Kapitel 58

Selbst wenn einige Leute Yu Ais Identität vorher nicht bewusst waren, so war es nach dem, was er gerade gesagt hatte, fast unmöglich, dass sie ihn nicht erkannten.

Sie hatten Shen Qiao ohne Furcht verurteilt, weil sie dachten, dass er für den Xuandu-Berg nur ein ausrangierter Schüler war. Da er seine Kampfkünste und seinen Ruhm längst verloren hatte, stellte er keine Bedrohung für sie dar, und der Xuandu-Berg konnte ihn erst recht nicht beschützen. Sie hätten nie gedacht, dass Yu Ai eingreifen würde.

Nach seinem kurzen Schock legte Shen Qiao langsam sein Brötchen weg. Er verstand, was hier vor sich ging.

Ganz gleich, wie sehr er versagt hatte, er war immer noch vom Xuandu-Berg. Wenn andere ihn kritisierten, beschmutzten sie auch damit den Ruf des Xuandu-Berges, und das würde Yu Ai natürlich nicht dulden.

Aber wenn Yu Ai sich so sehr um den Ruf des Xuandu-Berges sorgte, war es dann nicht noch beschämender, mit den Kök-Türken zusammenzuarbeiten und von ihnen einen Titel zu erhalten?

Shen Qiao schüttelte innerlich den Kopf und verdrängte solche Gedanken aus seinem Kopf. Er hatte kein Interesse mehr daran, sich die Farce vor ihm anzusehen. Er wartete nur, bis sie sich satt getrunken und gegessen hatten, bevor sie gingen, dann konnte er aufstehen und selbst gehen.

Der Mann, dem Yu Ai die Zähne ausgeschlagen hatte, geriet in eine unkontrollierbare Wut. Er sagte etwas Unverständliches, dann ergriff er das Langschwert neben sich und sprang auf Yu Ai zu.

Aber Yu Ai steckte nicht einmal sein Schwert aus der Scheide. Nur mit dem verbliebenen Stäbchen in der Hand schlug er den anderen Mann zu Boden.

Der betreffende Mann hieß Ji Jin. Obwohl er den Beinamen "neunschwänziger göttlicher Fuchs" trug, nannten ihn die Leute hinter seinem Rücken "Großmaul Ji", weil er immer eine große Klappe hatte und andere beleidigte. Ji Jin war kein allzu schlechter Kampfkünstler ‒ nicht erstklassig, aber seine Fähigkeiten reichten aus, um zweitklassig zu sein. Normalerweise war er zurückhaltender und würde anderen nicht direkt ins Gesicht lästern, aber wer weiß, was er sich dieses Mal gedacht hatte. Irgendwie hatte er die offensichtliche Tatsache übersehen, dass der Sektenanführer des Xuandu-Berges selbst direkt vor ihm saß, und so hatte er es in einem Anfall von schrecklichem Unglück geschafft, sich selbst und seine gesamte Familie zu demütigen.

Sein Freund wagte es nicht, ihn vor Yu Ai zu verteidigen, er half Ji Jin nur auf und lächelte entschuldigend in Yu Ais Richtung. „Bitte verzeiht ihm, Yu-Zhangjao. Mein Bruder hat zu viel getrunken, und er hat wirklich beschämende Dinge gesagt!"

Yu Ai antwortete nicht. Sein Blick schweifte über den Mann hinweg und fiel auf den, der hinter ihm stand. „A-Qiao, es ist so lange her, und du willst nicht einmal ein Wort der Begrüßung sagen?"

Shen Qiao seufzte vor sich hin. Sie waren seit ihrer Kindheit zusammen aufgewachsen und kannten sich wie ihre eigene Westentasche. Selbst wenn er sein Gesicht verdeckte, würden sein Auftreten und seine Gestalt immer noch dieses Gefühl der Vertrautheit hervorrufen. Yu Ai war kein Idiot, er hatte schließlich erkannt, dass er es war.

Shen Qiao zog seine Kapuze herunter, und jemand in seiner Nähe sagte: „Es ist wirklich Shen Qiao!" Diese Stimme rief sofort eine Welle von leisen, schockierten Reaktionen.

Einige von ihnen fühlten sich ein wenig schuldig ‒ der Mann, über den sie gerade lautstark diskutiert hatten, saß direkt neben ihnen und hörte zu.

Was für ein Unglück war heute im Anmarsch? Sie sprachen von Chen Gong, und Chen Gong kam; jetzt sprachen sie von Shen Qiao, und Shen Qiao war auch hier. Würde Yan Wushi auch gleich auftauchen?

