Kapitel 34

Shen Qiaos Augen waren noch immer sanft geschlossen, sein Gesicht war ruhig wie ein stilles Gewässer. Für einen Beobachter scheint es, als würde sich der Bambusstock in seiner Hand völlig willkürlich bewegen und ohne nennenswertes Muster dorthin schlagen, wo er will.

Aber es war genau diese Unordnung in diesen Angriffen, die Duan Wenyang misstrauisch machte. Mit einem noch ernsteren Gesichtsausdruck als damals, als er Li Qingyu gegenüberstand, tauschte er in einem Augenblick hundert Schläge mit Shen Qiao aus. Sie kämpften vom Boden bis zu den Dächern, dann von den Dächern bis zu den Bäumen, Licht und Schatten tanzten über ihre Figuren, während sie mal verhalten und mal brutal umherflogen. Die Geschwindigkeit, mit der sie zuschlugen und parierten, war verblüffend – jeder, dem es auch nur ein bisschen an Kampfkunst mangelte, konnte ihre Bewegungen nicht erkennen.

Und bis jetzt zeigte Shen Qiao keine Anzeichen, dass er zurückbleiben würde.

Jetzt, da Duan Wenyang nun nicht mehr auf sie achten konnte, kamen die Diener der Familie Su eilig herbei und umringten Su Wei, um ihn zu schützen. Su Qiao wies sie an, seine Mutter und seinen Bruder zurück ins Haus zu bringen, während er selbst trotz der Schmerzen draußen stehen blieb.

Je mehr alle zusahen, desto erstaunter wurden sie, und derjenige der am meisten staunte, war niemand anderes als Duan Wenyang.

Dass Shen Qiao auf Duan Wenyangs und Li Qingyus Spott nicht reagierte, war für niemanden eine Überraschung. Denn Duan Wenyang war nicht der Einzige, der dachte, dass Shen Qiaos gegenwärtiger Zustand bedeutete, dass er bereits halb zerstört war. Ruhm konnte zwar wiederhergestellt werden, aber die Wiedererlangung seiner Kampfkünste würde sehr schwierig sein, und ohne sie hatte er keinen Platz in der Jianghu. Wenn er gezwungen war, sich zum Schutz auf andere zu verlassen, dann war er in den Augen von Duan Wenyang und den anderen nur noch Abfall. Jeder hatte das Recht, auf ihn herabzusehen.

Und doch war es dieser ‘Abschaum‘, der schaffte, was fast allen anderen bis dahin nicht gelungen war – er hatte Duan Wenyang nicht nur gestoppt, sondern sogar ein Unentschieden erkämpft.

In diesem Moment konnten viele der Zuschauer nicht umhin zu denken: Der Sektenanführer des Xuandu-Berges war schließlich der Sektenanführer des Xuandu- Berges. Der Titel ‘die taoistische Sekte Nummer eins der Welt‘ war zwar nur eine Fälschung, aber Shen Qiao war nicht ohne Grund zum Nachfolger von Qi Fengge gewählt worden.

Wenn er jedoch auf Augenhöhe mit Duan Wenyang war, wie hatte er dann das Duell gegen Kunye verloren und sich in eine solche Lage gebracht? Gab es da eine verborgene Geschichte?

Während chaotische Gedanken durch die Köpfe aller Beteiligten schwirrten, starrten sie unbeirrt auf das Duell vor ihnen, aus Angst, auch nur eine einzige Sekunde zu verpassen. Der Kampf war genauso großartig wie der Kampf mit Li Qingyu im Jahr zuvor.

Doch innerhalb des Kampfkreises lief es für Shen Qiao nicht so mühelos, wie die Zuschauer glaubten.

Duan Wenyang war in der Tat sehr stark, und seine Kampffähigkeiten waren definitiv besser als die von Kunye. Beides war unbestreitbar.

Es gab einige Gründe, warum Shen Qiao so lange durchgehalten hatte. Erstens hatte er immer noch die Hälfte seiner Kampfkraft als Grundlage. Zweitens war Duan Wenyang während seines Kampfes mit Li Qingyu verletzt worden. Und drittens ergänzten die Kampfkünste des Xunadu-Berges die Acht Trigramme, das Ziwei Doushu und sogar die Formen der Astrologie. Das Ergebnis war exquisit und unvorhersehbar. Weil er noch nie damit in Berührung gekommen war, verlor Duan Wenyang die Initiative und wurde mitgerissen.

