Kapitel 41

Als sie bemerkte, dass Shen Qiao schwieg, drehte sich Bai Rong um und sah ihn an. „Shen-Lang, du hast es auch nicht gemerkt, oder?"

Shen Qiao schüttelte den Kopf, antwortete aber nicht.

Nach einem Moment drang Ruyan Kehuis Stimme aus der Ferne zu uns herüber und hallte laut genug, um die Schlucht zu erschüttern. Auch die Trommelfelle der Anwesenden wurden durchgeschüttelt.

„Es ist lange her, dass ich mich mit jemandem richtig duelliert habe", sagte er. „Heute gegen Sektenanführer Yan anzutreten, war eine wahre Freude. Ich bin zutiefst dankbar für die wunderbare Führung durch Sektenanführer Yan!"

„Wenn man sich zu lange in eine Ecke kauert, verliert man den Blick für die weite Welt", sagte Yan Wushi. „So wie ein Frosch im Brunnen oder ein Leopard im Käfig. Ihr seid so sehr daran gewöhnt, in der Südlichen Chen-Dynastie den Übermächtigen zu spielen, dass Ihr, Akademiemeister Ruyan, als Ihr endlich auf einen ebenbürtigen Gegner trefft, überrascht seid. Ich selbst kann das sehr gut nachvollziehen. Wenn Ihr noch ein paar Mal angeleitet werdet, wird die Überraschung nachlassen."

Wie immer, wenn Yan Wushi den Mund aufmachte, strömten sarkastische Kommentare heraus. Sie zu hören, war genug, um jeden Zuhörer mit den Zähnen knirschen zu lassen. Aber so, wie er auf der Felswand stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und mit tanzender Robe, mussten die versammelten Zuschauer einfach auch zu ihm aufschauen. Seine Errungenschaften und Kampfkünste, seine unglaubliche Kraft – vielen war klar, dass sie solche Höhen nie erreichen würden. Es lag in der menschlichen Natur, Menschen mit großer Kraft zu bewundern, und wenn jemand behauptete, er empfände keine Bewunderung für den egoistischen Huanyue Sektenanführer – der die Macht hatte, ein solches Ego zu rechtfertigen – dann würde er lügen.

Ruyan Kehui jedoch nahm das alles gelassen hin. Er lachte. „Na gut, dann werde ich eines Tages, wenn sich die Gelegenheit ergibt, persönlich Ihre Führung aufsuchen!"

An Ruyan Kehuis Stimme war nichts Ungewöhnliches, und auch Yan Wushi schien derselbe zu sein wie immer. Die Zuschauer waren verwirrt – sie konnten in den Worten der Kämpfer keine Anzeichen von Verletzungen erkennen. Die beiden hatten mehr als die Energie eines halben Tages verbraucht, aber keiner von ihnen war verletzt, und keiner von ihnen hatte gewonnen? Sie grübelten darüber nach.

Dieses einmalige Duell zwischen zwei Kampfkünstlern endete ernsthaft mit einem Unentschieden?

Einige von ihnen waren auch auf dem Banbu-Gipfel gewesen, wo sie gesehen hatten, wie Kunye Shen Qiao von der Klippe warf. Auch wenn der Sieg der Kök-Türken sie unglücklich machte und sie die Niederlage eines der ihren betrauerten, rechtfertigte ein intensiver Kampf ein solch intensives Ende. Das heutige Duell zwischen so großen Kämpfern wie Ruyan Kehui und Yan Wushi hätte auf einem noch höheren Niveau stattfinden müssen, doch es endete auf diese Weise. Sie konnten nicht anders, als es enttäuschend zu finden.

Aber weder Yan Wushi noch Ruyan Kehui hatten es nötig, anderen ihr Handeln zu erklären. Nach einem kurzen Wortwechsel schwebten sie von der Klippe hinunter. Der eine landete am Bach, der andere an einem felsigen Ufer nicht weit von Shen Qiao und Bai Rong.

Ruyan Kehui reichte Yan Wushi höflich die Hand. „Da Sektenanführer Yan von weit her gekommen ist, sollte ich meinen Teil als Gastgeber beitragen. Wie viele Tage gedenkt der Sektenanführer in Jiankang zu bleiben? Sagen Sie mir Bescheid, und ich kann veranlassen, dass die Linchuan-Akademie Ihnen eine Einladung zukommen lässt, damit Sie unser Gast sind."

„Nicht nötig", sagte Yan Wushi gleichgültig. „Ich kann das Wasser in eurer Linchuan-Akademie nicht vertragen – ich fürchte, ich werde mit einem Bauch voll von euren Doktrinen über Tugenden und Moral zurückkommen. Die sollten Sie sich aufheben, um hirnlose Männer und geistlose Frauen zu täuschen!"

