Die Winterwinde waren bitterkalt, ihre Kälte drang bis in die Knochen.
Ein dröhnender Pfiff ertönte, und ein Pfeil streifte direkt
an seinem Ohr vorbei.
Ren Yings Brust und Lunge brannten vor Schmerz; jeder
Atemzug fühlte sich an, als würden sich Messer in sein Fleisch bohren, aber er
hatte keine andere Wahl als zu rennen.
Wenn er das nicht tat, wäre er tot.
Seit seiner Kindheit hatte er in die niedrigsten Arbeiten verrichtet.
Er hatte vielleicht nicht viel mehr, aber seine Beine waren ziemlich gut im Rennen.
Doch seine Verfolger kamen immer näher und brüllten, während
sie ihre Fackeln schwangen. Sie hatten sogar gut gegessen und getrunken und
waren gut gesättigt, während Ren Ying seit einem ganzen Tag und einer ganzen
Nacht nichts mehr gegessen hatte. Er rannte mit den letzten Resten seiner
Willenskraft durch den Wald und dann über einen Hügel. Wenn er so weiterlief,
würde er schließlich gefangen genommen und verprügelt werden.
Letztlich hatte er nur, weil er aus ausgehungert war, aus purer
Verzweiflung ein Stoffbündel aus einem Haushalt gestohlen hatte. Es war schwer
und bis zum Rand mit Fladenbrot gefüllt
‒ er konnte sogar den Duft riechen!
Ren Ying fasste einen Entschluss. Selbst wenn sie ihn
gefangen nehmen würden, würde er das Bündel verstecken oder es zumindest weit
wegwerfen. Er würde es diesen Leuten niemals überlassen.
Während ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen, sah er
einen Lichtschimmer vor sich.
Es war eine Nacht ohne Sterne und Mond. Dieses winzige,
schwache Licht flackerte, und im Schutz des Bergwaldes schien es dunkler und
undeutlicher denn je. Aber für Ren Ying war dieser winzige Lichtfleck wie die
Sterne oder der Mond, er leuchtete hell. Ohne zu überlegen, sprintete er darauf
zu.
Als er die Szene vor sich erkannte und feststellte, dass das
Licht von einem verfallenen Tempel stammte, war er plötzlich von Bedauern
erfüllt.
Dieser schäbige Tempel war völlig isoliert; es musste etwa achthundert
Jahre her sein, dass jemand dort zuletzt gebetet oder Opfergaben dargebracht
hatte. Warum brannte hier ein Licht? Könnten es die Gefährten seiner Verfolger
sein? Wenn es keinen Hinterausgang gab, würde er dann nicht bald völlig in der
Falle sitzen.
Ren Ying war schließlich nur ein Junge in der Pubertät. Er
schwankte und dachte, dass er eine falsche Entscheidung getroffen hatte, aber
es war zu spät, um umzukehren. Er konnte nur noch hineinplatzen.
Ein Stapel brennenden Holzes kam in sein Blickfeld ‒ das war
die Quelle des Lichts, das er gesehen hatte.
Doch hinter dem Holzstapel saß ein Mann, der sich gerade am
Feuer wärmte. Der Mann sah aus wie ein daoistischer Priester. Sein Kopf war
gesenkt, und er war halb im Schatten verborgen; das Muster der Acht Trigramme
auf seiner Robe war bereits vage und undeutlich.
Obwohl draußen ein heftiger Wind wehte, war das Feuer in
einer Ecke entfacht worden, abgeschirmt durch die sich öffnende Tür, und es war
nicht gelöscht worden.
Ren Ying warf ihm schnell einen Blick zu. Er sah, dass die
Kleidung des Mannes zerlumpt war und er zerbrechlich und schwach aussah ‒ ganz
und gar nicht im Zusammenhang mit den Leuten, die ihn unerbittlich verfolgten.
Ren Ying schenkte ihm also keine weitere Beachtung und suchte nach einem
Hinterausgang.
Dieser baufällige Tempel ließ von allen Seiten Zugluft
herein, aber ein Blick genügte, um das Ganze zu überblicken. Selbst die
Buddha-Statue war fleckig und baufällig, ihr fehlte die Hälfte des Körpers ‒ es
war unmöglich, zu sagen, welcher Buddha es sein sollte. Ren Ying lief mehrere
Runden um die Statue herum wie ein kopfloses Huhn, sein Herz war verzweifelt
und in Panik. Die Schritte hinter ihm kamen immer näher, und Ren Ying riss den
Kopf zurück. Eine große Ansammlung von Feuerscheinen war schnell herbeigeeilt,
und sieben oder acht Männer versperrten die Tür. Es gab kein Entkommen!
Er hätte diesen Tempel niemals betreten dürfen!
Die ersten Frühlingsnächte waren kalt, aber Ren Yings
Kleidung war schweißgetränkt. Er klammerte sich an das Bündel in seinen Armen
und ging unwillkürlich zwei Schritte zurück.
„Du Göre, wohin willst du als Nächstes rennen?!"
„Du glaubst, du bist stark? Lauf weiter!"
Stimmen erhoben sich auf einmal, ihre Blicke waren wie
Messer und hackten ihn förmlich in mehrere Stücke.
Der Mann an der Spitze trat hervor und streckte die Hand aus.
„Gib uns den Sack."
Ren Ying biss die Zähne zusammen, zögernd und widerwillig,
aber er schleuderte ihn dem Mann entgegen.
Die andere Person hielt eine Fackel in der Hand. Mit seiner
freien Hand fing er das wütend geschleuderte Bündel auf. Anstatt es seinen
Untergebenen zuzuschieben, trug er es selbst. „Hast du diesen Sack geöffnet?",
fragte er Ren Ying.
Es war kein Akzent aus der Zentralebene, aber man konnte
sein Mandarin nicht als unpräzise bezeichnen, nur als etwas seltsam.
Wann hätte Ren Ying denn die Zeit dazu gehabt? Nachdem er
das Bündel gestohlen hatte, rannte er sofort los, weil er Angst hatte, gefangen
genommen zu werden. Von Zeit zu Zeit wehte der Geruch von Essen herüber, aber
obwohl er ausgehungert war, hatte er es gewaltsam ertragen.
Doch vor den verächtlichen Blicken dieser Männer weigerte er
sich unbewusst, seine Niederlage einzugestehen. Er richtete sich auf und
erwiderte: „Ich habe ihn geöffnet. Na und?"
Während er sprach, warf Ren Ying aus dem Augenwinkel einen
Blick auf das nahe gelegene Fenster. Er dachte daran, dass er aus dem Fenster
springen und fliehen würde, wenn diese Männer auf ihn zustürmten. Von draußen
kam das Geräusch von plätscherndem Wasser. Er war ein guter Schwimmer,
vielleicht gab es noch einen Ausweg.