Der Kampf war großartig anzusehen. Duan Wenyang vollführte mit seiner Peitsche einen Hieb nach dem anderen, die Peitschenhiebe waren so verheerend und unaufhaltsam wie Blitzschlag. Unnachgiebiges, herrschsüchtiges wahres Qi hämmerte mit jedem gebogenen Peitschenhieb auf Shen Qiao ein und drückte ihn nieder. Der Druck auf Shen Qiao wuchs und wuchs. Er war wie ein Stück zerbrechliches Porzellan: schön, aber kurz vor dem Zerbrechen und unfähig, einem weiteren Schlag standzuhalten.

Ein scharfer Knall ertönte. Der Bambusstock war in zwei Teile zerbrochen. Li Qingyi warf das Schwert, das er in der Hand hielt, sofort zu Shen Qiao. „Fangt!"

Shen Qiao nutzte nur seine Ohren, um die Richtung zu erkennen, und hielt es fest in der Hand, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Das Qi des Schwertes schwang nach unten und schnitt mit perfekter Präzision in die Wand von Duan Wenyangs Peitschen-Nachbildern.

Wie ein bergzerstörendes Erdbeben, oder die Stromschnellen von tausend Schluchten, die die Deiche verschlingen, schoss das Schwertqi hervor, völlig unaufhaltsam. Duan Wenyangs Gesichtsausdruck flackerte, als er gezwungen war, nachzugeben und sich zurückzuziehen. Die vielen Nachbilder der Peitsche verschwanden und wurden durch ein einziges weißes Licht ersetzt.

Das weiße Licht war kein Schwertqi, denn ihm fehlte sowohl die Herkunft als auch die Substanz. Es fühlte sich auch nicht wie echtes Qi an – es flatterte und floss, der Körper war so geschmeidig wie ein Stoffbändchen. Aber es eilte auch wie ein Schatten hinter Duan Wenyang her, als hätte es einen eigenen Willen. Es verfolgte ihn unerbittlich und war nicht bereit, auch nur eine Sekunde lang aufzugeben.

„Was ist das? Ist das auch wahres Qi?", fragte Zhan Ziqian erstaunt.

„Nein, es ist ein Schwert, das anders aussieht als das, das Li Qingyu vorhin benutzt hat."

„Li Qingyus Schwertabsicht war formlos, aber dieses hier hat eine Form."

„Das Formlose übertrifft das Geformte", sagte Zhan Ziqian. „Li Qingyu ist also eine Stufe über ihm?"

„Die Schwertabsicht ist von Natur aus formlos", sagte Xie Xiang. „Wie kann also das Formlose hier das Geformte übertreffen? Wenn er in der Lage ist, eine Schwertabsicht mit Form zu erschaffen, bedeutet das, dass er bereits die Essenz des Schwertes erfasst hat und nahe an der Stufe des Schwertherzens ist!"

Zhan Ziqian begann zu verstehen, und seine gute Meinung von Shen Qiao verwandelte sich in glühende Bewunderung.

Duan Wenyang wich in einem Zug Dutzende von Schritten zurück, aber das weiße Schwert verlor nicht den Hauch seiner Schärfe, obwohl es ihn sanft zu fassen bekam.

Die Schwertabsicht und der Sturz der Peitsche trafen aufeinander. Und obwohl die Peitsche aus der Haut von Südsee-Krokodilen bestand, die mit Dutzenden von Kräutern getränkt worden war, schnitt die Schwertabsicht einen Teil der Haut ab!

Duan Wenyangs Gesichtsausdruck veränderte sich. Von seiner Handfläche aus schickte er einen kräftigen Stoß in Richtung der Schwertabsicht. Wie Himmel und Wasser, die sich trafen, wo der Nebel um die Klippen wirbelte und die Wasserfälle wie Seidenbänder in den Fluss stürzten, versank das grenzenlose Weiß im Chaos, und alles wurde in Verwirrung gestürzt!

Eine riesige, tragische Welle rollte in alle Richtungen. Alle wichen erschrocken zurück, und erst nachdem sie viele Schritte gegangen waren, erkannten sie, dass es sich bei der Flut nicht um eine echte Welle handelte, sondern um den Rest eines Schwertes in Form einer Welle.

Die Menschen kehrten zu ihren Sinnen zurück, aber ein kühles Gefühl von Feuchtigkeit auf ihrer Haut zeugte von der Macht der Schwertabsicht.