Einige von ihnen dachten das und konnten nicht anders, als zu zittern und sich umzuschauen.

„Es ist schon eine Weile her. Geht es Yu-Zhangjao gut?"

Da er bereits entdeckt worden war, machte sich Shen Qiao nicht mehr die Mühe, sich zu verstellen. Er nickte Yu Ai zu, seine Stimme war sanft, als wären sie nicht mehr als entfernte Bekannte, die sich nach vielen Jahren wiedersehen.

Für einen Moment schienen der Lärm und die Aufregung im Gasthaus wie die Flut zu verebben. Nur die Stimme von Shen Qiao blieb in seinen Ohren.

Er starrte Shen Qiao an, musterte ihn, als wolle er feststellen, ob es Shen Qiao wirklich gut ging. Es dauerte eine ganze Weile, bis er antwortete: „Du hast abgenommen."

Shen Qiao antwortete nicht auf seine Bemerkung. Er war nur hier, um Informationen zu sammeln ‒ jetzt, da er entdeckt worden war, hatte er keinen Grund mehr, weiter zu bleiben.

„Ich muss mich noch um einige wichtige Dinge kümmern, also werde ich zuerst gehen. Bitte genießt eure Mahlzeiten, Yu-Zhangjao und Gildemeister Dou."

Natürlich würde Yu Ai ihn nicht so einfach gehen lassen. Sein Fuß bewegte sich, und schon stand er vor Shen Qiao. „A-Qiao, komm mit mir zurück zum Xuandu Berg."

Shen Qiaos Gesichtsausdruck flackerte nicht einmal. „Sicherlich scherzt Yu-Zhangjao. Ich bin kein Schüler des Xuandu-Bergs mehr, warum sollte ich also dorthin zurückkehren?"

Yu Ai war leicht erzürnt. „Ich habe deinen Ausschluss nie angeordnet, also bist du immer noch ein Schüler des Xuandu-Berges. Willst du jetzt nicht einmal mehr Shizun anerkennen?"

Shen Qiao schüttelte den Kopf. „Ich glaube, Ihr irrt Euch in einem Punkt. Ich bin der Schüler von Qi Fengge. Daran wird sich nie etwas ändern, ganz gleich, was passiert. Aber du hast dich mit Kunye verbündet, um mich zu vergiften, hast mich auf dem Banbu-Gipfel gegen ihn verlieren lassen, hast dann die Gelegenheit genutzt, um mir den Posten des Sektenanführers zu stehlen ‒ und darüber hinaus hast du sogar begonnen, mit den Kök-Türken zusammenzuarbeiten. Seitdem ist der Xuandu-Berg nicht mehr der Xuandu-Berg, den ich kenne. Selbst wenn du meinen Ausschluss nicht anordnen würdest, würde ich mich nicht mehr als Schüler des Xuandu-Bergs anerkennen."

Shen Qiao hatte diese erschütternden und beunruhigenden Worte in einem milden und ruhigen Tonfall gesprochen, wodurch das, was er sagte, umso verworrener und schockierender wirkte.

Niemand hatte damals geahnt, dass hinter Shen Qiaos Sturz von der Klippe eine solche Geschichte steckte. Sie waren alle wie erstarrt und schwiegen. Als sie wieder zu sich kamen, brach sofort ein lautes Geschrei in der Halle aus.

Auch Yu Ai hatte nicht damit gerechnet, dass Shen Qiao hier, in aller Öffentlichkeit, die Einzelheiten ausplaudern würde. Sein Gesicht errötete sofort ‒ nicht aus Scham, sondern aus Empörung.

Natürlich hatte Shen Qiao keine Beweise. Selbst wenn er es gesagt hätte, könnte er Yu Ai nichts antun, aber Yu Ai fühlte sich trotzdem, als hätte man ihm die Kleider vom Leib gerissen und ihn nackt zurückgelassen.

Er zügelte seine Wut und sagte gleichmütig: „A-Qiao, komm mit mir zurück."

„Yu Ai, die Kök-Türken sind brutal und ehrgeizig", sagte Shen Qiao kühl. „Das weiß jeder. Doch für deine eigenen Aussichten und Interessen hast dich bereitwillig auf den Weg gemacht, um einen Tiger um sein Fell zu bitten. Du hast sogar den ganzen Xuandu-Berg auf dein Schiff gezwungen. Im Moment kann ich dich nicht aufhalten, aber das heißt nicht, dass ich dieses Ergebnis gutheiße oder mich mit dir in den Untergang stürze."