Ruyan Kehui lächelte und drängte nicht auf eine Antwort. „Dann werde ich mich jetzt verabschieden!"

Mit einer Bewegung seiner Ärmel drehte er sich um und ging davon. Seine Schritte wirkten gewöhnlich, aber er legte große Entfernungen im Handumdrehen zurück. Es handelte sich um eine wahrhaft tiefgreifende Technik, und selbst schnelle Menschen konnten nur mit versteinerter Miene auf den Staub starren, den er hinterließ.

„Mit einem langen Seufzer wischte ich mir die Tränen ab, über das Leben der Menschen, die von Sorgen und Verzweiflung geplagt waren. Obwohl ich Selbstdisziplin und moralische Reinheit verehre, bringt mein morgendlicher Rat nichts als abendlichen Hohn hervor. Zuerst nahmen sie die Kahnorchidee an, die ich trage, dann geißelten sie meine Liebe, weil ich so schöne Orchideen pflückte. Für die Ideale, die ich in meinem Herzen verfolge, würde ich es nicht bereuen, tausendmal gestorben zu sein!"

Aus der Ferne ertönte Gesang – Ruyan Kehui rezitierte ‘Li Sao‘. Das Lied erklang in seinem südlichen Akzent und hallte durch das Tal, und die Trauer des Originals verwandelte sich in Tapferkeit und weckte die Lebensgeister aller Zuhörer.

Viele dachten, Ruyan Kehuis Fähigkeiten hätten durch den Kampf mit Yan Wushi überhaupt nicht gelitten.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte Dou Yanshan Yan Wushi vor allen Anwesenden herausgefordert, aber nachdem er ihren Kampf gesehen hatte, drehte er sich um und ging ohne ein Wort.

Ein paar Unruhestifter waren verärgert darüber, dass die Liuhe-Gilde alles dominierte, und einer von ihnen rief ihm nach. „Wollte Gildenanführer Dou nicht Sektenanführer Yan zu einem Duell herausfordern? Warum verlasst Ihr uns so schnell?"

Dou Yanshan blieb stehen, drehte sich um und warf dem Mann einen Blick zu, der ihm Schauer über den Rücken jagte.

„Der Drache, der Flüsse überquert, Li Yue. Vielleicht bin ich dem Sektenanführer Yan nicht ebenbürtig, aber ich bin mehr als genug, um mit Euch fertig zu werden. Glaubt Ihr mir?", sagte Dou Yanshan mit der Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht.

Li Yue hatte nicht damit gerechnet, dass Dou Yanshan ihn beim Namen nennen würde. Er wagte es nicht, noch etwas zu sagen, und machte sich schnell mit eingezogenem Schwanz davon.

Yan Wushi blickte der Silhouette von Ruyan Kehui nach, die in die Ferne glitt, und flog dann direkt zu den Bambuswipfeln des Bambuswaldes. Er nutzte die langen, schlanken Äste, um vorwärts zu springen, und landete schließlich auf der steilen Felswand, an der sie gekämpft hatten, und begann zu klettern, wobei seine Bewegungen so anmutig waren wie die eines Falken. Ein paar Atemzüge später war er bereits außer Sichtweite.

Da die Hauptfiguren nicht mehr da waren, hatte es keinen Sinn, noch länger zu verweilen. Einer nach dem anderen verließen die Zuschauer den Ort, jeder von ihnen dachte noch immer, dass es schade war, obwohl es schwer zu sagen war, ob der Grund für das Bedauern das Unentschieden war oder die Tatsache, dass sie wahrscheinlich nie wieder ein Duell dieses Kalibers erleben würden.

Vor dem Kampf hatten die meisten geglaubt, dass, egal wie stark Yan Wushi war, Ruyan Kehui immer noch eine Stufe über ihm stand. Denn während Yan Wushi zu den zehn Besten gehörte, rangierte Ruyan Kehui unter den ersten drei. Aber nach dem heutigen Tag würden sie es nicht mehr wagen, das zu sagen. Der Ruf von Yan Wushi würde sicherlich in neue Höhen steigen, und der Kampf würde bald zu einem heißen Thema werden. Wenn alles wie erwartet verlief, würde es der spektakulärste Kampf der Jianghu seit Jahren werden.

Irgendwann war Bai Rong, die neben Shen Qiao gestanden hatte, spurlos verschwunden.

Sie kam und ging wie ein Schatten – sogar ohne sich zu verabschieden.

Shen Qiao jagte ihr nicht hinterher und ging auch nicht den Weg zurück, den er genommen hatte. Stattdessen blinzelte er lange, als ob er etwas untersuchen wollte, und ging dann einen anderen kleinen Weg entlang.