Doch bevor er diesen Gedanken realisieren konnte, hatte der
Mann ihn schon gepackt. „Ob du ihn nun geöffnet hast oder nicht, du wirst heute
dein Leben hinter dir lassen!"
Die Bewegungen des Mannes waren erschreckend schnell. Völlig
schockiert konnte Ren Ying nicht anders, als sein Kinn zu heben und zurückzustolpern.
Als er für seinen Chef gearbeitet hatte, hatte Ren Ying ein
paar Bewegungen gelernt. Er hielt sich für flink ‒ sonst hätte er nicht so
lange durchhalten können, während er so ausgehungert war.
Aber diese Männer waren äußerst geschickt, weit über das
hinaus, was Ren Ying sich vorgestellt hatte. Ganz gleich, wie schnell seine
Reflexe waren, mit dem Griff dieses Mannes konnte er nicht mithalten.
Eine eisige Aura und Druck umhüllten ihn von vorne, und
seine Kehle wurde fest umklammert. In diesem Moment wuchs die mörderische
Absicht, und Ren Ying wurde vom Ersticken benommen, seine Hände und Füße
verloren die Kraft, sich zu wehren.
Als er beobachtete, wie sich der Mund seines Gegenübers
bösartig verzog, wurde ihm plötzlich etwas klar: Diese Leute waren eindeutig
außergewöhnlich geschickt. Den ganzen Weg über hatten sie ihn nur gejagt,
anstatt ihn zu fangen. Sie hatten ihn sich erschöpfen lassen, bevor sie die
Netze einholten, so wie eine Katze mit einer Maus zwischen ihren Pfoten spielt.
Aber alles, was er gestohlen hatte, war ein Sack mit Lebensmitteln. Wenn er
nicht so hungrig gewesen wäre, wenn nicht ein kleiner Bruder und eine kleine
Schwester zu Hause auf ihn gewartet hätten, wäre Ren Ying niemals das Risiko
eingegangen, diese Männer zu provozieren. Sie hatten genug zu essen und zu
trinken; sie sahen nicht wie Menschen aus, denen es an einem fehlenden
Stückchen Nahrung mangeln würde, warum also sollten sie ihn in den Tod treiben?
Waren die Armen in solch stürmischen Zeiten wirklich dazu verdammt, nicht
überleben zu können?
Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf durcheinander, und die
Hand um seine Kehle wurde immer fester. Aus dem Augenwinkel sah er die anderen,
die sich dem Verhör des Mannes hinter dem Feuer zugewandt hatten. Sie glaubten,
dass er mit Ren Ying zusammen war.
Ren Ying öffnete den Mund; er wollte dem Mann sagen, er
solle sich beeilen und gehen. Aber er konnte keinen Laut mehr von sich geben.
Seine Sicht verdüsterte sich allmählich, und sogar seine Glieder waren steif
und taub geworden.
„Warum müssen Sie so unbarmherzig sein, wo er es doch nie
geöffnet hat?“
Schemenhaft glaubte Ren Ying, eine Stimme zu hören, sowohl
in der Nähe als auch in der Ferne, aber er konnte nicht erkennen, woher sie
kam.
Vielleicht hörte er nur Dinge vor seinem Tod, dachte er
dumpf. Er wusste, dass sein Tod unmittelbar bevorstand, dass eine große Kluft
zwischen ihren Fähigkeiten lag. Er hatte bereits jeden Kampf aufgegeben. Doch
dann verschwand der Druck auf seinen Körper, und er stieß einen Schrei aus, der
nicht aus seinem Mund gekommen war.
Ren Ying öffnete verwirrt die Augen und sah, wie ein Mann
rückwärts flog und schwer auf dem Boden landete.
Der daoistische Priester am Feuer erhob sich und wischte
sich den Staub ab. Seine Kleidung war zerzaust und in einem erbärmlichen
Zustand, doch seine Bewegungen waren so geschmeidig wie treibende Wolken und
fließendes Wasser oder eine kühle Brise, die den Mond küsst. Nicht ein
Staubkorn war auf seinem Gesicht zu sehen. Nicht einmal diese Männer hätten
sich vorstellen können, dass jemand so Furchtbares in diesem verfallenen Tempel
auftauchen würde.
„Er hat vielleicht etwas gestohlen, aber das ist kein Verbrechen,
das den Tod rechtfertigt", sagte der Fremde, „In eurem Glauben, dass
jemand hinter euren Sachen her ist, habt ihr ihn als Köder genommen. Jetzt, da ihr
erkannt habt, dass es nur ein Zufall war, warum lasst ihr ihn nicht gehen?"
Der Daoist war nicht im Geringsten beunruhigt über das
Eindringen dieser ungebetenen Gäste. Er war so ruhig wie ein Berg und zeigte
weder Ärger noch Überraschung.
Alle, die in der Jianghu unterwegs waren, wussten, dass man
es sich umso weniger leisten konnte, eine Person zu provozieren, je
unauffälliger sie wirkte. Aber diese Gruppe schien unbewusst zu dem Schluss
gekommen zu sein, dass er der Anstifter hinter Ren Ying war. Sofort schossen
sie mit einem spöttischen Lächeln zurück. „Ihn gehen lassen? Dann könnt ihr
seinen Platz einnehmen?"
Der Mann an der Spitze griff zuerst an, während sich seine
Männer hinter ihm in zwei Gruppen aufteilten, die den Daoisten umgaben ‒ sie
hatten sich wortlos zu einer Schwertformation aufgestellt.
Ren Ying verstand nichts von Kampfkunst, aber er konnte
erkennen, dass der Daoist in Gefahr war. Sieben oder acht Männer zogen ihre
Schwerter, ihr Schwertqi verflochten sich. Einen Moment lang war es schwer zu
erkennen, wer nah und wer fern war. Ren Ying spürte nur, wie ihm ein Druck von
vorne ins Gesicht schlug. Er wollte zurückweichen, wurde aber von einer Säule
aufgehalten. Er konnte sich nur noch flach dagegenstemmen. Er sah, dass der Daoist
umzingelt war, und er konnte sich nicht verkneifen, zu rufen: „Vorsicht!
Er hatte dies gerufen, als außerhalb des Tempels ein helles
Lachen erklang: „Eine unbedeutende kleine Sekte aus Yamato,
und ihr stolziert in der Zentralebene herum?"
Diese Worte hatten ihre Identität entlarvt ‒ als sie sie
hörten, fielen die Gesichter der sieben oder acht Männer in sich zusammen. Gerade
als sie dachten, sie hätten den Daoisten erledigt, bevor sie sich dem
Neuankömmling zuwandten, schüttelte der Daoist plötzlich seine Ärmel und
breitete sie aus. Die Schwertformation der Männer brach augenblicklich
zusammen, und die Schockwellen ließen zwei ihrer Schwerter zersplittern und aus
den Griffen ihrer Besitzer fliegen. Ein paar Männer taumelten einige Schritte
zurück, Unglauben stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
In diesem Moment kam das Lachen von draußen näher, und ein
Mann schlenderte herein, seine Robe flatterte, sein Auftreten war ruhig und
gelassen.