„Du..."

„Da es so weit gekommen ist und so viele Menschen hier sind, sollten wir sie bitten, unsere Zeugen zu sein. Als Qi Fengges Mantelschüler erkläre ich hiermit Folgendes: Von nun an bist du nicht mehr Qi Fengges Schüler. Wir werden unsere eigenen Wege gehen, unsere eigenen Brücken überqueren und nichts mehr miteinander zu tun haben!"

Shen Qiao stand an seinem Platz, sein Gesichtsausdruck war gleichgültig wie immer, als wäre er sich der gewaltigen Welle, die seine Worte auslösen würden, gar nicht bewusst. Obwohl kein Wind wehte flatterte seine daoistische Robe schwach unter seinem Mantel, eine mächtige Präsenz war um ihn herum, ohne jegliche Spur von Zorn. In diesem Moment trug sein hübsches Gesicht, das einst so sanft und harmlos gewesen war, eine Wildheit in sich, die es anderen unmöglich machte, ihn direkt anzuschauen. Er war wie ein Schwert, das in einer Kiste aufbewahrt wird ‒ selbst wenn es nicht gezückt ist, strahlt es bereits einen durchdringenden Glanz aus.

Yu Ai war schockiert und empört zugleich. „Wie kannst du es wagen! Shizun ist bereits gestorben! Wie kannst du nur so für ihn sprechen?!"

„Ich war der Einzige, der da war, als Shizun starb, und ich bin Shizuns einziger Mantelschüler", antwortete Shen Qiao. „Mein Wille ist sein Wille! Ich habe es bisher nur stillschweigend ertragen, weil ich nicht wollte, dass der Xuandu-Berg durch interne Streitigkeiten gespalten wird. Aber Ihr habt mich gedrängt und gedrängt, und Ihr habt sogar den Titel von den Kök-Türken angenommen! Da Ihr gegen Shizuns Lehren verstoßen habt, muss ich Euch natürlich in seinem Namen ausschließen!"

Selbst Buddhas kannten Zorn. Sein Gesicht hatte jede Spur von Sanftmut verloren ‒ sie wurde nun durch stürmische Wut ersetzt. „Yu Ai, hört mir zu. Ihr habt kein Recht, mich zu bestrafen, denn keiner der Vorfahren des Xuandu-Berges wird Euch jemals als Sektenanführer anerkennen! Ich hoffe, Ihr könnt beenden, was Ihr begonnen habt. Wenn Ihr hartnäckig an Euren Gewohnheiten festhaltet und nicht bereit seid, Buße zu tun, werde ich eines Tages zurückkehren, um Euch zu bestrafen!"

In der Halle herrschte Totenstille. Alle starrten Shen Qiao an, völlig unfähig, ihn mit dem Mann in Verbindung zu bringen, von dem es hieß, er habe sich freiwillig entehrt und sich mit dem Dämonenfürsten verbündet.

Als Shen Qiao fertig war, ging er ohne einen weiteren Blick zurück zum Eingang.

Yu Ai hörte auf zu zögern. Er griff nach Junzi Buqi und wollte ihn aufhalten, aber Shen Qiao war schneller ‒ die Umstehenden sahen nur einen schwarzen Blitz, der Yu Ais Schwert wegschlug. Bei näherem Hinsehen erkannten sie, dass Shen Qiao sein Schwert nicht einmal gezückt hatte.

In diesem Moment bewegte sich Dou Yanshan.

Zuerst wollte er diesen Familienstreit zwischen Sektengeschwistern nur als Zuschauer genießen. Doch als er sah, wie unentschlossen Yu Ais Schritte waren, das Zögern in seinem Herzen deutlich wurde, wusste Dou Yanshan, dass er wahrscheinlich nicht in der Lage sein würde, seinen Shixiong aufzuhalten. In dieser Situation hatte er also keine andere Wahl, als ihm zu helfen.

„Ich kenne Yu-Zhangjao noch nicht lange, aber ich weiß, dass er ein sentimentaler Mensch ist, der alte Freundschaften pflegt und nicht gewillt ist, mit Daozhang Shen hart ins Gericht zu gehen. Ich bitte Daozhang Shen, sich ein wenig zu beruhigen. Warum setzen wir uns nicht alle hin und führen ein langes Gespräch?"