Inzwischen hatte sich der Himmel vollständig verfinstert.

Die Bergwinde wurden nach Einbruch der Nacht immer kälter – obwohl es April war, hatte der Sommer noch nicht Einzug gehalten. Durch die Risse in den Wänden der Schlucht klagten und heulten die Stürme wie das Weinen von Geistern.

Der Gipfel dieses Berges ähnelte in gewisser Weise dem Banbu-Gipfel, auf dem Shen Qiao und Kunye ihren Kampf ausgetragen hatten. Er war nicht so hoch, aber es gab kaum Halt auf dem Gipfel, und der Boden dort war tückisch schmal. Nur ein paar wenige Bäume wuchsen dort. Ihre Äste raschelten im Nachtwind, zu dürr und dünn, als dass sich jemand daran anlehnen könnte, geschweige denn das sie einem Schutz vor den nächtlichen Winden bieten konnten.

Aber wenn man die Klippe überquerte und ein Stück auf der anderen Seite hinunterging, fand man ein versunkenes Loch, das eine Höhle bildete, groß genug, um drei oder vier Personen zu beherbergen. Mit einer Felswand im Rücken und einem steinernen Vorsprung über dem Kopf bot sie einen natürlichen Schutz vor dem Wind.

Und in dieser Höhle saß die Silhouette eines Mannes im Schneidersitz.

Als Li Yue eintrat, bewegte sich der Mann nicht, als wäre er tot. „Sektenanführer Yan?", fragte er neugierig.

Wenn jemand anderes ihn gehört hätte, wäre er bei dem Namen sicher erschrocken.

Yan Wushi und Ruyan Kehui waren offensichtlich schon lange vorher gegangen, warum also sollte Sektenanführer Yan in dieser Berghöhle wieder auftauchen?

Li Yue rief seinen Namen noch mehrere Male, aber Yan Wushi reagierte nicht.

Er wurde mutiger und schlich sich Schritt für Schritt näher, tastete in seinem Revers nach einer Fackel und zündete sie an. Er leuchtete mit dem Feuerschein auf die Stelle, an der Yan Wushi saß. Der Mann sah fast wie ein hoher Mönch aus, der in Selbstmumifizierung gestorben war, unbeweglich wie ein Felsen. Selbst das flackernde Fackellicht konnte ihn nicht dazu bringen, seine Augen zu öffnen.

Freude durchströmte Li Yues Herz. Er war so aufgeregt, dass sogar seine Hände unmerklich zu zittern begannen.

Er war nur ein zweitklassiger Kampfkünstler, aber er stammte aus einer langen Reihe von Wachtmeistern, und sein Urteilsvermögen war scharf. Von klein auf war er von seinem Vater und Großvater beeinflusst worden und hatte die Angewohnheit entwickelt, auch die kleinsten Details zu beobachten.

Alle waren der Meinung, dass Ruyan Kehui und Yan Wushi gleich stark waren, und bedauerten ihr Unentschieden für schade. Li Yue jedoch sah das anders.

Es war ein Kampf, der vom Tag bis in die Nacht gedauert hatte, und beide Seiten hatten, wenn schon nicht alles gegeben, so doch zumindest acht oder neun Zehntel davon. Es gab keinen Zweifel – dort, wo sie am heftigsten gekämpft hatten, waren die Steine des Gebirges zu Pulver zerschmettert worden, Felsbrocken, halb so groß wie Menschen, waren in Sekundenschnelle zu Schotter zersplittert, das Wasser des Flusses war vorübergehend umgekippt worden und die umliegenden Bäume in waren zwei Teile zerbrochen. Angesichts dieser enormen Kraft hatten die Zuschauer nicht einmal gewagt, mit ihrem inneren Qi zu blockieren. Hätten beide Kämpfer bei so viel zerstörerischer Kraft wirklich ohne einen Kratzer davonkommen können?

Selbst ein unvergleichlicher Experte wie Qi Fengge fand irgendwann den Tod. Eine gewisse Verletzungsgefahr bestand immer, solange es sich nicht um wahre Unsterbliche handelte, die völlig von der Welt abgekoppelt waren.

Obwohl Ruyan Kehui und Yan Wushi so taten, als sei nichts geschehen, sagte Li Yues Intuition ihm, dass die Schlussfolgerung nicht so einfach war.

Seine Kampfkünste würden niemals mit denen der beiden mithalten können, aber als die anderen gegangen waren, war er geblieben, um die Umgebung zu erkunden, und war sogar auf die Klippe geklettert, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. Während des Duells hatten die Kämpfer auf dem Gipfel eine kurze Pause eingelegt, und niemand wusste, was in dieser Zeit geschehen war. Einen halben Tag lang suchte Li Yue, aber am Ende fand er nichts. Er wollte gerade aufbrechen und dachte, dass er wieder einmal zu viel nachdachte, als er auf die Höhle stieß.