Zhan Ziqian fand das faszinierend und konnte nicht widerstehen, sich über das Gesicht zu wischen. Natürlich konnte seine Hand nichts wegwischen, aber Xie Xiang sagte: „Das liegt daran, dass er noch keine voll ausgebildete Schwertabsicht hat. Wäre sie perfektioniert worden, gäbe es keine Garantie, dass wir Zuschauer unbeschadet davongekommen wären."

Zhan Ziqian bewunderte immer die Einsicht seines Shidi. Sofort fragte er: „Es scheint, dass seine innere Kultivierung und sein wahres Qi nicht vollständig mit seiner Schwertabsicht übereinstimmen. Woran liegt das?"

Xie Xiang gab einen zustimmenden Laut von sich, seinen Blick immer noch auf den Kampf gerichtet. „Wahrscheinlich leidet er an einer alten Verletzung, weshalb seine innere Kultivierung stark vermindert ist. Selbst wenn er die Schwertabsicht erreicht hat, kann er sie nicht in vollem Umfang ausüben. Ich fürchte, er wird nicht mehr lange durchhalten."

Zhan Ziqian blickte schnell wieder zu Shen Qiao. Er hatte eine gute Meinung von Shen Qiao, deshalb wollte er nicht, dass er verlor. Aber in den sich überlagernden Nachbildern von Schwertabsicht und Peitsche war es sehr schwer, zu erkennen, wie sich die Kämpfer hielten.

Duan Wenyang wurde langsam müde. Er hatte einen Teil seiner Peitsche verloren und war bei seinem früheren Kampf mit Li Qingyu verletzt worden. Er bereute schon lange, dass er Shen Qiao unterschätzt hatte. Auch wenn er ein wenig zu wenig Kraft hatte. Egal wie hervorragend Duan Wenyangs innere Kultivierung war, er konnte sein Qi nicht ununterbrochen verbrauchen. Als er sah, dass Shen Qiaos Schwertabsicht umso heller aufflammte und einen weiteren mächtigen Angriff ankündigte, verlor er sofort die Lust, weiterzukämpfen. Er zog sich zurück und entfernte sich, während er lachte: „Sektenanführer Shens Ruf ist wohlverdient! Ich fürchte, ich habe heute keine Zeit – ich werde mich ein anderes Mal beraten lassen. Lebt wohl!"

Niemand konnte ihn daran hindern, zu gehen. Obwohl er aus dem Khaganat stammte, war sein Qinggong außergewöhnlich, und seine Bewegungen waren ungewohnt und perplex. Keiner der Anwesenden konnte die Quelle dieser Technik identifizieren.

Shen Qiao verfolgte ihn nicht.

Er war der Einzige, der sowohl gegen Kunye als auch gegen Duan Wenyang gekämpft hatte.

Kunye war in der Tat ein geschickter Kämpfer, aber hätte er ihr Duell auf dem Banbu- Gipfel verloren, wenn Shen Qiao nicht auf die Vergiftungsmethode hereingefallen wäre?

Aber Duan Wenyang war anders. Shen Qiao mochte zwar den größten Teil seiner Kampfkünste verloren haben, aber sein Verstand war immer noch intakt, und er war erstaunt darüber, was für ein furchterregender Gegner Duan Wenyang war. Obwohl er in der Lage war, die Tiefen von Duan Wenyangs Fähigkeiten zu ergründen. Hatte Shen Qiao geschwächelt wie ein Pfeil, der sich dem Ende seines Fluges nähert, und wenn sie weitergekämpft hätten, hätte er sicher verloren. Doch genau in diesem Moment hatte Duan Wenyang beschlossen, sich zurückzuziehen.

Während er an Ort und Stelle stand und nach Luft schnappte, wurde Shen Qiao klar, dass die Manifestation seiner Schwertabsicht ihn mehr als die Hälfte seines wahren Qi gekostet hatte. Sein Körper war furchtbar schwach, und es war mühsam, normal zu gehen. Er konnte nicht anders, als bitterlich zu lächeln.

Li Qingyu ging auf ihn zu. „Sektenanführer Shen."

Shen Qiao nutzte die Gelegenheit, um ihm Qingshui zurückzugeben. „Danke, Li-Gongzi, dass Ihr mir Euer Schwert geliehen habt. Es ist eine exzellente Klinge, aber leider hat dieser Shen sie durch seine Unzulänglichkeit entehrt."