Aber Shen Qiao machte keine Anstalten, gegen Dou Yanshan zu kämpfen. Stattdessen änderte sich sein Gang, und mit ‘Ein Regenbogen spannt sich über den Himmel‘ umkreiste er ihn und erreichte sofort den Ausgang des Gasthauses.

„A-Qiao, zwing mich nicht!", knurrte Yu Ai. Junzi Buqi war bereits gezogen worden.

Bevor Shen Qiao antworten konnte, kam eine spöttische Bemerkung von der Seite. „Wenige mit vielen bekämpfen, den Sieg durch Überzahl erringen. Habt ihr beide vor, mit Daozhang Shen das zu tun, was ihr mit Yan Wushi gemacht habt?"

Chen Gong, der die ganze Zeit über zugesehen hatte, stand nun endlich auf. Diese Angelegenheit hatte nichts mit ihm zu tun, aber aus irgendeinem Grund hatte er er sich eingemischt.

Dou Yanshan lachte. „Der Bezirksherzog Pengcheng hat gerade das Schwert Tai'e erhalten. Solltet Ihr nicht schnell zurückkehren und dem Herrn von Qi Bericht erstatten? Warum treibt Ihr Euch hier herum und mischt Euch in fremde Angelegenheiten ein?"

Die Worte "der Bezirksherzog Pengcheng" klangen aus seinem Mund wie ein subtiler Spott. Chen Gong war zwar ein neuer Adliger von Qi, aber er hatte nichts mit der Jianghu zu tun, weshalb die Liuhe-Gilde keinen Grund hatte, ihn ernst zu nehmen.

Chen Gong antwortete nicht auf die Worte von Dou Yanshan. Stattdessen schaute er Shen Qiao an und sagte freundlich: „Wenn Daozhang Shen Schwierigkeiten hat, sich zu entkommen, habe ich eine ganze Relaisstation innerhalb der Hauptstadt gemietet. Sie können mir dorthin folgen, um sich auszuruhen."

„Ich bin dem Bezirksherzog Pengcheng für seine Freundlichkeit zutiefst dankbar", sagte Shen Qiao, „aber dieser bescheidene Daoist muss Ihre Gastfreundschaft ablehnen." Mit diesen Worten reichte er ihm die Hand und machte sich auf um zu Gehen.

Yu Ai konnte ihn natürlich nicht so einfach gehen lassen. „Warte!", sagte er und streckte die Hand nach Shen Qiao aus.

Shen Qiao blickte nicht einmal zurück. Als wären ihm Augen am Hinterkopf gewachsen, glitt er ein paar Schritte vorwärts, leicht wie eine Feder, und drehte sich dann mit dem Schwert vor der Brust um, um Yu Ais ausgestreckte Hand abzuwehren. Er hatte wahres Qi in die Scheide kanalisiert ‒ Yu Ai spürte einen leichten Ruck und war gezwungen, ihn loszulassen.

Doch Yu Ai reagierte schnell. Mit der anderen Hand zog er Junzi Buqi, und sein Schwertlicht strömte hervor, lebhafte und anmutig. Es fegte auf Shen Qiaos Gesicht zu, und selbst Dou Yanshan war ein wenig schockiert, als er das sah. Er dachte sich, dass Yu Ai bei ihrem Überfall auf Yan Wushi wahrscheinlich nicht seine ganze Kraft eingesetzt hatte, dass er nur schwer verletzt aussah, obwohl er in Wahrheit gar nicht an der Spitze des Angriffs stehen wollte.

Wie dem auch sei, Yu Ai war fest entschlossen, Shen Qiao hierzubehalten. Da es dieses Mal, keinen Yan Wushi mehr gab, der ihn aufhalten konnte, wollte er ihn auf keinen Fall wieder entkommen lassen. Er wusste, dass das Gift Freudige Wiedervereinigung unvergleichlich stark war. So kränklich und schwach, wie Shen Qiao auf dem Xuandu-Berg gewesen war, war eine vollständige Genesung in so kurzer Zeit unmöglich.

Aber er hatte nicht erkannt, dass nach einer langen Trennung eine Neubewertung fällig war. Yu Ais Schwertlicht floss durch eine Vielzahl von Formen und senkte sich auf Shen Qiao herab, doch der Mann, den das Schwertlicht hätte einhüllen sollen, verschwand. Er tauchte hinter Yu Ai wieder auf, seine Beinarbeit war unbeschreiblich schnell und unheimlich, aber sein Schwert blieb wie zuvor in der Scheide. Stattdessen streckte er seine rechte Hand aus und tippte mit einem Finger auf den Schwertschild.