Und darin befand sich Yan Wushi.

Das war wirklich eine große Überraschung des Himmels. Li Yue versuchte, sich zu beruhigen, aber er konnte das Zittern in seinen Händen nicht unterdrücken, das seine Fackel erzittern ließ. Ihr Feuerschein schwankte unruhig in der Höhle und warf einen unerklärlichen, verräterischen Schatten über den Ort.

Er war sich sicher, dass Yan Wushi verletzt worden war und sich hier erholte. Wenn Yan Wushi nicht einmal bemerkte, dass Li Yue sich ihm näherte, musste es sich um keine leichte Wunde handeln.

Wenn ... Wenn er Yan Wushi töten und seinen Leichnam für alle sichtbar zur Schau stellen könnte, dann würde sein Name innerhalb einer Nacht im ganzen Land bekannt werden.

Dann wüsste jeder im Land, dass nicht der Meister der Linchuan-Akademie, Ruyan Kehui, den Dämonenfürsten getötet hatte, sondern der Drache, der Flüsse überquert, Li Yue selbst!

In seinem Überschwang dachte er nicht an die Probleme, die sich daraus ergeben würden. Wenn er zum Beispiel Yan Wushi wirklich tötete, wie würde er dann mit der Huanyue-Sekte umgehen, die mit Sicherheit hinter seinem Kopf her sein würde? Und wie sollte er der Welt weismachen, dass es einem zweitklassigen Kerl wie ihm gelungen war, den Yan Wushi zu töten, wenn es nicht einmal Ruyan Kehui geschafft hatte?

Aber Li Yue dachte an nichts von alledem – die Verlockung von Erfolg und Ruhm hatte ihn übermannt, und unwillkürlich zog er das Schwert an seiner Hüfte ...

Die Schwertspitze rückte Zentimeter für Zentimeter vor. Der Dämonenfürst, der vorhin noch so stolz und stark gewesen war, saß nun direkt vor ihm, tot für die Welt und ihm völlig ausgeliefert.

Im Rausch der Erregung verzog er das Gesicht.

Dann plötzlich erstarrte sein Gesicht.

Li Yue starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Bambusstock, der ohne Vorwarnung aufgetaucht war und seine Schwertspitze blockierte. Langsam und steif hob er den Kopf und starrte den Besitzer des Stocks an, der lautlos aufgetaucht war.

„Das Unglück anderer auszunutzen, ist nicht die Tat eines aufrechten Mannes. Wenn Ihr das tut, werden sich Eure Kampfkünste in Eurem ganzen Leben nicht einen Zentimeter weiterentwickeln", sagte Shen Qiao ruhig. „Geht."

„Was wisst Ihr schon?!", knurrte Li Yue. „Ich war fünfzehn, als ich der Jianghu betrat! Die Leute nannten mich auch talentiert, damals in meiner Jugend! Aber als ich fünfundzwanzig wurde, blieben meine Fortschritte in der Kampfkunst völlig aus. Wenn ich Yan Wushis Kopf nehme, wird mein Name sicherlich die Jianghu erschüttern!"

Shen Qiao schüttelte den Kopf. „Wenn Ihr ihn tötet, wird sich Eure Kampfkunst dann weiterentwickeln? Das ist nur der Neid, den die Schwachen gegenüber den Starken empfinden – wenn die Chance, Macht über sie zu erlangen, vor Euch baumelt, seid Ihr vor Aufregung ganz aus dem Häuschen. Gebt Euren inneren Dämonen nicht die Macht über Euch, sonst werden sich Eure Kampfkünste für den Rest deines Lebens nicht mehr verbessern.

Inzwischen war Li Yue richtig wütend. „Blinder Mann! Warum mischt Ihr Euch da ein?! Shen Qiao, glaubt nicht, dass Euch niemand erkennt! Jeder in der Jianghu weiß, dass Ihr mit Yan Wushi gemeinsame Sache gemacht habt. Sogar der Xuandu- Berg hat Euch von seinen Toren verbannt – Ihr habt jedes Gesicht für Qi Fengge verloren! Der Schüler des weltbesten Kampfkünstlers? Pah! Ihr seid nur ein Speichellecker, der seinen Körper an den Dämonenfürsten verkauft hat, um seine Gunst zu erhalten! Hat es Euch Spaß gemacht, ein Sklave zu sein?! Habt Ihr Angst, dass, wenn ich Yan Wushi töte, Euch niemand mehr beschützen wird? Wenn Ihr ein Mann seid, dann zeigt Rückgrat! Stützt Euch nicht nur auf andere Leute!"