Li Qingyu nahm das angebotene Schwert an. „Ich habe mich vorhin falsch ausgedrückt – nehmt es Euch nicht zu Herzen."

Demütig zu sprechen war offensichtlich etwas Seltenes für ihn. Selbst seine Entschuldigung kam ein wenig kalt und steif daher.

Shen Qiao lächelte. „Ihr seid zu höflich, Li-Gongzi. Hättet Ihr mir nicht vorhin Euer Schwert überlassen, ich fürchte, ich würde jetzt tot auf dem Hof liegen."

Als seine Augen die Fähigkeit erlangten, die Welt um ihn herum vage wahrzunehmen, hatte er die Angewohnheit entwickelt, die Menschen und Gegenstände anzustarren. Und so waren seine Augen zwar immer noch so geistlos wie früher, aber unter der Sonne schienen sie einen strahlenden Glanz zu bekommen. Diejenigen, die ihn so sahen, konnten nicht anders, als ihn zu bemitleiden.

Li Qingyu starrte ihn einen Moment lang an. „Wenn Ihr nirgendwo hingehen könnt", sagte er plötzlich, „kann das Chunyang-Kloster Euch einen Platz zum Leben bieten. Ihr müsst Euch nicht herablassen, von anderen abhängig zu sein, und schon gar nicht von Leuten, die Ihr nicht mögt."

Su Qiao war erstaunt, von diesem Angebot zu hören. Jeder im Chunyang-Kloster wusste von der kalten und steifen Art seines Shidi und dass er sich nur für Kampfkünste interessierte. Vielleicht empfand er ein wenig Wärme gegenüber seinem Meister und seinen Mitschülern, aber das war auch schon alles. Su Qiao selbst hatte noch nie gehört, dass Li Qingyu seine Worte für jemanden erweichen würde, geschweige denn, dass er jemanden einlud, im Chunyang-Kloster zu bleiben. Und doch behandelte er einen völlig Fremden wie Shen Qiao mit solcher Wertschätzung.

Auch Shen Qiao schien überrascht zu sein. Er erstarrte einen Moment und lächelte dann als Antwort. „Danke für Ihre Freundlichkeit, Li-Gongzi."

Er hatte sich bedankt, aber nicht angegeben, ob es notwendig war – das bedeutete das er das Angebot nicht annahm.

Sie waren nur zwei Fremde, die sich zufällig getroffen hatten. Sie hatten eine Art Beziehung zueinander. Shen Qiao wollte nicht, dass seine Angelegenheiten Chunyang-Kloster Schwierigkeiten bereiteten.

Li Qingyi nickte und sagte nichts mehr. Er nahm sein Schwert und ging.

Obwohl es niemand laut gesagt hatte, sahen sie in ihren Herzen auf diesen unterdrückten ehemaligen Sektenanführer herab. Aber jetzt, nachdem Duell zwischen Shen Qiao und Duan Wenyang, waren solche Gedanken wie weggeblasen.

Ja, Shen Qiao hatte den Vorteil, in der zweiten Runde zu kämpfen. Aber wer sonst hätte Duan Wenyang aufhalten können, wenn er nicht eingegriffen hätte?

Und wer könnte behaupten, dass er Duan Wenyang zum Rückzug zwingen konnte?

Frau Qin kam herüber, unterstützt von ihrer Zofe. Sie verbeugte sich tief vor Shen Qiao, ebenso wie Su Wei und Su Qiao. „Danke, Sektenanführer Shen", sagte sie, „dass Sie meinen Sohn noch rechtzeitig gerettet haben. Bitte nehmen Sie die Ehrerbietung dieser alten Frau entgegen!"

Shen Qiao beeilte sich, sie aufzuhalten. „Die Frau muss nicht so höflich sein. Duan Wenyang kehrte zurück und wollte den Herzog des Bezirks Meiyang als Geisel nehmen - das war höchst unehrenhaft von ihm. Als Gast in Eurer Residenz ist es natürlich meine Pflicht, Euch zu unterstützen!"

„Wie dem auch sei, von heute an seid Ihr der große Wohltäter der Familie Su", sagte Frau Qin. „Unsere Türen werden Ihnen immer offen stehen – wenn Shen-Xiansheng einen Wunsch hat, wird unsere Familie Su ihr Bestes tun, um ihn zu erfüllen."