Wahres Qi strömte in den Schild, der sofort zerbrach, zu feinem Pulver zerfiel und in alle Richtungen verstreut wurde!

Eine Spur von Ungläubigkeit tauchte auf Yu Ais Gesicht auf. Die Spitze seines Schwertes bebte, dann wirbelte er es ein paar Dutzend Mal herum. Es bewegte sich auf Shen Qiao zu und kräuselte sich vor Licht.

Die juwelenbesetzten Strahlen durchdrangen den Himmel wie Licht, das sich über farbige Glasur ergießt, und sorgten für ein prächtiges unwirkliches Bild. Schillernd, prächtig und strahlend.

Dies waren die letzten Züge der Azurwellen-Schwerttechnik, aber in etwas veränderter Form. Natürlich war keiner der Schüler von Qi Fengge inkompetent, und Yu Ai hatte sie für sich selbst mehrfach abgeändert. An den meisten Tagen war er eisig und lächelte nur selten, aber er liebte es, diese Art von prächtigem, brillantem Schwertkampf anzuwenden. Selbst sein Schwertqi war von einer donnernden, brodelnden Bösartigkeit. Als es zusammen mit den Schwertlichtern auf ihn einprasselte, dröhnte ein gewaltiges Grollen in den Ohren aller Anwesenden. Selbst diejenigen, denen es an Kampfkunst mangelte, spürten, wie ihr Blut und ihr Qi in Wallung gerieten, und sie konnten nicht anders, als ein paar Schritte zurückzutreten.

Aber Shen Qiao wich nicht zurück.

Er wich tatsächlich nicht zurück!

Das widersprach allen Erwartungen, auch denen, die auf ihn herabgesehen und ihn für Yan Wushis Lustknabe und Untergebenen gehalten hatten.

Shen Qiao zückte schließlich sein Schwert!

Shanhe Tongbei blitzte auf wie Seide, sein Schwertqi stieg in den Himmel. Es breitete sich von Shen Qiao aus, reichhaltig und sanft, bis man nicht anders konnte, als sich in seiner wohligen Wärme zu ertränken. Doch viele waren noch von vorhin abgelenkt und bemerkten nicht, dass Shen Qiaos Schwert bereits vor ihm und zustieß.

Es dauerte überhaupt nicht lange ‒ alles geschah in einem Wimpernschlag. Beide Parteien befanden sich bereits in der Luft, ihre Schwertspitzen waren aufeinander gerichtet. Yu Ai bewegte sich blitzschnell, aber Shen Qiao war noch schneller ‒ er wurde eins mit seinem Schwert und verschwand dann plötzlich aus Yus Sicht.

In der Welt der Kampfkünste ist Geschwindigkeit alles!

Sofort erhob sich Yu Ais Wachsamkeit. Er drehte sich sofort um und schwang sein Schwert hinter sich, aber es war bereits zu spät. Shen Qiaos Schwertabsicht war nur noch Zentimeter entfernt, und es gab kein Entkommen mehr. Ihm blieb nur die Zeit, einen flüchtigen Blick auf das weiße Schwertlicht zu werfen, und sein Herz sank. Da ihm keine Zeit zum Nachdenken blieb, wich er mit einer noch nie da gewesenen Schnelligkeit zurück, wobei er sein ‘Ein Regenbogen spannt sich über den Himmel‘ bis zum Äußersten trieb. Seine gesamte Person löste sich in Luft auf und tauchte drei Meter entfernt wieder auf.

Shen Qiao hätte ihn verfolgen und einholen können ‒ seine weiße Schwertabsicht war bereits perfektioniert. Der nächste Schritt nach oben wäre das Erreichen des Schwertherzens. Selbst wenn er nur die Hälfte seiner inneren Energie besaß, war seine weiße Schwertabsicht mehr als genug, um viele zu verängstigen.

Aber Shen Qiao nutzte seinen Vorteil nicht aus, und Yu Ai blieb ebenfalls stehen. Die beiden starrten sich an, jeder in seinen eigenen Gefühlen versunken. Sie wussten beide, dass sie niemals in die Vergangenheit zurückkehren konnten.

