Es gab vier Stufen des Schwertes: Schwertqi, Schwertabsicht, Schwertherz und Schwergeist.
Wenn Laien das Schwertqi selbst sahen, war das nur die
erste Stufe, wenn es darum ging, die Stufen des Schwertes zu betreten.
Natürlich konnte nicht jeder die erste Stufe des Schwertqis
erreichen. Manche Menschen verbrachten ihr ganzes Leben mit dem Versuch und
schafften es dennoch nicht, das Tor zu durchschreiten, da sie nicht in der Lage
waren, den Weg hinein zu erahnen. Und noch mehr Menschen verließen sich auf
feste Bewegungen, um ihre Feinde zu besiegen. Nur durch Yan Wushis
unnachgiebigen Druck, der Shen Qiao an die Schwelle des Todes brachte, war es
Shen Qiao selbst möglich, sich am sicheren Untergang vorbei zu kämpfen und wieder
Einblick in die Schwertabsicht zu bekommen.
Und doch hatte Li Qingyu es geschafft, die Stufe der
Schwertabsicht in einem so jungen Alter zu erreichen. Die Unermesslichkeit
seiner Kampfkunst war offensichtlich.
Aber da er die Schwertabsicht erst vor wenigen Augenblicken
durchbrochen hatte, war er damit noch nicht vertraut. Hätte er sie damals im
Xuandu-Berg durchgebrochen, hätte er vielleicht nicht um einen halben Schritt
gegen Yu Ai verloren.
Alles in allem sahen alle Li Qingyu mit neuen Augen an, als
die Worte ‘Schwertabsicht‘ ausgesprochen wurden.
Yi Pichen war bereits einer der zehn besten Kultivierer der
Welt, und jetzt war da auch noch Li Qingyu. Es sah so aus, als sei der Aufstieg
des Chunyang-Klosters unaufhaltsam.
Duan Wengyan gab sich nicht mit der Niederlage ab. Auch
wenn er nicht sofort erkennen konnte, welches der ‘Nachbilder‘ der wahre Li
Qingyu war, entschied er sich nicht dafür, sie auszusortieren. Stattdessen
schlug er mit seiner Peitsche auf den Boden und nutzte die daraus resultierende
Kraft, um hoch in die Luft zu einem Ast über ihm zu springen. Seine Peitsche schlang
sich um den Ast, während er mit der Fußspitze absprang und sich auf Li Qingyu
zustürzte. Der dichte Schleier des schwarzen Schattens, den seine krachende
Peitsche hinterließ, hüllte die Nachbilder vollständig ein!
Bevor er Li Qingyu erreichte, verschluckten sein wahres Qi
und die Masse der schwarzen Schatten alles. Unabhängig davon, welches Nachbild
das wahre war, musste Li Qingyu das von Duan Wenyang errichtete Bollwerk
gewaltsam durchbrechen, um wieder in die Offensive zu gelangen.
Duan Wenyangs wahres Qi und seine innere Kultivierung
entsprachen genau dem Eindruck, den er auf andere machte: eigensinnig und
sorglos, aber auch stark und gebieterisch. Es schien überall gleichzeitig zu
sein, aber es war auch wie ein Abgrund aus purem Eis, unbeweglich fest, oder
wie eine Antilope, die hoch in die Luft sprang und keine Spuren hinterlässt. Es
gab keinen Ort, in den er nicht eindringen konnte, und keine Methode, die sich
ihm entgegenstellen konnte.
Sein wahres Qi riss die Blätter des Hofes von den Zweigen
und zog sie in einen Strudel, der die beiden Kämpfer umgab und sie völlig
einhüllte, so dass die anderen nicht mehr sehen konnten, wie der Kampf verlief.
Es war unmöglich, zu sagen, welche Emotionen die beiden
jetzt hatten, aber die Zuschauer waren unglaublich ängstlich.
Die Mitglieder des Chunyang Klosters wussten, dass Li
Qingyu kein leichtes Ziel war, aber sie fürchteten dennoch, dass etwas
Unvorhergesehenes passieren könnte. Vor allem Su Qiao, der selbst gegen Duan
Wenyang gekämpft hatte, kannte die Macht von Duan Wenyang besser als er. Ob
sein Shidi diesen Kampf gewinnen konnte oder nicht, war noch ungewiss.
Wenn Duan Wenyang Li Qingyu besiegen würde, war es
unwahrscheinlich, dass es jemand anderes mit ihm aufnehmen konnte. Wenn das
geschah, war es nicht das Hauptproblem, ob Duan Wenyang Su Wei's Cousine und
ihren Mann ausschalten konnte oder nicht - sobald die Nachricht die Runde
machte, würde das Ansehen der Kök-Türken weiter Steigen und das der
Zentralebene schwinden. Dies war wahrscheinlich auch der Grund, warum Duan
Wenyang sich entschlossen hatte, heute einen Angriff zu starten.