Die Familie Su konnte zwar nicht viel tun, doch Frau Qins aufrichtige Dankbarkeit spiegelte sich deutlich in ihrem inbrünstigen Versprechen wider.

Das Geburtstagsbankett hatte durch Duan Wenyangs Einmischung ein Ende gefunden. Alle waren mit guter Laune gekommen und verließen es nun mit schlechter Laune. Puliuru Jian verließ das Anwesen mit Shen Qiao und lud ihn ein, sein Haus zu einem späteren Zeitpunkt zu besuchen. Dann verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg.

Shen Qiao wollte gerade in die Kutsche steigen, doch Zhan Ziqian rief ihm nach: „Bitte wartet, Shen-Langjun!" Er verbeugte sich mit gefalteten Händen und fragte dann: „Ich wollte schon früher mit Ihnen sprechen, aber ich hatte keine Gelegenheit dazu. Bitte gewähren Sie mir eine Bitte!"

„Was ist los, ist es etwas Ernstes?", fragte Shen Qiao neugierig.

Zhan Ziqian lächelte. „Ich möchte Euch fragen, ob ich Euch malen darf."

„Mich malen?", fragte Shen Qiao.

„Genau", sagte Zhan Ziqian. „Ich habe schon immer gerne gemalt, und meine Lieblingsmotive sind Götter und Unsterbliche. Aber obwohl es in dieser Welt alle möglichen Menschen gibt, wo würde man einen echten Gott oder einen Unsterblichen finden? Doch dann sah ich Shen-Langjun – von allen seid Ihr dem Ideal meines Herzens am nächsten. Deshalb wollte ich Euch fragen, ob Ihr mein Modell sein wollt."

Shen Qiao hatte schon viele seltsame Bitten gehört, aber dies war das erste Mal, dass ihn jemand bat, ihn zu malen. Einen Moment lang wusste er nicht, wie er reagieren oder antworten sollte.

Bevor Zhan Ziqian ihn weiter überreden konnte, kam Xie Xiang herbei. „Bitte seid nicht beleidigt, Shen-Langjun. Mein Shixiong ist besessen von der Malerei, das ist ganz normal!"

Er faltete die Hände zusammen, griff nach Zhan Ziqians Arm und machte sich auf den Weg.

Zhan Ziqian schrie ein paar Mal auf, aber er konnte Xie Xiang nicht überwältigen. Er konnte nur noch Shen Qiao zurufen: „Shen-Langjun, bitte verlasst die Hauptstadt nicht überstürzt! Dieser Zhan wird bestimmt einen Tag finden, an dem er Euch besuchen kommt!"

Shen Qiao schüttelte den Kopf und brach in Gelächter aus, drehte sich um und stieg in die Kutsche. Er holte ein Taschentuch hervor und hustete einen Schluck Blut hinein, wobei sich seine Miene schnell vor Müdigkeit verfinsterte.

Die Verletzungen, die seine Schwertabsicht Duan Wenyang zugefügt hatte, würden wahrscheinlich einen halben Monat brauchen, um zu heilen, aber auch er war nicht ungeschoren davongekommen. Seine Vitalität und sein Qi waren geschädigt – er hatte sich nur gezwungen, ungerührt zu wirken.

Xie Xiang muss das gemerkt haben und hat Zhan Ziqian davon abgehalten, ihn noch länger festzuhalten.

Yan Wushi liebte den Luxus, und seine Untergebenen gingen stets auf seinen Geschmack ein, weshalb der Innenraum der Kutsche komfortabel und üppig dekoriert war. Shen Qiao forderte den Kutscher auf, zur Residenz des Junior-Präzeptors zurückzukehren. Dann brauchte er seinen Zustand nicht mehr zu verbergen und lehnte sich gegen die Kutschenwand. Sein Gesichtsausdruck war von Erschöpfung geprägt, seine Augenbrauen waren leicht gerunzelt. Unbewusst driftete er ab.

Seine Müdigkeit war so groß, dass er in einen tiefen Schlaf fiel, der ihn für die Welt völlig taub machte. Als er erwachte, stellte er fest, dass die Räder der Kutsche unter ihm noch immer klapperten, und sein Herz sank ein wenig.

„Lao Wei, Seid Ihr das?"

Niemand antwortete, aber die Kutsche wurde langsamer, bevor sie ganz zum Stillstand kam.