Shen Qiao stand da, den Rücken kerzengerade, sein Schwert auf den Boden gerichtet. Er sagte streng: „Ihr solltet jetzt verstehen, dass, wenn wir kämpfen, weder Euer Sieg noch meine Niederlage garantiert sind. Hört auf, zu denken, dass ich Euch ausgeliefert bin, dass Ihr mich nach Belieben manipulieren könnt. Auch wenn ich nicht mehr der Sektenanführer des Xuandu-Bergs bin, bin ich immer noch Shen Qiao, der Schüler von Qi Fengge!"

Auf Yu Ais Gesicht zeigte sich ein komplizierter Ausdruck. „Yuan Ying und Hengbo vermissen dich sehr. Sie wünschen sich deine Rückkehr..."

„Yu Ai, nachdem Ihr mich mit Freudige Wiedervereinigung vergiftet habt, glaube ich Euch kein Wort mehr."

Yu Ais Miene verfinsterte sich. Etwas wogte in seinen Augen, als würden bald tosende Wellen kommen. „Ich habe mich damals geirrt. Aber von jetzt an werde ich dir nie wieder wehtun."

Shen Qiao schüttelte den Kopf. „Was hat es für einen Sinn, das jetzt zu sagen? Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden, was zerbrochen ist, kann nicht repariert werden, und keine Wiedergutmachung kann das zugefügte Unrecht wiedergutmachen. Was die Menschen als Wiedergutmachung bezeichnen, ist nur eine Möglichkeit, sich selbst und andere zu täuschen. Ich werde nicht auf den Xuandu-Berg zurückkehren, weil ich nicht will, dass der Xuandu-Berg von Streit zerrissen wird, und noch mehr, weil ich nicht will, dass die Bemühungen unserer Vorväter sich in Rauch auflösen. Da Ihr diesen Schritt bereits zusammen mit den Schülern des Xuandu-Berges getan habt, müsst Ihr Euch auf die Konsequenzen gefasst machen. Wenn der Tag kommt, an dem Ihr sie nicht mehr ertragen könnt, werde ich selbst zu Euch kommen."

Yu Ais Brust hob sich unregelmäßig. Nach einem langen Moment lachte er eisig und sagte: „Nun gut. Nun gut...

Als er diese Worte wiederholte, klang in seinem eisigen Tonfall ein Hauch von Verzweiflung mit, der aber schnell verblasste, als wäre er nur eine Illusion.

Ohne ein weiteres Wort steckte er sein Schwert zurück in die Scheide, drehte sich um und ging. Nicht ein einziges Mal warf er einen Blick auf Shen Qiao zurück.

Dou Yanshan rieb sich die Nase. Jetzt, da Yu Ai weg war, hatte er keinen Grund mehr, einzugreifen. Außerdem war er immer noch misstrauisch und ängstlich gegenüber Shen Qiaos Kampfkünsten, so dass er sich natürlich nicht allzu gerne in den Kampf stürzen wollte.

„Ich gratuliere Ihnen zur Wiedererlangung Ihrer Kampfkünste, Daozhang Shen", sagte er. „Als jemand, der mit Sektenanführer Yu befreundet ist, war ich verpflichtet, vorhin für ihn zu sprechen. Ich bitte Sie, mir das nicht übel zu nehmen.“

Der Grund, warum Dou Yanshan die größte Gilde im ganzen Land anführen konnte, war seine unglaubliche Gerissenheit. Es war nicht leicht, mit ihm fertig zu werden. Vorhin hatte er ohne zu zögern angegriffen, und jetzt hatte er sich sofort entschuldigt. Schnell und entschlossen, ein gerissener und furchterregender Mann bis zum Schluss.

Es war schwer, ein Lächeln aufzusetzen, und für jemanden mit Shen Qiaos Erziehung war es sogar noch unmöglicher. Er nickte und sagte: „Wir haben alle unsere eigenen Positionen, das verstehe ich. Gildemeister Dou ist zu großzügig."

Dou Yanshan sagte: „Zuvor hatte Daozhang Shen den Körper von Yan Wushi mitgenommen. Ich nehme an, der Mann wurde bereits beigesetzt? Es ist bedauerlich, dass ein Großmeister seiner Generation sein Leben außerhalb der Großen Mauer verlieren musste. Die Toten müssen vor allem verehrt werden, und für die Menschen in der Zentralebene ist ein Begräbnis in der Heimat sehr wichtig. Wenn Daozhang Shen nichts dagegen hat, ist die Liuhe-Gilde bereit, uns zu helfen. Wir können den Leichnam des Sektenanführers Yan zurück nach Chang'an bringen und ihn dann der Huanyue-Sekte."