Gerade als Su Wei in Gedanken versunken war, erstarrten die
Blätter, die um die beiden Kämpfer herumwirbelten, und fielen eines nach dem
anderen zu Boden.
Die beiden standen sich Auge in Auge gegenüber. Li Qingyu
stand immer noch da, wo er vorher gestanden hatte, aber das Schwert, das er in
der Hand gehalten hatte, lag ein Stück entfernt, während Duan Wenyangs Peitsche
immer noch fest in seiner Hand lag.
Ihr Teint war unauffällig, und es gab keine sichtbaren
Anzeichen von Verletzungen bei beiden. Li Qingyus Gesichtsausdruck war
ausdruckslos, Duan Wenyang sah genauso aus wie zuvor.
Als die Menge dies sah, war sie etwas verwirrt.
Dann stieß Duan Wenyang ein übermütiges Lachen aus und
spuckte zuerst. „Li-Gongzis Ruhm ist in der Tat wohlverdient, seine Erfolge
werden sicherlich grenzenlos sein. Dieser Duan gesteht seine Niederlage
bereitwillig ein!"
Li Qingyu seufzte langsam: „Meine Fähigkeiten sind
minderwertig. Es gibt nichts, was ich dazu sagen kann."
Als sie das hörten, waren alle fassungslos. Sie sahen Duan
Wenyang an und blickten dann wieder zu Li Qingyu.
Einer der beiden räumte seine Niederlage ein, während der
andere sagte, dass seine Fähigkeiten unterlegen seien. Wer genau hatte gewonnen
und wer hatte verloren?
Duan Wenyang lachte. „Ich kam eigentlich wegen Yuan Xiongs
Familie hierher und hätte nie gedacht, dass ich die Chance bekommen würde, mit
dem renommiertesten aufstrebenden Nachwuchstalent der Gegenwart zu kämpfen. Wenigstens
war dieses Mal meine Reise nicht umsonst!"
Xie Xiang mischte sich ein: „Wenn Duan-Xiong noch
weitermachen möchte, ist die Linchuan Akademie bereit, auch Euch zu
beschäftigen."
Duan Wenyang sah sich um, dann verschränkte er die Hände
hinter dem Rücken. „Und was kann die Linchuan Akademie tun?", fragte er
unwillkürlich. „Ihr könnt mich nicht besiegen - lasst stattdessen Ruyan Kehui
selbst kommen. Ich habe gehört, dass sich hier viele große Helden versammelt
haben: Die Linchuan Akademie, das Chunyang Kloster, die Liuhe Gilde, alle
berühmt und bewundert, ich habe ihnen einen offiziellen Besuch abgestattet,
aber es scheint, dass ihr Ruhm unverdient ist, und die Gerüchte voller Übertreibung.
Von allen, die heute hier sind, ist nur Li-Gongzi würdig, mein Gegner zu sein.
Der Rest ist nur Mittelmaß.“
Dann hielt er inne, bevor er fortfuhr: „Ah, das hätte ich
fast vergessen. Es gibt auch noch einen anderen, aber das war, bevor Ihr gegen
meinen Shidi verloren habt. Der jetzige Shen Qiao ist nur ein zahnloser Tiger.
Ihr Leute von der Zentralebene habt ein Sprichwort ... so etwas wie 'sogar
Hunde können einen Tiger in den Ebenen herumschubsen'. In Eurem Zustand könnt
Ihr nicht zum Xuandu Berg zurückkehren und seid gezwungen, Euch auf den Schutz
von Sektenanführer Yan zu verlassen. Ihr seid nicht einmal ein streunender
Hund! Wenn ich an Eurer Stelle wäre, hätte ich mich schon längst aus Scham
umgebracht. Wie könnt Ihr noch das Gesicht haben, um in dieser Welt zu leben?"
Obwohl er lächelte, war sein Blick, als er Shen Qiao ansah,
unvergleichlich kalt und gleichgültig.
Es war ganz offensichtlich, dass Shen Qiao in seinen Augen
kein potenzieller Gegner mehr war, sondern ein unbedeutender Passant oder sogar
Abschaum.
Puliuru Jian fühlte, dass er diese Art von öffentlicher
Züchtigung nicht hätte ertragen können, wenn er derjenige gewesen wäre, der sie
erleiden musste. Aber Shen Qiao stand nur da, mürrisch und fügsam, Kopf und
Wimpern gesenkt. Es war, als hätte er nichts gehört oder als wäre er im Stehen
eingeschlafen. Dieses Maß an Nachsicht und Zurückhaltung rief zwar Bewunderung,
aber auch Verachtung hervor.