Die Worte schürten nicht Shen Qiaos Wut. Seit seine Identität während des Kampfes gegen Duan Wenyang in der Su-Residenz aufgedeckt worden war, war in vielen Blicken, die ihm zugeworfen wurden, ein seltsames Licht getaucht worden. Auch wenn sie es vielleicht nicht laut aussprachen, so dachten sie doch tief im Inneren ähnlich wie Li Yue. Shen Qiao hatte schon viel Schlimmeres gehört.

Doch scharfe Worte waren nur Worte – solange man ihnen keine Beachtung schenkte, konnten sie einem nicht das Geringste anhaben.

Als er sah, dass Shen Qiao schwieg, dachte Li Yue, dass die Beleidigungen, die er ausgestoßen hatte, gewirkt hatten. Er lachte höhnisch. „Taoistischer Meister Shen, wenn Ihr mir aus dem Weg geht, dann können wir, nachdem ich Yan Wushi getötet habe, die Güter aufteilen, die er bei sich hat ..."

Während er sprach, stieß er mit seinem Schwert zu.

Das Licht des Schwertes blitzte auf, als es mit rasender Geschwindigkeit herausschoss – eine Bewegung, auf die Li Yue sehr stolz war. Es war stark genug, um Holz zu durchbohren, und traf Yan Wushis oberen Rücken.

Klirren!

Ein widerhallendes Geräusch ertönte. Die Klingenspitze stach nicht in Yan Wushi, sondern das gesamte Schwert wurde durch die Luft geschleudert. Es flog in einem Bogen durch die Luft, bevor es direkt auf den Boden klapperte.

Li Yue spürte nur einen stechenden Schmerz an seinem Handgelenk und schrie trotz seiner Selbstbeherrschung auf. Auch er reagierte schnell: Als er sah, wie der Bambusstock auf seine Taille zuflog, ging er in die Hocke, kippte mit dem Oberkörper nach hinten und wich dem Hieb des Stocks aus. Dann sprang er nach oben und griff nach dem Stock, während er Shen Qiao einen Tritt gegen die Leiste versetzte.

Doch Shen Qiao war bereits außer Reichweite und tauchte sofort wieder mit unglaublicher Geschwindigkeit hinter ihm auf. Li Yue hatte nicht einmal Zeit zu reagieren, bevor eine Handfläche in seinem Rücken ihn seitlich gegen die Steinwand schlug und ihn bewusstlos machte.

Dass er Shen Qiao unterschätzt hatte, war nicht die Schuld an Li Yues Niederlage – selbst wenn er es nicht getan hätte, hätte er heute verlieren müssen.

Die Nachricht vom Duell zwischen Shen Qiao und Duan Wenyang in der Su-Residenz hatte sich nie verbreitet, und die Leute, die gegen ihn verloren hatten, wie Bai Rong und Xiao Se, konnten unmöglich herumlaufen und ihre Niederlage verkünden. Viele Eindrücke von ihm waren also beim Kampf auf dem Banbu-Gipfel hängen geblieben – und dann kamen die unzähligen Gerüchte und das viele Hörensagen hinzu. Infolgedessen war die Meinung über Shen Qiao stark gesunken. Je mehr jemand vorher zu ihm aufgeschaut hatte, desto mehr sahen sie danach auf ihn herab. Über Nacht wurde Shen Qiaos Name mit dem von Yan Wushi in Verbindung gebracht, und obendrein war er nun ein Synonym für ‘obdachloser Hund‘.

Shen Qiao kümmerte sich nicht weiter um Li Yue, sondern ging einfach weiter auf Yan Wushi zu. Als er ihn berührte, durchdrang eine eisige Kälte die Haut seiner Handfläche und drang in sein Fleisch ein, die sich in seinen Gliedern und seinem Körper ausbreitete. Das Frösteln war so intensiv, dass er sofort losließ, aber es blieb noch lange an seiner Hand haften, bevor es allmählich nachließ.

Yan Wushis Körper war nicht nur fest und hart wie Eis, er schien auch praktisch leblos zu sein. Es war, als wären seine fünf Sinne völlig versiegelt – als ob er deshalb nichts von dem Gespräch zwischen Shen Qiao und Li Yue und dem Handgemenge mitbekommen hätte.

Shen Qiao dachte einen Moment lang nach, dann zog er Yan Wushis Hand aus dem Ärmel, um seinen Puls zu prüfen, während er die knochenbrechende Kälte aushielt.

Der Puls pochte noch immer, und der Atem strömte noch immer unter seiner Nase.  Aber die Meridiane schienen in Unordnung zu sein, als ob mehrere verschiedene Qi-Ströme in seinem Körper miteinander verflochten wären, aber gleichzeitig miteinander kollidierten, weil sie in Unordnung waren.