Shen Qiao antwortete kühl: „Ich bin Gildeanführer Dou für seine Freundlichkeit dankbar. Der Leichnam wurde jedoch bereits beigesetzt; ihn noch einmal auszugraben, wäre ungünstig. Die Menschen in der Jianghu legen weniger Wert auf diese Bräuche, und da er zahllose Feinde hatte, hätte er mit einem solchen Ende schon rechnen müssen. Ich habe seine sterblichen Überreste nur aufgrund der kleinen Freundschaft, die wir in der Vergangenheit geteilt haben, geborgen."

Dou Yanshan versuchte, weiter nachzuforschen, aber Shen Qiaos Verteidigungsmaßnahmen waren wasserdicht. Es gab nicht die geringste Andeutung eines Lecks.

Shen Qiao schaute die Leute um sich herum an und sagte dann langsam: „Eure Münder gehören euch allein. Ihr könnt über mich sprechen, wie ihr wollt, ich werde mich nicht einmischen. Wenn ihr mit mir unzufrieden seid, braucht ihr nur zu mir zu kommen ‒ ich werde demütig warten. Aber wenn ich höre, dass jemand den Xuandu-Berg oder meinen Meister beleidigt, dann entschuldige bitte mein Schwert für seine Unbarmherzigkeit."

In dem Moment, als diese Worte fielen, blitzte ein weißes Licht in den Augen aller auf. Bevor sie reagieren konnten, fiel die Bambusbannerstange vor der Tür des Gasthauses in sechs sauberen Stücken zu Boden. Sogar das Transparent an der Spitze war durch das grelle Schwert zu feinem Pulver zermahlen worden.

Alle staunten, völlig verblüfft. Diejenigen, die ihn zuvor hinterrücks verunglimpft und verleumdet hatten, spürten, wie ihre Herzen zitterten.

Sie wussten sehr wohl, dass allein dieses Schwertlicht weit über das hinausging, was die meisten von ihnen jemals in ihrem Leben erreichen könnten, und es war offensichtlich, dass Shen Qiao dies als Warnung und Drohung verstand. Es war nicht nur für sie, sondern auch für Dou Yanshan.

Aber Dou Yanshan lächelte nur. Er schien sich vollkommen wohlzufühlen und klatschte sogar in die Hände. „Daozhang Shen muss seinen Schwertkampf bereits perfektioniert haben", rief er aus.

„Es ist nur ein kleiner Trick, nichts, womit man angeben könnte", sagte Shen Qiao. „Ich habe mich schon vor Gildeanführer Dou blamiert."

Wäre dies früher der Fall gewesen, hätte Shen Qiao mit seiner Veranlagung niemals seine Kampfkünste so zur Schau gestellt. Aber die Dinge hatten sich geändert: Manche Leute hörten nie auf die Vernunft und verstanden nur, wenn man mit der Faust sprach. Sie glaubten fest daran, dass der Starke der König sei; für sie war Freundlichkeit nichts anderes als eine Schwäche.

Nachdem er ein Jahr lang in der Jianghu herumgezogen war, hatte Shen Qiao endlich gelernt, mit verschiedenen Menschen mit verschiedenen Mitteln umzugehen.

Er bezahlte dem Kellner das beschädigte Transparent zusammen mit seinem Essen und wandte sich dann zum Verlassen des Gasthauses.

Natürlich wurde er diesmal von niemandem aufgehalten.

Da Dou Yanshan und Yu Ai hier waren, konnte Shen Qiao die Stadt nicht überstürzt verlassen, geschweige denn eine Apotheke aufsuchen, um Medizin zu kaufen, denn sonst hätte die andere Partei durch ihren Scharfsinn sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Also fand er ein anderes Gasthaus und tat so, als würde er sich dort niederlassen. Als die Nacht hereinbrach und die Ausgangssperre eintrat, verließ er schließlich lautlos die Stadt und lief in Richtung des Dorfes.

Die Bewegung, die er der Menge an diesem Tag vorgeführt hatte, war nicht mehr als eine leere Demonstration von Stärke. Er wusste besser als jeder andere, dass ein Kampf gegen Yu Ai mit seinen derzeitigen Fähigkeiten bereits zu viel des Guten war. Yu Ai hatte aufgrund seines schlechten Gewissens und des psychologischen Schlags, den er durch Shen Qiaos Worte erlitten hatte, keinen Verdacht geschöpft, aber Dou Yanshan war anders. Als Beobachter konnte er klar sehen und zweifelte wahrscheinlich immer noch an Shen Qiaos Kampfkünsten. In diesem Moment wartete im Dorf ein Mühlstein mit dem Nachnamen Yan auf ihn, also konnte sich Shen Qiao keinen Fehler leisten.