Xie Xiang konnte den Spott von Duan Wenyang über Shen Qiao
gelassen hinnehmen, aber nicht, dass er die Lichuan Akademie als wertlos
bezeichnete. Er konnte nicht so tun, als ob er nicht gehört hätte, wie Duan
Wenyang gesprochen hatte, als ob nur das Chunyang Kloster würdig genug wäre,
sein Gegner zu sein, und alle anderen völlig unter seiner Würde wären. Er stieß
ein spöttisches Lachen aus, das kurz vor dem Ausbruch stand.
„Duan Wenyang", sagte Su Wei. „Ihr habt das
Geburtstagsbankett meiner Mutter als Euer persönliches Trainingsgelände
benutzt. Ihr habt schon mehr als genug Unordnung gemacht. Da Ihr als
Repräsentant der Kaiserin gekommen seid, muss ich Seiner Majestät berichten,
was heute geschehen ist, damit er sich mit Euch befassen kann. Ich fordere Euch
auf, diesen Ort sofort zu verlassen!"
Duan Wenyang lachte. „Ich habe heute den Rat von Li-Gongzi
mit seiner Schwertabsicht erhalten, also bin ich zufrieden. Ich hatte ohnehin
vor, den Ort zu verlassen, mit oder ohne den Befehl des Herzogs des Bezirks
Meiyang. Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Euch!"
Mit diesen Worten drehte er sich um, um zu gehen, und Xie
Xiang konnte es nicht länger aushalten. „Halt! Xie Xiang von der Linchuan
Akademie bittet um Duan-Xiongs Beratung!"
Bevor er zu Ende gesprochen hatte, hatte sein Schwert die
Scheide verlassen. Sein Körper verwandelte sich in einen schwingenden Bogen und
er flog auf Duan Wenyang zu.
Aber es schien, als hätte Duan Wenyang diese Bewegung
vorausgesehen. Ohne auch nur den Kopf zu drehen, katapultierte er sich mit
einem Fußtritt nach oben und blieb auf dem Dach stehen. Dann verschwand er
vollständig und ließ nur eine lange Kette von Gelächter zurück. „Ich verstehe,
dass Xie-Langjun mich benutzen will, um Ruhm zu erlangen, aber bitte
entschuldigt, dass ich nicht gewartet habe, um Euch Gesellschaft zu leisten",
sagte er. „Lass uns das machen, bis Ihr auch die Schwertabsicht erreicht habt,
ha ha!"
Ohne ein Ziel konnte Xie Xiang nur sein Schwert in die
Scheide stecken, sich wieder auf den Boden begeben und hasserfüllt in die
Richtung blicken, in die Duan Wenyang verschwunden war.
Von der Seite rief eine Person alarmiert: „Li-Gongzi, geht
es Euch Gut?"
Alle drehten eilig ihre Köpfe in Richtung der Stimme, die
sie hörten. Li Qingyu hatte ein Taschentuch herausgezogen, das bereits mit
einem Mund voll blutigem Schaum besudelt war. Er schüttelte den Kopf und sagte:
„Es geht mir gut. Ich habe einige kleinere innere Verletzungen erlitten. Ein
paar Tage Erholungszeit reichen aus."
Erst jetzt verstanden alle anderen, was er mit ‘meine
Fähigkeiten waren minderwertig‘ gemeint hatte. Aber wenn jemand wie Li Qingyu,
der die Schwertabsicht erreicht hatte, ihm nicht ebenbürtig war, wie furchteinflößend
waren dann Duan Wenyangs Kampffähigkeiten? Könnte er die Wiedergeburt von
Hulugu sein?
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf sahen sie sich
gegenseitig hilflos und entsetzt an.
Auch Xie Xiangs Herz fühlte mit.
Er hatte sich selbst für talentiert gehalten - die Gegner,
denen er auf seinen jahrelangen Reisen durch die Jianghu begegnet war, hatten
ihm eine Illusion vermittelt, eine, die ihn glauben ließ, dass er, auch wenn er
es noch nicht unter die zehn Besten schaffte, nicht weit davon entfernt war.
Doch plötzlich waren diese Experten aufgetaucht, einer nach dem anderen, zuerst
Li Qingyu, der bereits die ‘Schwertabsicht‘ erreicht hatte, dann Duan Wenyang,
der noch stärker war als Li Qingyu. Einst hatte Xie Xiang geglaubt, er sei zu
allem in der Jianghu fähig, er könne sogar seine stürmischen Gezeiten
bezwingen. Doch in eben dieser Jianghu lösten die Jungen die Alten ab, und
jeder Berg stieg höher als der vorherige.