Der Kutscher blickte zurück. Obwohl die Kleidung immer noch die von Lao-Wei war, war das Gesicht nicht mehr das gleiche: Es war schön und hübsch, die Wangen hatten Grübchen, auch wenn kein Lächeln sie zierte.

Obwohl er den Fahrer nicht gut sehen konnte, wusste Shen Qiao in dem Moment, in dem er sprachen, wer es war.

„Ich kann nicht die Einzige, die so denkt, aber die Sicherheit in der Residenz Su ist viel zu lasch. Ich habe einfach Lao Weis Kleidung angezogen, einen Hut aufgesetzt, und solange ich seine Stimme ein wenig nachgeahmt habe, haben sie keinen Verdacht geschöpft. Es war nicht einmal nötig, mein Gesicht zu verändern. Jeder hätte an einem solchen Ort ein und aus gehen können. Du hast ihnen geholfen, Duan Wenyang zu vertreiben, aber ein zweites Mal wirst du es nicht schaffen."

„Wo ist Lao Wei?", fragte Shen Qiao.

Bai Rong schmollte. „Warum kümmert sich Sektenanführer Shen nur um einen kleinen Mann, wenn diese große Schönheit direkt vor dir steht? Wo ist deine Sorge um mich? Tot, tot! Natürlich habe ich ihn getötet!"

Shen Qiao lächelte. „Ich habe mich falsch ausgedrückt – diese Frage war unnötig. Bei Eurer Klugheit würdet Ihr es nicht wagen, Yan Wushi wegen eines einfachen Kutschers zu provozieren."

Bai Rong kicherte. „Was ist schon ein Kutscher, wenn ich jemanden wie dich entführen kann? Hast du etwa Angst, dass ich dir nicht die Wahrheit sagen werde? Gut, gut, es hat keine Bedeutung, es dir zu sagen. Ich habe nämlich kein Interesse daran, so einen Niemand zu töten. Ich habe ihn niedergeschlagen und ließ ihn im Stall der Familie Su zurück. Ob er lebt oder stirbt, ist seine Sache  — es ist nicht mein Problem, wenn er zertrampelt wird! Aber trotzdem behandelt dich Yan Wushi nicht gerade gut. Er weiß von deiner schwachen Gesundheit, davon, dass du im Handumdrehen Blut hustest und ohnmächtig wirst. Und trotzdem hat er nur einen Kutscher mit dir geschickt? Hat er das kommen sehen?"

Shen Qiao schüttelte den Kopf. „Meine Beziehung zu Yan Wushi ist nicht das, was Ihr denkt. Ihr solltet nicht weiter versuchen, mich zu provozieren. Also, warum hat mich die kleine Bai-Nangzi den ganzen Weg hierher gebracht?"

Plötzlich drückte sich Bai Rong an ihn, bis ihr warmer, duftender Atem nur noch Zentimeter von ihm entfernt war. Mit einem leichten Stirnrunzeln lehnte sich Shen Qiao unwillkürlich zurück, aber sie streckte die Hand nach ihm aus. Da sein Bambusstock in der Su-Residenz kaputt gegangen war, musste er sie mit bloßen Händen abwehren. Innerhalb eines Augenblicks hatten sie sich Dutzende von Schlägen ausgetauscht.

Bai Rong schlug mit unglaublicher Geschwindigkeit zu, ihre Hände bewegten sich durch unzählige Gesten wie eine Blume, die zum Leben erwachte – eine Knospe, die in voller Blüte steht, bevor sie verwelkt, und das alles in einem einzigen Atemzug. Ruhm und Niedergang, ein ganzes Leben in einem Augenblick.

Doch ihre unvergleichlich exquisiten ‘Blauen Lotussiegel‘ wurden alle von Shen Qiao blockiert, als hätte er jede ihrer Bewegungen vorausgesehen. Jedes Mal war er nur ein wenig schneller als Bai Rong, nie zu früh oder zu spät.

Bai Rong hatte Shen Qiaos Kampf mit Duan Wenyang nicht miterlebt. Ihr Eindruck von ihm war auf den schwachen, kränklichen Zustand eingefroren, in dem er sich in der Provinz Huai befunden hatte. Als sie sah, wie er jedes Einzelne der ‘Blauen Lotussiegel‘, auf die sie so stolz war, abblockte, war sie wie vom Donner gerührt.

„Als ich hörte, dass du meinen Shixiong getötet hast, konnte ich es nicht fassen", sagte sie. „Aber jetzt scheint es wahr zu sein. Hast du deine Kampfkünste wiedererlangt?"