Mit anderen Worten: Yan Wushi zeigte Anzeichen einer Qi-Abweichung.

Je fortgeschrittener die Kampfkünste eines Menschen sind, desto länger ist der Weg, den er auf seinem Weg zur Spitze zurücklegt. Umso unvermeidlicher war es, dass sie auf dem Weg dorthin alle möglichen höheren Ziele fanden. Das bedeutete, dass sie weniger gewillt hatten, den Konventionen zu folgen, und so stieg auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie in eine Qi-Abweichung gerieten.

Unvergleichlich begabte Großmeister wie Qi Fengge, Cui Youwang und Hulugu hätten ein langes Leben führen und eines natürlichen Todes sterben können, wenn sie ein friedliches Leben gewählt hätten. Jeder von ihnen hätte leicht noch zehn Jahre leben können. Aber sie weigerten sich, ihr Studium der Kampfkunst zu unterbrechen, denn das wäre für sie eine Strafe gewesen, die schlimmer als der Tod wäre. Und nach dem Erreichen jeder neuen Stufe war der Versuch, den nächsten Schritt zu tun, gleichbedeutend mit dem Erklimmen des Himmels. Ein einziger Moment der Unachtsamkeit hätte sie leicht in eine Qi-Abweichung stürzen und ihr Leben gefährden können.

In Wahrheit hatte Shen Qiao das Dilemma von Yan Wushi schon vor langer Zeit entdeckt.

Der Unterschied zwischen dämonischen und taoistischen Kernen lag in ihren unterschiedlichen Wegen. Genau wie Himmel und Erde, Weiß und Schwarz, konnten sie sich niemals überschneiden. Selbst Cui Youwang, der ehemalige Spitzenkämpfer der dämonischen Sekten, hatte nie versucht, die beiden Kerne zu verbinden - niemand hatte das in den letzten Jahrtausenden versucht. Aber Yan Wushis Natur verlangte, dass er in seinem endlosen Streben nach Kampfkunst Dinge versuchte, die alle anderen für unmöglich hielten. So hatte er in den zehn Jahren seiner Abgeschiedenheit nicht nur alle in den Schriftrollen der Zhuyang-Strategie aufgezeichneten Kampfkünste zu Ende geübt, sondern auch das wahre Qi der Zhuyang-Strategie genutzt, um sich eine neue Grundlage zu schaffen: einen taoistischen Kern. Ganz gleich, wie mächtig ein Mensch war, sein Körper konnte nur einen Satz von Grundlagen beherbergen. Aber Yan Wushi strebte danach, sowohl einen dämonischen als auch einen taoistischen Kern in sich zu haben – einen taoistischen Kern zu formen, während er seinen dämonischen Kern behielt.

Das war natürlich unmöglich. Wie könnte jemand gleichzeitig einen dämonischen und einen taoistischen Kern in seinem Körper beherbergen? Aus diesem Grund gelang es Yan Wushi zehn Jahre lang nicht. Obwohl seine Fähigkeiten sprunghaft zunahmen und er bereits ein Kampfkünstler geworden war, der es mit Leuten wie Qi Fengge aufnehmen konnte, gelang es ihm nicht, diese Hürde zu überwinden. Stattdessen ließen seine Bemühungen eine lauernde Gefahr in ihm zurück. Normalerweise war sie nicht offensichtlich, aber während seines heutigen Kampfes mit Ruyan Kehui waren beide Seiten gezwungen, bis zum Äußersten zu gehen, und so wurde diese innere Gefahr an die Oberfläche gezerrt.

Shen Qiao runzelte tief die Stirn. Er versuchte, sein wahres Qi in den Körper von Yan Wushi zu schicken, aber es schien ihn zurückzuweisen. Und nicht nur das, es schlug mit einem Schwall eisigen Qi zurück, das sich in Shen Qiaos Körper ausbreitete. In einem Augenblick hatte es sich in allen seinen Meridianen ausgebreitet. Shen Qiao zuckte zusammen und war gezwungen, Yan Wushis Hand loszulassen, um sich auf sich selbst zu konzentrieren. Er setzte sich hin, um seine Atmung zu regulieren, und versuchte, den eisigen Qi-Ausbruch aufzulösen.

Der Mond war kalt und düster, die Berge waren still und leer. Immer wieder heulten Eulen und versetzten ihm einen Schock der Trostlosigkeit bis in die Knochen. Die angenehme Kühle des Frühsommers war nirgends zu finden.

Die Fackel von Li Yue war bereits ausgebrannt. Shen Qiao stand auf und ging auf den gefallenen Mann zu, in der Hoffnung, noch ein paar Fackeln an seinem Körper zu finden, die er anzünden und sich damit wärmen konnte.