„Es ist erst ein Dutzend Tage her, dass ich dich zuletzt
gesehen habe. Wie konnte unser Shen-Zhangjiao nur so erbärmlich enden?"
Der Neuankömmling schnalzte zweimal mit der Zunge, ein Lächeln auf den Lippen.
Während er seine Umgebung abtastete, schien er jeden zu betrachten, aber auch
jeden für unbedeutend zu halten. Schließlich hatte er nur den Daoisten ruhig in
die von ihm selbst gezogene Grenze aufgenommen.
Der Daoist schien mit ihm vertraut zu sein; als er diese
Worte hörte, schüttelte der Mann den Kopf, erklärte aber nichts weiter.
Stattdessen wandte er sich an die Gruppe von Männern: „Wollt ihr immer noch
kämpfen?"
Der Anführer hatte die Worte "Shen-Zhangjiao"
gehört, und ein unheilvolles Gefühl stieg in ihm auf. Einen Moment lang
schwankte sein misstrauischer Blick zwischen Shen Qiao und dem Neuankömmling
hin und her.
Shen Qiao wartete nicht darauf, dass die beiden
herausfanden, was vor sich ging. Er setzte nach: „Wenn ihr nicht kämpfen wollt,
bin ich jetzt dran."
Bevor der Anführer reagieren konnte, spürte er einen
allumfassenden Druck vor sich, der Berge zum Einsturz bringen und Meere
umwälzen konnte. Ihm blieb augenblicklich die Luft weg, und bevor er den
Angriff erwidern konnte, war er gezwungen, zurückzufallen. Leider war er immer
noch einen Schritt zu langsam: Seine Untergebenen konnten nur hilflos zusehen,
wie ihr Anführer von Shen Qiao gepackt wurde, völlig bewegungsunfähig.
„Was macht Ihr da? Lasst los!"
„Wie unverschämt!"
Einige von ihnen waren in ihrer Panik wütend geworden und
schrien sogar auf Japanisch. Zwei der Männer wollten gerade nach vorne stürmen,
aber sie waren kaum einen halben Schritt weit gekommen, als Shen Qiao sie mit
einem Fingerschnipsen zurückdrängte.
Der Mann neben ihm, der wie ein angesehener Gelehrter
gekleidet war, griff nicht ein einziges Mal ein. Er schaute einfach vom Rand
aus zu, sein Gesicht voller Lächeln. Aber obwohl er nur zuschaute, spürten die
Männer von Yamato auch einen immensen Druck von ihm.
Ein einziger Shen Qiao war schon zu viel für sie, ganz zu
schweigen von dem Gedanken, einen weiteren hinzuzufügen.
„Die Zentralebene zu infiltrieren und das einfache Volk
einzuschüchtern. Wenn man bedenkt, dass die große und mächtige Shinbu-Sekte,
die führende Sekte von Yamato, so etwas Unehrenhaftes tun kann."
Als er die Worte von Shen Qiao hörte, erblasste der Anführer
sofort. Unbewusst wollte er sich noch wehren, aber dann durchdrang eine Welle
von Schmerz seine gefesselte Schulter, völlig unerwartet. Er konnte nicht
anders, als vor Schmerz zu schreien, als er in sich zusammensackte, aber da
seine Schulter immer noch in Shen Qiaos Griff war, konnte er sich nur mit
Gewalt auf seine schwachen, schlaffen Beine stützen.
„Dieser Hier ist Asano Taku, Schüler der Shinbu-Sekte. Darf
ich fragen, ob es sich bei diesem angesehenen Meister um den Shen-Zhangjiao vom
Xuandu-Berg handelt, der bedeutendsten daoistischen Sekte der Welt? Alle sagen,
dass Shen-Zhangjiao unvergleichlich gütig und großzügig ist, warum ist er dann
so rücksichtslos? Es ist der Himmel und die Erde, abgesehen von seinem Ruf,
also verzeiht mir bitte, dass ich Euch nicht erkannt habe!"
Sein Gesicht war schmerzverzerrt, aber er hatte immer noch
nicht vergessen, Shen Qiao mit psychologischen Mitteln auszufragen.
Der Mann, der von der Seite zusah, brach plötzlich in
Gelächter aus. „Gnade zeigen, wenn die andere Seite eindeutig böse Absichten
hegt?", spottete er, „Ihr beschreibt einen Idioten, nicht Shen-Zhangjiao.
Unser A-Qiao ist zwar ein wenig töricht, aber dank meiner Lehren in den letzten
Jahren ist er zumindest in der Lage, die Dinge etwas abzuwägen und zu
beurteilen."
Sein Ton war frivol, als würde er mit einer Dame aus der
Oberschicht flirten. Aber Asano Taku wagte es nicht, ihn zu unterschätzen, denn
er spürte eine unsichtbare und furchterregende Präsenz, die von diesem Mann
ausging. Es war etwas Unbeschreibliches, das man nur von Zongshis spüren
konnte, die den Gipfel der Kampfkünste erreicht hatten. Yamato hatte zwar eine
ganze Reihe von Kampfkünstlern, aber praktisch keinen, der auf dem Niveau der
beiden Männer vor ihm war.
Es sah auch so aus, als ob der Mann Shen-Zhangjiao gut
kannte, denn dieser warf ihm einen Blick zu, blieb aber völlig stumm.
Angesichts zweier großer Kampfkünstler traute sich Asano Taku
nicht, so ungezügelt zu handeln ‒ er konnte nur den Schmerz ertragen, während
er erklärte, was vor sich ging.
Laut Asano Taku war die Shinbu-Sekte nur durch Zufall in der
Zentralebene gelandet. Ursprünglich waren sie auf der Suche nach einem
vermissten Token ihrer Sekte. Sie kamen nach Goguryeo, wo sie mit der
wichtigsten Sekte Goguryeos zusammenstießen: der Dungjeou-Sekte. Viele
Mitglieder der Shinbu-Sekte wurden getötet oder verletzt, und innerhalb der
Gruppe von Asano Taku kam es zu Unstimmigkeiten. Einige von ihnen schlugen vor,
zunächst zu ihrer Sekte zurückzukehren, um Bericht zu erstatten und dann einen
Plan für die Zukunft festzulegen, da sie so schwere Verluste erlitten hatten.
Andere hingegen bestanden darauf, dass sie weiter nachforschen sollten, bis sie
das Zeichen gefunden hatten, damit sie der Sekte etwas mitbringen konnten.
Asanos Gruppe gehörte zu den Letzteren.