Der Mond stand bereits hoch am Himmel, als er im Dorf ankam, und sein sanftes Licht fiel auf den Fluss. Shen Qiao verlangsamte schließlich seine Schritte und ging auf Bannas Haus zu.

Das nächtliche Dorf war in eine unheimliche Stille gehüllt, die nur durch das gelegentliche Gebell von Hunden in der Ferne unterbrochen wurde.

Shen Qiao klopfte ein paar Mal leicht gegen das Hoftor. Sie ertönten deutlich im Dunkel der Nacht und waren laut genug, dass die Menschen im Inneren sie hören konnten.

Im Gebäude brannte noch eine Kerzenflamme, ein Beweis dafür, dass die Bewohner noch nicht geschlafen hatten.

Nach einem Moment hörte er Schritte, und das Hoftor öffnete sich. Das verängstigte Gesicht von Banna erschien am Eingang.

Shen Qiaos Augen funktionierten um diese Tageszeit nicht besonders gut, aber er war es gewohnt, blind zu sein. Er war schon lange in der Lage, die Emotionen einer Person an ihrem Atem, ihren Schritten und ihrem Tonfall zu erkennen, und sein Herz sank sofort ein wenig. „Ist etwas passiert?"

„Shen-Langjun, endlich seid Ihr zurückgekehrt!" Banna hielt sich die Brust. „Großvater ist nicht zu Hause, und ich hatte solche Angst, hier allein zu sein. Dieser... dieser... lebende Tote ist aufgewacht!"

 

 

 

Von der Autorin:

A-Qiao ist in diesem Kapitel wirklich aufgestiegen und sieht mehr und mehr wie ein Gong aus. Alter Yan, was hältst du davon?

Yan Wushi: Der Handlung nach bin ich im Moment nur ein lebender Leichnam. Ich kann nicht sprechen und ich kann keine Suppe essen. Ah ~~ [Er öffnet leicht den Mund].

Shen Qiao: ...

 

 

 

Erklärungen:

Der neunschwänzige göttliche Fuchs, 九尾狐, ist ein mythisches Fuchswesen, das aus der ostasiatischen Mythologie stammt. In der chinesischen, koreanischen und japanischen Folklore werden Füchse als Geister dargestellt, die über magische Kräfte verfügen. Diese Füchse werden oft als schelmische Wesen dargestellt, die in der Regel andere Menschen austricksen und sich als schöne Männer oder Frauen verkleiden können.





⇐Vorheriges Kapitel    Nächstes Kapitel⇒

GLOSSAR

2 Kommentare:

  1. also yu ai versucht es schon wieder mit gewalt in zurück zubekommen auch wenn er in verletzt. jetzt sogar noch mehr weil yan nicht dabei ist. aber shen zeigt im das er sich nicht zwingen lässt. der ander versucht natürlich herraus zu finden wo shen die leiche hin gebracht hat. jeder will etwas doch shen gibt sich keine blöse.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, Yu Ai ist und bleibt immer ein mieser Ar***loch. Boah, ich weiß einfach nicht was für ein Schicksal ich mir für ihn wünsche den Tod, Verstoßung (von der Sekte), das Gift "Freudige Wiedervereinigung" oder etwas ganz anderes. Ich bin sowieso sehr gespannt, was aus ihm am Ende werden wird, den ein solches asoziale Verhalten muss doch in irgendeiner Art und Weise Konsequenzen nach sich ziehen.
      Chen Gongs Wesen ist auch einfach nur widerlich.
      Tja, da muss der arme Shen Qiao sich durch etwas kämpfen und das nur, weil er jemanden beschützt den er gat nicht leiden kann. Fällt das schon unter Masochismus?
      Ich finde es auch nur richtig geil, wie hier Shen Qiao zeigt, dass er sich entwickelt hat und das es jetzt weit aus weniger Leute gibt die ihm das Wasser reichen können. Aber auch seine Redegewandtheit und beim Durschauen von Menschen hat er einiges dazugelernt. Also in dieser Beziehung hat Yan Wushi Einfluss auf Shen Qiao gehabt, zwar nicht so wie er es wollte aber immerhin.

      Löschen