„Shen-Lang, diese hier saß schon so lange draußen, und du hast sie nicht einmal hereingebeten! Du weißt gar nicht, wie man sich um eine Dame kümmert!" Das Geräusch des Jammerns drang an seine Ohren, und ein Gesicht erschien außerhalb der Höhle, das sowohl verärgert als auch erfreut aussah.

Shen Qiao war weder überrascht, noch antwortete er.

Mit einem strahlenden Lächeln bat sich Bai Rong selbst herein. „Ich habe so lange draußen gewartet, weil ich Angst hatte, dass Sektenanführer Yan aufwachen könnte. Shen-Lang lass uns ein Geschäft machen! Du wolltest Li Yue keine Chance geben, weil er zu hässlich ist. Warum gibst du mir dann nicht diese Chance?"

„Ich lehne ab", sagte Shen Qiao.

Bai Rong begann, ratlos, wie er reagieren sollte: „Diese hier ist noch nicht einmal fertig. Wie kannst du sie jetzt schon ablehnen?"

Shen Qiao tastete am Körper von Li Yue herum und fand zwei weitere Fackeln. Er zündete eine an und der Schein des Feuers erhellte sofort die halbe Höhle.

Bai Rong bewegte sich leicht und war im Nu wieder an der Seite von Yan Wushi. Sie hob eine Handfläche hoch und zielte damit auf seinen Kopf, aber sie wurde von Shen Qiao abgewehrt, der irgendwie auch dort aufgetaucht war. Schnell tauschten sie in der engen Höhle Dutzende von Schlägen aus. Die Hehuan-Sekte war berühmt für ihre Zaubertechniken und ihre duale Kultivierung, aber ihre Kampffähigkeiten standen denen der Huanyue- und Fajing-Sekte in nichts nach. Obwohl sie noch jung war, beherrschte Bai Rong die Kampfkünste bereits auf spektakuläre Weise. Sie benutzte Sang Jingxings Fußtechniken ‘Sechzehn Schritte vom Himmel bis zum Abgrund‘ in Verbindung mit ihren Handflächentechniken, womit die Variationen ihrer Bewegungen endlos und unvorhersehbar wurden und es fast unmöglich war, sich dagegen zu verteidigen.

Sie wusste, dass sie Shen Qiao nicht allein bezwingen konnte, also griff sie präventiv an, um die Sache schnell zu beenden. In nur einem Wimpernschlag führte sie mehr als zehn Handflächenschläge aus. In Kombination mit ihrer ständig wechselnden, unberechenbaren Beinarbeit war es, als würde sie Shen Qiao aus allen Richtungen gleichzeitig angreifen. Sie kicherte sogar, als sie angriff. „Shen-Lang, du bist so schlau! Als wir das letzte Mal gekämpft haben, hast du Yan Wushis Quellwasser-Fingertechnik nachgeahmt und mir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Jetzt, wo ich dich durchschaut habe, kannst du mir keine Angst mehr einjagen!"

Shen Qiao schwieg. Mit seinen derzeitigen Kampffähigkeiten war er Bai Rong gerade so ebenbürtig. Das bedeutete, dass unter normalen Umständen keiner der beiden dem anderen etwas anhaben konnte und dass Bai Rong vielleicht sogar ein klein wenig stärker war. Bei ihrem letzten Zusammentreffen hatte Bai Rong aus Angst vor seinem Fingerangriff eine Lücke dagelassen, die er ausnutzen konnte, aber es würde kein zweites Mal geben – Bai Rong war klug und hatte es besser gelernt.

Sie mochte lächeln und sanftmütig sein, wenn sie mit Shen Qiao sprach, aber wenn es an der Zeit war, zu handeln, zeigte sie kein bisschen Gnade.

Bai Rong hatte eine Zeit lang von außen zugesehen, weil sie nicht erkennen konnte, ob Yan Wushi wirklich in die Qi-Abweichung eingetreten war. Aber dank des Aufruhrs, den Li Yue verursacht hatte, konnte sie ihren Verdacht bestätigen.

Und nun, da sie Yan Wushi töten wollte, war Shen Qiao ihr größtes Hindernis.

„Shen-Lang, hast du kein Mitleid mit meiner Situation in der Hehuan-Sekte? Wenn ich Yan Wushi töte, habe ich einen großen Feind für sie beseitigt, und von da an wird es niemand in der Hehuan-Sekte mehr wagen, auf mich herabzusehen. Diese hier braucht dich nicht dafür. Du brauchst nichts zu tun, du kannst einfach nur zusehen. Das ist einfacher, als einen Finger zu rühren, und doch willst du diese eine kleine Sache nicht tun?"

