Bai Rong anders war als jemand wie Huo Xijing und dass es schade, war, dass sie in der Hehuan Sekte blieb.

Der Tonfall von Bai Rong war honigsüß. „Ich weiß, dass Shen-Lang denkt, ich hätte in der Hehuan Sekte gelitten. Von dem Moment an, als du bereit warst, sogar einem Pferd zu helfen, habe ich erkannt, dass du ein sanfter, gutherziger Mensch bist. Gute Menschen wie dich gibt es nur selten! Diese hier wird deine Gefühle zu schätzen wissen, aber sie hat ihre eigenen Pläne, du brauchst dich also nicht um sie zu kümmern!

„Ich werde dir noch ein Geheimnis verraten." Plötzlich sprang sie von der Wand und schwebte zu Shen Qiao, um an seinem Ärmel zu zerren. Obwohl Shen Qiao schnell auswich, tat das ihrer guten Laune keinen Abbruch – stattdessen schimmerte eine Spur von Gerissenheit durch. „Du wirst nichts Gutes ernten, wenn du bei Yan Wushi bleibst", sagte sie, „denn bald wird eine Katastrophe über ihn hereinbrechen. Um nicht zum Kollateralschaden zu werden, solltest du dich beeilen und etwas Abstand gewinnen ..."

Sie hatte ihren Satz noch nicht beendet, als sich ihr Gesichtsausdruck veränderte, aber das lag nicht an Shen Qiao. Sie starrte geradeaus, weit in die Ferne, und platzte dann heraus: „Die hier hat wichtige Dinge zu erledigen, also braucht Shen-Lang sie nicht zu verabschieden!" Dann war sie weg, spurlos verschwunden – sie muss ihr gesamtes Qinggong eingesetzt haben.

Im ersten Moment nahm Shen Qiao an, dass Yan Wushis Ankunft sie zu einem überstürzten Rückzug gezwungen hatte, aber im nächsten Moment wurde ihm klar, dass das falsch war.

Der Neuankömmling war nicht Yan Wushi.




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4 Kommentare:

  1. Immer diese cliffhanger wer kommt den da nun XD der Bai Rong vertrieben hat, Fragen über fragen. Aber geschickt mit den händen scheint er ja sehr zu sein wenn er nen hübsches Küken für das Kind gezaubert hat :3 stell mir das richtig süß vor. Aber auch süß wie er zurück schreckt als Bai Rong meinte sie will ihn Küssen XDDDD

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    1. Ja, die Cliffhanger sind echt fies. Die kommen aber nicht von mir, sondern von der Autorin.
      Geschcikte Hände hat er auf jeden Fall, trotz seiner schlechten Augen hat er ein gutaussehendes Bambusküken hingekriegt. Respekt. Wie so ein Bambusküken wohl aussieht?
      Seinen erstes Kuss hat er ja schon unfreiwillig an Yan Wushi verloren, ich glaube bei seinem nächsten Kuss, will entweder er sein der ihn ausführt oder in gewisserweise ein Mitsprache recht haben.
      P.S.: Bist neu dazugekommen? Ich habe dich auf diesem Blog nämlich noch nicht bemerkt. Schön, dass du da bis. :)

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  2. oh man da geht er spazieren wird von den anderen getrennt . dann bastelt er auch noch was hübsches für ein kind und schon haben wir wieder jemand der in haben möchte. also ich würde mich auch erschrecken wenn mir wer sagen würde das er mich küssen möchte. jetzt bi ich auch gespannt wer da kommt wenn yan nicht da ist. freu mich wenns weiter geht.

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    1. Ich will auch so ein Küken, gibt es das irgendwo als Merch von Thousand Autumns?
      Egal was Shen Qiao tut ,am Ende hat er trotz alledem irgendwann Schwierigkeiten am Hals.
      Die Bai Rong sowie Yan Wushis Flirterei wird er einfach nicht los, was? XD

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