Als sie die Frage beendete, wich Bai Rong einem Schlag von Shen Qiaos Handfläche aus, umkreiste ihn so, dass sie hinter ihm stand und schlug, dann auf seinen Akupunkturpunkt. Dann schlang sie ohne Vorwarnung ihre Arme von hinten um ihn und beugte sich vor, um in sein Gesicht zu schauen. „Mit so einem guten Aussehen geboren zu werden, obwohl man ein taoistischer Priester ist! Du wirst uns dämonische Praktizierende aus dem Geschäft vertreiben!" Mit diesen Worten nahm sie sich die Freiheit, Shen Qiao auf die Nasenspitze zu küssen.

Die Dinge entwickelten sich zu schnell. Da Shen Qiaos Lebenskraft so stark geschädigt war, war es für ihn schon schwer gewesen, ihre Schläge zu ertragen. Er hatte diese Taktik von ihr nicht erwartet und war völlig verwirrt, sein Gesicht war von Erstaunen überwältigt.

Bai Rong kicherte. „Das wollte ich schon tun, als ich dich das erste Mal sah! Heute habe ich mir endlich meinen Wunsch erfüllt!"

Sein Akupunkturpunkt war versiegelt, sodass er sich nicht bewegen konnte. Shen Qiao gab jeden sinnlosen Kampf auf. „Was wollt Ihr?", fragte er.

„Du hast Huo Xijing getötet und fragst mich trotzdem, was ich will?", sagte Bao Rong. „Dieser Huo Xijing, er hat Shizun immer angehimmelt, und sein Shizun mochte ihn wirklich. Jetzt, wo er tot ist, ist Shizun sehr traurig, und er hat mir aufgetragen, dich zu ihm zubringen, damit er mit dich bestrafen kann!"

Je länger sie ihn ansah, desto mehr fand sie Shen Qiao attraktiv. Ob Mann oder Frau, jeder in der Hehuan-Sekte war schön, aber ihre Kultivierung von Charme-Techniken zusammen mit ihrem Mangel an Skrupeln bedeutete, dass ihre Schönheit niemals diesen Eindruck von weltfremder Unnahbarkeit vermitteln konnte.

Wenn die Hehuan-Sekte die Sukkubus wären, die in weltliche Begierden eintauchten und sich dem Fleisch hingeben, dann wäre Shen Qiao eine göttliche Statue in einem Tempel, die hoch über allem steht und weder Freude noch Ärger kennt.

Aber je ketzerischer jemand war, desto mehr wollte er diese Statue schänden.

„Aber jetzt zögere ich ein wenig!", sagte Bai Rong vergnügt. „Mit deinem guten Aussehen wirst du bestimmt gefoltert, wenn du in die Hände meiner Shizun fällst. Selbst wenn du nicht stirbst, kommst du dem Tod sehr nahe. Ich  kann mich nicht mehr genau an den Inhalt des Bandes der Verblendeten Gedanke der Zhuyang- Strategie erinnern, als du ihn vorgelesen hast. Wenn du es mir noch einmal vorträgst, damit wir die Notizen vergleichen können, lasse ich dich gehen! Ich werde zurückgehen und Shizun sagen, dass ich Sektenanführer Yan nicht besiegen kann. Wie wär's?"

„Der Xuandu-Berg hat den Band die Verlorene Wanderseele der Zhuyang-Strategie. Da Ihr wisst, dass ich Shen Qiao bin, warum bittet Ihr mich nicht, auch das vor Euch zu rezitieren?"

Bai Rong lachte. „Hältst du mich für eine Närrin? Ich habe noch nie von diesem Band der Verlorenen Wanderseele gehört. Ich könnte nicht einmal sagen, ob du die Passagen verschlüsselt hast oder einen alten Unsinn rezitierst. Aber ich erinnere mich an den größten Teil des Bandes der Verblendeten Gedanke nur nicht an alles. Wenn du die Dinge bei mir vertauschst, werde ich es wenigstens wissen."

„Und was ist, wenn ich mich weigere, zu kooperieren?", fragte Shen Qiao.