Sie folgten der schwachen Spur von Goguryeo bis in die
Zentralebene und entdeckten den Ort, an dem sich das Zeichen befand. Nach einem
schwierigen und blutigen Kampf gelang es ihnen, es zu bergen, aber sie waren
von vielen Sekten umzingelt, die ebenfalls ein Auge auf das Zeichen geworfen
hatten. Asano und seine Männer waren wie Vögel geworden, die beim Spannen eines
Bogens aufschreckten ‒ sie hielten jeden, der sich ihnen näherte, für einen
Dieb. Auch wenn sie wussten, dass Ren Yings Fähigkeiten nur mittelmäßig waren
und er nicht einmal ein Mitglied der Jianghu sein konnte, konnten sie nicht
umhin zu vermuten, dass jemand hinter ihm steckte, und so wollten sie ihn
benutzen, um den "großen Fisch" herauszulocken.
Doch sie hätten nie gedacht, dass Ren Ying in Wirklichkeit
jemand ohne Hintergrund oder Geschichte war, nur ein hungernder Dieb ‒
stattdessen waren es Asano und seine Leute, die sich kopfüber in einen
mächtigen Berg gestürzt hatten.
Nein, zwei Berge
Nachdem er stockend seine Geschichte erzählt hatte, zwang Asano
sich zu einem Lächeln und wirkte demütig und unterwürfig.
„Obwohl wir Augen besitzen, haben wir den Berg Tai nicht
erkannt, als er direkt vor uns lag. Wir bitten die beiden Meister, uns zu
verzeihen und euch nicht auf unser Niveau herabzulassen."
„Ein unbedeutendes Sektenzeichen hat alle Sekten dazu
gebracht, euch begehrlich zu jagen?", sagte Shen Qiao. „Ihr habt euch die
ganze Zeit um die wichtigen Dinge herumgedrückt ‒ nicht ein einziges Mal habt
ihr erklärt, was dieses Zeichen ist. Glaubt Ihr, wir sind so leicht zu
täuschen?"
Shen Qiao mochte es nicht, anderen Schwierigkeiten zu
bereiten, aber ohne sein Eingreifen wäre ein Junge durch ihre Hand gestorben.
Obwohl Asano alle ihre Schwierigkeiten aufgezählt hatte, hatte Shen Qiao nicht
die Absicht, sie so einfach davonkommen zu lassen. Wer wusste schon, ob sie
nicht jemand anderen angreifen würden, sobald er weg war?
Natürlich zeigte Asano eine unwillige Miene und stammelte.
„Warum lässt Ihr mich nicht raten?", Yan Wushi schritt
langsam heran, sein Tonfall war von der Schadenfreude eines Zuschauers einer
großen Show erfüllt, die nichts mit ihm zu tun hatte, „Vor einiger Zeit hörte
ich, dass einige Schüler der Dungjeou-Sekte übergelaufen sind, nachdem sie in
ihrer Sekte ein Massaker angerichtet hatten, das eine Zeit lang großes Chaos in
Goguryeo verursachte. Später tauchten immer wieder Leute aus Goguryeo und Yamato
in der Zentralebene auf; sogar Tuyuhun und das neugeborene Tibet wurden in
diese Angelegenheit hineingezogen. Letztendlich war alles auf das Mitake-Schwert
zurückzuführen, das seinen Weg aus der Dungjeou-Sekte fand. Die Legende besagt,
dass das Schwert von den Göttern gesegnet wurde und der Träger daher von einem
göttlichen Licht beschützt wird, das ihn wie den Vajra unzerstörbar macht.
Außerdem sind auf der Klinge des Schwertes Berge und Flüsse eingraviert, was
auf einen Schatz hinweist. Mehrere Gruppen wetteifern ohne Ende darum, und nun
haben sogar die Sekten der Zentralebene davon Wind bekommen und sich einer nach
der anderen angeschlossen. In eurem Päckchen befindet sich das Mitake-Schwert,
nicht wahr?"
Asanos Gesichtsausdruck hatte während der Rede von Yan Wushi
mehrmals geflackert. Obwohl er mit den Zähnen knirschte und sich weigerte,
einen Laut von sich zu geben, war das an und für sich schon eine
stillschweigende Bestätigung.
Ren Ying verstand nur halb, was vor sich ging. Er war völlig
verwirrt, wusste aber dennoch, dass es sich bei dem Sack, über das er
gestolpert war und das er gestohlen hatte, um einen wertvollen Gegenstand
handelte, um den sich die Jianghu stritten. Sofort konnte er nicht verhindern,
dass sein Gesicht aschfahl wurde.
Wenn nicht plötzlich jemand aufgetaucht wäre, um ihn zu
retten, wäre er hier gestorben.
Ren Ying versteckte sich unbewusst hinter Shen Qiao, seine
Hand umklammerte Shen Qiaos Ärmel. Doch dann spürte er ein schwaches Kribbeln
auf seinem Rücken und drehte sich instinktiv um, um nachzusehen. Er sah nur,
wie der Mann, der vorhin gesprochen hatte und der hinter dem Feuerschein stand,
seinen Blick auf ihn richtete, und in diesem Blick lag eine unsichtbare
Bedrohung verborgen. Ren Ying wich zurück und zog schnell seine Hand weg.
Asano befürchtete, dass auch Shen Qiao und Yan Wushi hier
waren, um das Mitake-Schwert zu stehlen. Er konnte sich kaum vorstellen, dass
die beiden völlig uninteressiert an dem Objekt waren, denn sie sprachen nicht
weiter. Stattdessen schürten sie weiter das Feuer und bereiteten sich auf eine
Pause vor. Yan Wushi zog sogar ein kleines Fläschchen mit Shaojiu aus seinem Revers. Er reichte sie Shen Qiao,
der sie ohne Probleme entgegennahm, einen Schluck nahm und sie dann Yan Wushi
zurückgab. Dann holte er ein paar Stücke Fladenbrot und Trockenrationen und gab
sie Ren Ying, um seinen Hunger zu stillen.
Ren Ying bedankte sich wiederholt bei ihm. Er war sichtlich
ausgehungert, aber er aß das Essen langsam. Selbst nachdem eine lange Zeit
vergangen war, blieb mehr als die Hälfte des handtellergroßen Fladenbrots
übrig.
„Das Fladenbrot ist nicht giftig. Du kannst dich entspannen",
sagte Shen Qiao sanft.
Ren Ying schüttelte den Kopf und erklärte dann unbeholfen,
dass seine jüngeren Geschwister zu Hause nichts zu essen hätten. Er hatte
Angst, dass die edle Person vor ihm denken würde, dass er mehr verlangte, und
bemerkte nicht, dass sich Shen Qiaos Gesichtsausdruck weiter entspannt hatte.
„Ich habe hier noch ein paar Trockenrationen", sagte
Shen Qiao, „Aber ich kann sie dir nicht alle geben. Du bist allein und kannst
nicht so viel Essen bei dir behalten. Danach bringst du deine Geschwister zu
uns. Dieser Ort ist nicht weit von der Stadt Guyang entfernt. Du kannst sie für
eine Weile hier unterbringen und dann in der Stadt nach Arbeit suchen."