Bai Rongs wässrige Augen verrieten einen ernsten und flehenden Ausdruck, doch die Bewegung ihrer Hände verlangsamte sich nicht im Geringsten.

„Shen-Lang, war Yan Wushi wirklich nett zu dir? Er mag dich zwar gerettet haben, aber er sieht dich nur als sein Spielzeug – eine Möglichkeit, seinem kleinen Hobby zu frönen, sich mit Menschen anzulegen. Du bist von Natur aus sanftmütig, deshalb zahlst du jede Freundlichkeit, die du erfährst, zehnfach zurück. Aber wenn er wirklich nett zu dir war, warum lässt er dich dann immer wieder allein und in Gefahrsituationen zurück? Es kann doch nicht sein, dass du dich wirklich in den Dämonenfürsten verliebt hast, oder?

„Wenn du mich Yan Wushi töten lässt, werde ich alles tun, was ich kann, um dir zu helfen, deine Kampfkünste wiederzuerlangen und deine Position als Sektenanführer des Xuandu-Bergs wiederzuerlangen. Ist es nicht hundertmal besser, die Macht in den eigenen Händen zu halten, als von anderen abhängig zu sein?"

 

 

 

Erklärungen:

Li Sao ist ein berühmtes altes chinesisches Gedicht, das gewöhnlich Qu Yuan zugeschrieben wird und aus der Zeit der Streitenden Staaten stammt.

…Selbstmumifizierung gestorben: 坐化. Bezieht sich auf die Praxis der buddhistischen Mönche, die sich bis zum Tod der Askese unterwerfen. Der Körper des Mönchs beginnt schon zu Lebzeiten zu mumifizieren, und schließlich verstirbt er in sitzender Position.

Qi-Abweichung, 走火入魔. Bezieht sich auf eine Situation, in der die Kultivierung in einen gefährlichen, stark schwankenden Zustand gerät. Sie schadet dem Körper stark und kann sogar tödlich sein.



⇐Vorheriges Kapitel    Nächstes Kapitel⇒

GLOSSAR

7 Kommentare:

  1. Spannendes Kapitel
    der Schluss erst, ne Qi - Abweichung is aber auch mega böse, wie Shen Qiao es schafft Bai Rong zu vertreiben und Yan Wushi zu helfen ? Und ob er sich mittlerweile schon in Yan Wushi verliebt hat ? wäre nice. Oder ob er ihm wirklich nur hilft weil Yan Wushi ihm geholfen hat. Fragen über fragen.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Nein, ich bin mir da ziemlich sicher, dass sich Yan Wushi sich noch nicht in Shen Qiao verliebt hat. In einem späteren Kapitel gibt es leichte Anzeichen und noch etwas später ist es recht eindeutig, ab wann er Shen Qiao anders behandelt.
      Shen Qiao hilft Yan Wushi wirklich in diesem Moment nur um seine Schuld zu begleichen, seine Gefühle für Yan Wushi entwickeln sich erst später und erst später nach Yan Wuhsi.

      Löschen
    2. ah :D da bin ich ja mal gespannt wie das sein wird und ab wann XD argh da wird man ja ganz hippelig

      Löschen
    3. Das kann aber dauern. So ungefähr bei Kapitel 79, müsste Shen Qiao seine Gefühle für Yan Wushi entwickeln. Bei Yan Wushi selbst passiert das etwas früher. Also wird das leider erst etwas sein, dass du erst (vorraussichtloch) gegen Ende des Jahres (Oktober/November) lesen wirst.

      Löschen
    4. ufff so lange OoO aber dann freut man sich erst recht :D man kennt es ja eh das Jahr is schneller vorbei als man gucken kann :D Bin schon sehr gespannt wie die beiden es mit bekommen :3

      Löschen
  2. der kampf war sicher sehr spannend. aber das yan eine qi-abweichung hat ist schon interressant. aber shen beschützt in vor dem einen und auch vor bai. bin gespannt was jetzt wirklich stimmt weil er im geholfen hat oder doch das eine das er verliebt ist. freu mich wenns weiter geht.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Shen Qiao beschützt halt Yan Wushi auch, wenn es am Ende eher sinnlos war. Ich glaube auch wenn Shen Qiao dies gewusst hätte, hätte er Yan Wushi trotzdem beschützt.
      Shen Qiao hat sich jetzt noch nicht in ihn verliebt und Yan Wushi auch nicht ihn Shen Qiao. Das kommt erst (viel) später. Aber eines steht fest und zwar dass sich Yan Wushi seiner Gefühle gegenüber Shen Qiso eher bewusst ist oder dass seine sich früher entwickelt haben.

      Löschen