„Dann wird diese dich an Shizun ausliefern müssen", sagte Bai Rong freundlich. „Du hast doch sicher schon von meinem Shizun, Sang Jingxing, gehört? Er ist um ein Vielfaches grausamer als mein Shixiong, Huo Xijing. Das Geschlecht macht für ihn keinen Unterschied, und er liebt am meisten die parasitäre Kultivierung. Es macht ihm auch Spaß, Menschen im Bett zu quälen, bis sie dem Tod nahe sind. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, was mit einer Schönheit wie dir passieren würde, solltest du in seine Fänge geraten!"

Shen Qiao seufzte. „Ihr haltet mich alle für einen gefallenen Tiger in der Steppe. Jemanden, dem ihr alles antun könnt, als ob ich schon gefangen und mein Schicksal schon besiegelt wäre. Glaubt ihr, ich würde in einer solchen Situation alles auf sich beruhen lassen? Auch wenn ich nicht herumlaufe und Menschen abschlachte, heißt das nicht, dass ich mich abschlachten lasse!"

Bai Rong erschrak, aber bevor sie herausfinden konnte, was Shen Qiao damit meinte, hatte er sich bereits bewegt. Sein langer, schlanker Zeigefinger streckte sich ihr entgegen!

„Die Quellwasser-Fingertechniken? Warum kennst du die Fingertechnik des Quellwassers?!"

Mit entsetztem Gesicht sprang Bai Rong zurück.




⇐Vorheriges Kapitel    Nächstes Kapitel⇒

GLOSSAR

2 Kommentare:

  1. kap33 da hauen sich zwei die rübe ein. dann muss er wieder unseren armen shen mit rein ziehen und verächtlich über in sprechen. also ehrlich wieso müssen andere auch so blöd reden wenn sie nicht mal wissen was wirklich passiert ist. also wirklich und dann tauch er wieder auf und will sich wenn anderen mitnehemen. aber der in hindert is shen und damit hat er wieder nicht gerechnet. kap34 jetzt hat er es ihnen gezeigt und alle bekammen eine andere meinung. auch der dank der frau war sehr grosszügig. endlich kann er heim und in der kutsche überkommt es im und er schläft ein. das hat er sicher nicht erwartet das er von bai entführt wird dann ein kleiner schlag abtausch. bei dieser frau nenne ich das sexuelle belästigung. dann trifft sie auch seinen punkt das er sich nicht mehr bewegen kann und gibt im ein küsschen auf die nase. sag ich doch sexuelle belästigung. aber jetzt erschreckt sie sich weil er das macht was whusi immer tut mit seiner fingertechnik. freu mich wenns weiter geht.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Kapitel 33:
      Shen Qiao wird halt gefühlt von allen und jeden bekämpft oder man testet was er alles kann, der wird wohl niemals im Leben seine Ruhe haben.
      Es ist echt erstaunlich wie sehr Shen Qiao über solchen Dingen, wenn er beleidigt wird, steht und dann sogar noch höflich bleibt. Wow.
      Aber reden denn nicht fast alle so blöd daher? In dem Wissen mit ein paar Informationen die gesamte Bandbreite einer Situation zu erkenn ohne sich auch nur einmal zu fragen, dass das was sie zu Wissen glauben falsch oder auch lückenhaft sein könnte.
      Als Duan Wenyang wieder auftauchte war es gefühlt so wie in einem Videospiel, wenn du in einem Bosskampf fast am abkratzen bist. Dann hast du es endlich geschafft ihn zu töten nur damit er doch noch einmal auftaucht. Echt nervig.

      Kapitel 34:
      Zum Glück lässt sich Shen Qiao nicht beirren und holt die letzten Kraftreserven hervor und kann Duan Wenyang vertreiben.
      Endlich ist mal wieder jemand gut zu Shen Qiao und Frau Qin kann ihm wenigstens helfen und dann will Zhan Ziqian Shen Qiao auch noch malen. Also dieses Gemälde würde ich auf jeden Fall kaufen.
      Shen Qiao kann echt überall und bei genügend Erschöpfung sofort einschlafen.
      Bai Rong ist richtig verliebt in unseren Shen Qiao, ständig flirtet sie mit ihm und macht unangemessene und ungefragte Annäherungsversuche. Sie macht Yan Wushi Konkurrenz, ich frage mich ob sie beide, Yan Qushi und Bai Rong sich irgendwann mal um Shen Qiao streiten würden.
      Shen Qiao hat von Yan Wushi gelernt und wendet seine Fingertechnik an, ob Yan Wushi, wenn er dass wüsste Stolz oder so wäre?

      Löschen