Ren Ying hatte schon einmal überlegt, in die Stadt zu gehen,
aber seine Geschwister waren zu hungrig, um zu Fuß zu gehen. Ihm blieb nichts
anderes übrig, als sich allein auf die Suche nach Nahrung zu machen, und so war
er auf Asanos Kollegen gestoßen.
Asano war ängstlich und besorgt, und er wagte keine
überstürzten Bewegungen. Aber es gab Leute in seiner Gruppe, die den berühmten
Ruf von Shen Qiao und Yan Wushi nicht kannten und eine Chance zur Flucht
suchten. Einer von ihnen war gerade im Schutz der Dunkelheit aufgestanden und
hatte zwei Schritte gemacht, als er zweimal an der Taille getroffen wurde. Es
war lautlos und blitzschnell gewesen ‒ der Mann hatte nicht einmal bemerkt, was
geschah, bevor er zur Seite fiel, auf den Boden sackte und unaufhörlich zuckte.
„In all den Jahren hat es niemand vor mir gewagt, ohne meine
Erlaubnis zu kommen und zu gehen." Yan Wushi blieb völlig ruhig, und sein
Blick auf Asanos Gruppe war von Spott erfüllt, als wäre er eine Katze, die mit
einer Maus spielt.
Asano besaß ein gesundes Urteilsvermögen, und so konnte er
es aushalten. Aber die Leute um ihn herum konnten das nicht ‒ sie stießen
sofort einen Schrei aus und erhoben ihre Waffen, um Yan Wushi zu erstechen.
Da Shen Qiao zuvor die meisten Angriffe ausgeführt hatte,
gingen Asanos Untergebene davon aus, dass Yan Wushi leichter zu erledigen sei ‒
sie wollten ihn als Geisel nehmen.
Dies war wirklich ein Beispiel dafür, wie man sich sein
eigenes Grab schaufelt ‒ ein todesverachtendes Verhalten. Ein Mann hatte gerade
seine Waffe über den Kopf gehoben, als er durch die Luft geschleudert wurde.
Sein Schwert schoss ihm aus den Händen und gegen die Wand hinter der
Buddha-Statue, wo die Klinge halb eindrang!
Asano blickte auf seine regungslosen Untergebenen und
spürte, wie sein Geist völlig zerbrach. Der schwache Wunsch nach Widerstand in
ihm war bereits verflogen. Er wurde völlig fügsam und gehorsam, denn er
fürchtete, dass er beim kleinsten Anzeichen von Respektlosigkeit das Schicksal
dieses Mannes teilen würde.
In Yamato war die Macht der Jinmu-Sekte so groß, dass sie
tun konnte, was sie wollte. Asano war daran gewöhnt und hatte sich selbst sehr
hoch eingeschätzt ‒ selbst nach seiner Ankunft in Goguryeo und der Zentralebene
hatte er manchmal den falschen Eindruck gewonnen, dass die ausländischen
Kampfkünstler unter seiner Würde waren, nur weil er noch nie einem der besten
Kampfkünstler begegnet war. Jetzt verstand er vollkommen, dass ein falscher
Eindruck genau das war: ein Irrtum. Der Grund, warum er nie auf Rivalen
gestoßen war, lag darin, dass er nie auf Top-Experten getroffen war. Dann waren
Shen Qiao und Yan Wushi, die beiden großen Berge, vor ihm aufgetaucht. Da er
sie nicht erklimmen konnte, war er plötzlich verzweifelt.
Er dachte, dass heute der Tag seines Todes sein würde, aber
dann ließ Yan Wushi sie alle einfach gehen.
„Raus hier. Ich will euch nie wieder sehen."
Shen Qiao ergänzte seine Worte mit seinen eigenen: „Wenn ihr
es wagt, euch an meinem jungen Freund zu rächen, wird der Xuandu-Berg euer
Feind werden."
„Die Drohungen von Shen-Zhangjiao sind so glanzlos",
kommentierte Yan Wushi in kühlem Ton, „Sag ihnen einfach, dass du sie bis an
den Rand der Welt jagen wirst, um sie zu bestrafen, dass sie nicht in einem Stück sterben können. Wäre damit nicht alles
geklärt?"
Nachdem Asano gesehen hatte, wie furchterregend diese Männer
waren, wagte er nicht, an der Wahrheit von Yan Wushis Worten zu zweifeln. Er
kniete wiederholt nieder, verbeugte sich, stolperte dann zurück und schwor,
dass er es niemals wagen würde, sich an Ren Ying zu rächen, womit er ihre
Neigung, vor den Starken zusammenzubrechen, vollends unter Beweis stellte. Erst
als ihre Gruppe weit vom Tempel entfernt war und sie sicher waren, dass Shen
Qiao und Yan Wushi sie wirklich hatten gehen lassen, ließen sie sich
schließlich auf den Boden sinken.
Im Inneren des zerstörten Tempels hatte Ren Ying derweil
eine Katastrophe überstanden. Er starrte Shen Qiao ausdruckslos an, als wäre er
in Trance. In der Folgezeit stieg eine verspätete Angst in ihm auf, und seine
Augen röteten sich.
„Shen ... Shen-Xiansheng, ich mache mir Sorgen um meine
Geschwister. Darf ich sie zuerst abholen? Ich möchte mich bei den beiden Herren
für ihre große Freundlichkeit bedanken und mich mit ihnen zusammen verbeugen."
Er hatte seine Geschwister vorhin in einen kaputten
Brennofen untergebracht. Er ließ die kalte Luft von allen Seiten herein, und
die Mägen der beiden Kinder knurrten vor Hunger. Sie hatten nicht einmal die
Kraft, ein Huhn zu binden; es konnte ihnen jederzeit etwas zustoßen.
„Ich werde mit dir gehen." Shen Qiao meldete sich
freiwillig, dann wandte er sich an Yan Wushi: „Ich muss Yan-Xiong bitten, hier
einen Moment zu warten. Ich werde mit unserem jungen Freund gehen, und wir
werden bald zurück sein.
Yan Wushi stocherte in den Flammen herum und sagte eisig: „Wenn
ihr zurückkommt, ist mein Ehrwürdiges Ich vielleicht schon weg."
Er spielte sich auf, doch Shen Qiao lachte daraufhin: „Dann,
Yan-Zongzhu, musst du dich damit begnügen, einen Moment zu warten."
Yan Wushi schnaubte leicht, sagte aber nichts weiter.
Ren Ying war beunruhigt und ängstlich. Er wusste nicht, wer
Yan Wushi war, aber die Anwesenheit dieses Mannes machte ihm instinktiv Angst
und schüchterte ihn ein. Er ahnte nicht, dass Yan Wushi sich in diesem Moment
bereits ziemlich zurückgehalten hatte. Man könnte sein Verhalten sogar als
angenehm bezeichnen.
In Anwesenheit von Shen Qiao verlief das Wiedersehen von Ren
Ying mit seinen Geschwistern reibungslos. Die beiden Kinder waren so
ausgehungert, dass sie kaum menschlich wirkten ‒ sie konnten kaum die Augen
öffnen. Ren Ying wagte es nicht, ihnen zu viel auf einmal zu geben; er konnte
sie nur einen Bissen nach dem anderen essen lassen und warten, bis sie
allmählich wieder zu Kräften kamen.
Erst dann war Shen Qiao in der Lage, Ren Ying nach seinem
aufgestauten Unmut und seiner Frustration zu fragen.
„Als ich jung war, hörte ich meine Eltern sagen, dass Kaiser
Wen Zhou ablöste, Chen besiegte und die Länder vereinigte", sagte Ren Ying,
„Wir dachten, dass uns einfachen Leuten gute Tage bevorstehen würden. Es ist
erst ein paar Jahre her, dass der Kaiser und der Hof gewechselt haben, wie
konnte es also so weit kommen? Eine große Dürre, gefolgt von einer großen Flut.
Unsere Familie hat alles verloren, und meine Eltern sind verstorben. Auch unser
Haus und unsere Felder wurden überschwemmt; unsere Hühner sind alle gestorben.
Es ist ... Es ist in Ordnung, wenn ich verhungere, aber was ist mit meinen
Geschwistern? Wo ist die Hoffnung für uns Bürgerliche? Werden wir noch
überleben können?"
Selbst wenn er flink war und ein wenig Kampfkunst gelernt
hatte, war er in diesen unruhigen Zeiten kaum mehr als ein Blatt im Wind, auf
das er sich nicht verlassen konnte.
Es gab Tausende und Abertausende von Menschen wie Ren Ying.
Shen Qiao seufzte. „Früher habe ich auch geglaubt, dass
Groß-Sui mit Kaiser Wen zumindest einige Hundert Jahre Frieden genießen könnte.
Wenn ich mir die Dinge jetzt anschaue, scheint Yan Wushi wirklich recht zu
haben!"
Ren Ying war verwirrt: „Was wollen Sie damit sagen, Herr?"
Shen Qiao brach in Gelächter aus. „Ich will damit sagen,
dass ich ein wenig Wahrsagen kann. Aber leider habe ich bei all meinen
Weissagungen über die Zukunft das menschliche Herz nicht berücksichtigt."
Wer hätte gedacht, dass Kaiser Wen und Kaiserin Dugu, die
ihr ganzes Leben lang weise Herrscher gewesen waren, bei der Wahl ihres Erben
straucheln würden? Yang Guang übertraf in der Tat die anderen Söhne des Kaisers
an Talenten und Intelligenz, aber wenn die ganze Welt bereits in den Händen
liegt, kommt es nicht darauf an, wie flink diese Hände sind oder welche Wunder
sie vollbringen können, sondern darauf, wie stabil sie sind. Und Yang Guangs
Hände waren in der Tat mehr als flink, aber es fehlte ihnen an Stabilität.
Er hatte große und hochgesteckte Ziele, die Dutzende von
Kaisern vor ihm übertrafen. Das Einzige, was ihm fehlte, waren die Herzen und
Ressourcen des Volkes.
Eine Ostexpedition, ein Transportkanal, die Trennung des
Militärs von der Aristokratie und die Beleidigung der mächtigen Familien. Diese
drei Dinge reichten aus, um seinen Thron zu stürzen und die ohnehin schon
kurzlebige Nation ins Wanken zu bringen, und an den Rand des Zusammenbruchs zu bringen.
Obwohl Yang Guang heute noch auf dem Thron saß, konnte Shen
Qiao bereits die Krise erkennen, die sich hinter der Fassade des Wohlstands
zusammenbraute.
Ren Ying wusste nichts davon. Er konnte weder so hoch stehen
noch so weit sehen; er wusste nur, dass seine Familie und sein Haus durch
Naturkatastrophen umgekommen waren, doch der Hof kümmerte sich nicht darum.
Oder vielleicht fehlte dem Hof die Fähigkeit, sich zu kümmern. Ren Ying konnte
keine Hoffnung auf ein Überleben sehen, aber für seine Geschwister konnte er
nur bitterlich festhalten. Eines Tages, wenn selbst seine einzige Sorge weg
war, würden Menschen mit ähnlichen Erfahrungen wie Ren Ying vielleicht einfach
die Zähne zusammenbeißen und sich dem Leben eines Geächteten zuwenden.
Vielleicht würde er dann ein paar Reichtümer erlangen, während er das Blut von
seinem Schwert leckte, vielleicht würde er aber auch sein Leben unter dem
Glitzern der Klingen verlieren.
Auf dieser Reise kehrten Shen Qiao und Yan Wushi gerade von
ihrer mehrjährigen Wanderschaft in die Westlichen Regionen zurück. Unterwegs
wurden sie Zeuge der gewaltigen Veränderungen, die über die Zentralebene
hereingebrochen waren, die sich anschickte, das Schicksal und die Fehler der Nördlichen
und Südlichen Dynastien zu wiederholen. Die Herzen der Menschen schwankten, und
die Jianghu und der Hof waren unwiderruflich miteinander verflochten. Nur
wenige Sekten der Welt kamen zur Ruhe; sie schienen unruhig und bereit, Unruhe
zu stiften, und jede brütete ihre eigenen Ränke aus.
„Dies war der Lauf der Welt. ‘Diejenigen, die lange entzweit waren, müssen vereint werden, und
diejenigen, die lange vereint waren, müssen entzweit werden.‘ Der
einzige Wermutstropfen war das harte Schicksal der Sui-Dynastie: Die Einheit
war zu kurz gewesen. Die Turbulenzen waren blitzschnell wieder aufgetaucht. Man
konnte nur Mitleid mit dem unschuldigen einfachen Volk haben, das nichts
anderes tun konnte, als mit den Gezeiten zu treiben, ohne jegliche Handlungsmöglichkeit.“
Wenn Shen Qiao darüber nachdachte, war er ratlos.
Er konnte den Xuandu-Berg anführen und sogar seine Sekte zu
großen Höhen führen, aber er war nicht in der Lage, diese Vorteile mit der Welt
zu teilen.
Die Kraft eines einzelnen Menschen war begrenzt. Ganz
gleich, wie gut ein Kampfkünstler auch sein mochte, er konnte nur die Menschen
in seiner Umgebung beschützen. Es war unmöglich, alle Menschen auf der Welt zu
schützen.
Nur ein guter Zeitpunkt, ein gutes Terrain und die
Unterstützung des Volkes konnten eine Ära des Friedens und des Wohlstands
herbeiführen. Und wie lange dieser Wohlstand aufrechterhalten werden konnte,
hing davon ab, wie klarsichtig die Verantwortlichen waren.
„Wenn du nirgendwo hinkannst, warum kommst du dann nicht mit
mir zum Xuandu-Berg?", schlug Shen Qiao vor. „Am Fuße des Berges gibt es
ein Dorf, und dort gibt es nur wenige Banditen. Außerdem hatten sie das Glück,
dass es in diesem Jahr keine Naturkatastrophen gab. Deine Geschwister können
dort arbeiten und gleichzeitig studieren; das ist viel sicherer, als draußen
herumzuwandern."
Das war die Methode, die sich Shen Qiao ausgedacht hatte, um
Ren Ying in Sicherheit zu wiegen. Vielleicht war er nicht in der Lage, alle
Menschen auf der Welt zu retten, aber solange er die Möglichkeit hatte zu
helfen, war es für ihn unmöglich, von der Seite aus zuzusehen.
Ren Ying bedankte sich bei Shen Qiao.
Shen Qiao spürte immer noch, dass das Herz des Jungen schwer
vor Sorgen und seine Laune gedrückt war. Aber sein eigener Geist war voller
Gedanken, und so sagte er nichts mehr. Die vier gingen schweigend zurück, bis
sie den verfallenen Tempel erreichten und den schwachen Feuerschein durch die
Löcher im Fensterpapier schimmern sahen. Damit löste sich auch die leichte
Enttäuschung in Shen Qiaos Herz auf unerklärliche Weise auf.
Zusammen mit dem Feuerschein wehte ein Duft nach draußen.
Die Mägen von Ren Ying und seinen Geschwistern knurrten unisono.
Yan Wushi saß im Schneidersitz hinter dem Feuer und spielte
mit einem langen Stab, den er in der Hand hielt, während er mit gesenktem Kopf
etwas darauf schnitzte. Selbst als er sprach, blickte er nicht auf. „A-Qiao,
wenn du möchtest, dass diese drei ein Brathähnchen essen, dann rate mal, was
ich gerade mache."
Ren Ying und seine jüngeren Geschwister sahen sich alle an
und starrten dann Shen Qiao an.
Die Mundwinkel von Shen Qiao zuckten. „Du willst ein
falsches Mitake-Schwert schnitzen?"
Yan Wushi lächelte nur. „Shen-Zhangjiao kennt mich gut.
Hier, dieses Brathähnchen gehört euch."
Von Anfang bis Ende hatte er seine Stärke nicht übermäßig
zur Schau gestellt, aber aus irgendeinem Grund hatten Ren Ying und seine
Geschwister immer noch eine instinktive Angst und Ehrfurcht vor ihm. Als sie
das hörten, sahen sie Shen Qiao an. Erst als Ren Ying ihn nicken sah, drehte er
sich vorsichtig um und bedankte sich mit leiser Stimme bei Yan Wushi, bevor er
ein Stück Brathähnchen in die Hand nahm.
Shen Qiao lehnte das Essen, das Ren Ying mit ihm teilen
wollte, höflich ab und bat die drei, sich an einen Ort zu begeben, an dem sie
sich wärmen konnten, während sie aßen.
„Egal, wie geschickt die Hände von Yan-Zongzhu sind, ein
einfacher Bambusstab kann niemals das wahre Mitake-Schwert werden. Was für eine
List hast du dieses Mal ausgeheckt?"
„Weißt du, woher der Name der Shinbu-Sekte stammt und warum
das Mitake-Schwert Mitake heißt?", fragte Yan Wushi, anstatt eine Antwort
zu geben.
„Es heißt, dass der erste Kaiser von Yamato Kaiser Jinmu
hieß, und die Shinbu-Sekte behauptet, dass sie seine direkten und legitimen
Nachkommen sind. Das muss der Grund für ihren Namensvetter sein. Was das Mitake-Schwert
betrifft, so hängt das wahrscheinlich mit ihrem Glauben an den Shintōismus zusammen."
„A-Qiao ist in der Tat ein Mann mit großem Wissen und
Können. Hier ist eine weitere Testfrage: Wie sieht das Mitake-Schwert aus?"
„Davon habe ich keine Ahnung. Hat Yan-Zongzhu es schon
einmal gesehen?"
„A-Qiao, wusstest du das nicht? Das Mitake-Schwert, das Asanos
Kohorte in ihrem Besitz hatte, war auch eine
Fälschung."
Natürlich hatte Shen Qiao das bemerkt.
Asano hatte Ren Ying mit dem Päckchen mit dem Mitake-Schwert
davonlaufen lassen, bevor er die Verfolgung aufnahm. Dies geschah sicher in der
Hoffnung, mit einer längeren Schnur einen größeren Fisch an Land zu ziehen.
Wäre das Schwert echt gewesen, hätte er es auf keinen Fall ertragen können, es
als Köder zu benutzen.
„Das echte Mitake-Schwert war nie in Asanos Händen. Dass sie
mit einem falschen Schwert auf dem Rücken herumlaufen, ist wahrscheinlich nur
eine Tarnung für die Leute mit dem echten Schwert." Yan Wushi nahm den
polierten und glänzenden Bambusstab und wickelte sie in Seide. Als er damit
spielte, sah es wirklich so aus, als könnte es das echte Schwert sein. „Wenn
ich die Nachricht verbreite, dass ich auf das echte Mitake-Schwert gestoßen
bin, was glaubst du, was die Leute tun werden, die davon erfahren?"
„Viele Leute werden es für wahr halten und alle möglichen
Techniken anwenden, alle möglichen Intrigen aushecken, um diesen Bambusstab von
dir zu bekommen.
Das Wort "Bambusstab" hatte er besonders
hervorgehoben.
Das Lächeln von Yan Wushi war voller Bosheit: „Dann werde
ich einen anderen Grund finden, damit dieser Gegenstand in Asanos Händen
landet, und die ganze Welt wird die Wahrheit erfahren. Dann wird er seinen
Namen nicht mehr reinwaschen können, selbst wenn er in den Gelben Fluss
springt.
Shen Qiao schwieg einen Moment lang: „Sie haben dich heute
beleidigt; ich vertraue darauf, dass sie in der Zukunft in Reue ertrinken
werden."
„Du warst heute Abend zufällig hier. Wäre das nicht der Fall
gewesen, hätte dieser Junge sein Leben verloren und seine Geschwister ihren
Schutz, und auch sie wären einer nach dem anderen gestorben. Kannst du in
diesem Wissen noch Mitleid mit dieser Bande haben?"
„Ich war noch nie in der Lage, dich zu übertrumpfen",
sagte Shen Qiao.
Yan Wushi lächelte strahlend. „Dann solltest du mir zuhören.
Die kalten Nächte sind lang, und ich habe den Wein bereits erwärmt. Nur wenn er
satt ist, hat unser Shen-Zhangjiao die Kraft, sich um die Menschen dieser Welt
zu kümmern."
Sein Tonfall war zwar spöttisch, aber wenn man genau hinhört,
war darin ein Hauch von Zureden zu hören, als ob er mit einem Kind sprechen
würde.
Shen Qiao sah zu, wie er einen Weinkrug hervorholte und den
Korken öffnete. Sofort strömte ihm der Duft des Weins in die Nase.
Shen Qiao nahm den Krug, neigte den Kopf zurück und nahm
einen großen Schluck. Seine Bewegungen schienen etwas eilig zu sein, und der
Wein tropfte aus seinen Lippenwinkeln, schlängelte sich seine Kehle und seinen
Adamsapfel hinunter. Als er den Blick wieder hob, sah er, dass Yan Wushi ihn
anschaute. Und obwohl ihre Beziehung schon alles andere als gewöhnlich war,
fühlte sich Shen Qiao immer noch ein wenig verlegen.
„Dieser Bambusstab ..."
Shen Qiao hatte bereits vage geahnt, was Yan Wushi vorhatte.
Es war nicht nur das, dass Yan Wushi Asano und seine Gruppe
unangenehm fand und seinem Frust Luft machen wollte. Dieser Mann hatte es schon
immer genossen, die Pläne anderer Leute zu durchkreuzen ‒ selbst wenn kein Wind
wehte, würde er immer noch einen Weg finden, Wellen zu schlagen. Und da die
Welt Anzeichen für ein latentes Chaos aufwies und sich die Szenen der Konfrontation,
zwischen der Nördlichen Zhou-Dynastie und dem Südlichen Chen-Dynastie bald
wiederholen würden, musste er sich zwangsläufig einmischen und die Situation
heimlich lenken, während er die Flammen anfachte, um von dem Chaos zu
profitieren.
Und bevor er feststellen konnte, was Yan Wushi tatsächlich
tun würde, beschloss Shen Qiao, seine Zeit abzuwarten, zu beobachten und zu warten.
Denn auch wenn der Mann, der als Yan-Zongzhu bekannt war,
manchmal böse Absichten hegte, bedeutete das nicht unbedingt, dass er auch böse
Dinge tun würde.
Er musste sich eingestehen, dass sein eigener Einblick in
den Zustand der Welt insgesamt immer noch hinter dem von Yan Wushi zurückblieb.
„Entweder ist der Wein nicht gut, oder ich bin zu hässlich",
sagte Yan Wushi, „Wie könnten deine Gedanken sonst in der Gegenwart meines ehrwürdigen
Ichs abschweifen?"
Unerwartet streckte sich eine Hand aus, die Shen Qiao
unvorbereitet an die Wange fasste.
Der große und erhabene Anführer der bedeutendsten daoistischen
Sekte der Welt, der so stabil wie der Berg Tai, rätselhaft und unergründlich
erschienen war, verschwand in einem Augenblick. Ein Wimpernschlag genügte, und
er verwandelte sich von kultiviert und gebildet in liebenswert und
anbetungswürdig.
Als Ren Ying das sah, war er so verblüfft, dass er sogar
vergaß, den Hühnerflügel in seiner Hand zu essen.
Erklärungen:
Yamato ist ein antiker Name
für Japan.
Shaojiu, 烧酒,
oder Baijiu, 白酒, „weißer (klarer) Schnaps“ ist ein farbloser chinesischer
Schnaps, der in der Regel aus fermentierter Sorghumhirse destilliert wird,
obwohl auch andere Getreidesorten verwendet werden können; einige
südostchinesische Stile verwenden Reis und Klebreis, während andere chinesische
Sorten Weizen, Gerste, Hirse oder Hiobstränen in ihren Maischerechnungen
verwenden können.
… in einem Stück sterben: Diese Art zu sterben, galt im frühen
China als besonders schlimm. Zudem deutete sie an, dass der Tote im Leben
besonders schwerwiegende Sünden begannen, hatte.
Diejenigen, die lange entzweit
waren, müssen vereint werden, und diejenigen, die lange vereint waren, müssen
entzweit werden, 天下大勢, 分久必合,
合久必分.
Die erste Zeile des historischen Romans „Die Geschichte der Drei Reiche“. Einem
berühmten chinesischen Roman, der von Luo Guanzhong im 14. Jahrhundert verfasst
wurde. Er gehört zu den vier klassischen Romanen der chinesischen Literatur und
schildert die turbulente Zeit der Drei Reiche.
Shintōismus wird als
schamanistisch inspirierte Urreligion Japans beschrieben. Der Weg der Götter,
wie Shintō (神道) übersetzt heißt, kennt dabei viele Kami (Gottheiten)
und ist eng mit Japans Geschichte verwoben. Der Shintōismus kennt weder eine
heilige Schrift noch gibt es eine jenseitsbezogene religiöse Vorstellung.
Allerdings spielt die Ahnenverehrung eine große Rolle.
Eine Kohorte kann
beispielsweise eine Gruppe von Menschen sein, die im gleichen Kalenderjahr
geboren wurde.
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Da hatte Ren Ying nochmals Glück gehabt. Er hatte einfach das Pech gehabt, das falsche zu stehlen. Wer hätte auch vermuten können, das darin ausgerechnet auch das Mitake Schwert drin ist, wenn auch ein gefälschtes. Aber er hatte Hunger und muss sich noch um seine zwei Geschwister kümmern, die so verhungert sind, das sie kaum noch Kraft haben. Asano sah in ihm eine leichte Beute, nur wurde er dann selber zur Beute, Und für ihn war das ein mehr als schlechter Tag. Und wirklich, Yan Wushi war außergewöhnlich ruhig und brav XD
AntwortenLöschenUnd auch später, als Shen Qiao mit Ren Ying ging um die anderen beiden Geschwister zu holen. Aber der Satz von ihm: „Entweder ist der Wein nicht gut, oder ich bin zu hässlich", sagte Yan Wushi, „Wie könnten deine Gedanken sonst in der Gegenwart meines ehrwürdigen Ichs abschweifen?"
XDD
Und Ren Ying sieht die Veränderung bei Shen Qiao und ist so verblüfft, das er sogar vergisst weiter zu essen XD
Leider haben Ren Ying die Umstände zum Diebstahl gebracht, aber ohne ihn, hätte er Shen Qiao und damit seinen Lebenswandel nicht getroffen. Also hat das ganze am Ende doch noch was Gutes.
LöschenDa hast du Recht, dank Yan Wushi hatten die Asano-Gruppe einen sehr schlechten Tag und müssen sich noch mit seinem Streich, einem weiteren gefälschten Mitake-Schwert herumschlagen. Aber für Yan Wushis Verhältnisse war er ja wirklich äußerst brav, gerade mal handzahm. Tja, die Jahre mit Shen Qiao haben ihn halt "weich" gemacht.
Yan Wushi lässt sich nicht stören oder daran behindern auch vor Kindern seinen Unsinn an Shen Qiao auszulassen und ihn zu ärgern, herrlich.