Während Xie Xiang immer mutloser wurde, wandte sich Li
Qingyu an Shen Qiao. „Sektenanführer Shen."
„Dieser Shen ist nicht mehr der Sektenanführer", sagte
Shen Qiao. „Li-Gongzi muss mich nicht als solchen ansprechen."
Li Qingyu ignorierte ihn und fuhr fort. „Ich habe bereits
die Stufe der Schwertabsicht erreicht, aber ich bin Duan Wenyang immer noch
unterlegen. Heißt das, sein Shidi Kunye ist noch stärker als er?"
Shen Qiao schüttelte den Kopf. „Kunyes Kampfkraft ist zwar
beachtlich, aber er ist nicht auf dem Niveau von Duan Wenyang."
„Qi Fengge war die Nummer eins in der Welt, und ich
bewunderte ihn für seine Kampfkraft und Großartigkeit", sagte Li Qingyu. „Und
doch konnte Sektenanführer Shen, sein direkter Nachfolger, nicht einmal Kunye
besiegen."
Shen Qiao schwieg.
Li Qingyu stieß einen leisen Seufzer aus. „Als Ihr geboren
wurdet, war ich es noch nicht. Als ich geboren wurde, wart Ihr schon alt. Ich
bedaure, dass ich den Ruhm von Qi Fengges Kampfkünsten nicht mehr miterleben
konnte, als er noch glaubte, der Xuandu Berg hätte würdige Nachfolger. Es ist
schade, so schade!"
Sein Gesichtsausdruck war zwar so mild wie zuvor, aber als
er von ‘Schade‘ sprach, konnte man eine aufrichtige Enttäuschung in seiner
Stimme hören.
Dies war ein Mönch, der sich ganz der Kampfkunst
verschrieben hatte. Er würde niemals auf die Unbegabten herabsehen oder auf
diejenigen, die es versäumt hatten, bei einem guten Meister zu lernen. Aber so
wie Li Qingyu es sah, hatte Shen Qiao sowohl ein angeborenes Talent als auch
ein perfektes Umfeld, das weit über das eines anderen hinausging, und dennoch
war er so weit gekommen. Er sah nicht nur auf Shen Qiao herab, sondern hegte
auch einen leichten Zorn gegen ihn, der aus Enttäuschung geboren war.
Erst musste er Duan Wenyangs Verachtung einstecken, und
jetzt war es Li Qingyus Wehklagen, ganz zu schweigen von den misstrauischen
Blicken der Menge um sie herum. Jeder stolze Mensch würde jetzt einen
hässlichen Gesichtsausdruck aufsetzen, wenn er nicht stattdessen in Wut geraten
wäre. Ihnen würde das Gesicht fehlen, um hierzubleiben.
Aber Shen Qiao konnte aushalten, was andere nicht konnten.
Vielleicht ertrug er aber auch gar nichts. Er blieb stur und unnachgiebig wie
immer, sein Gesichtsausdruck unverändert, und er stimmte Li Qingyu sogar mit
dem Kopf zu. „Mein Meister war in der Tat außerordentlich großartig - nur
wenige Menschen können sich mit ihm vergleichen. Es ist schade, dass Li-Gongzi
nicht in der Lage war, sein geschätztes Selbst wenigstens einmal zu treffen. Li-Gongzis
unvergleichliches Talent hätte zweifellos das Lob meines Meisters erhalten."
Trotz alledem konnte er so etwas sagen. Selbst Puliuru Jian
bewunderte Shen Qiao für seine Selbstbeherrschung und die Art und Weise, wie er
die Kritik, die an ihm geübt wurde, beiseite schob.
Es schien, als hätte Li Qingyu eine solche Reaktion von
Shen Qiao auch nicht erwartet. „Ihr wart ein großer Mann, warum müsst Ihr Euch
mit diesem Dämon abgeben und Euch dadurch erniedrigen?"
Mit ‘Dämon‘ meinte er natürlich Yan Wushi.
Shen Qiao war ein ordentlicher, aufrechter Anführer der taoistischen
Sekte gewesen, doch er war so tief gefallen, dass er sich mit einem ‘Dämon‘ wie
Yan Wushi eingelassen hatte. Für einen Außenstehenden sah das natürlich wie
eine Herabwürdigung aus.
Aber die Gruppen und Organisationen in der Jianghu sahen in
ihm den Präzeptor des Kronprinzen, der vom Kaiser persönlich ernannt worden
war. Puliuru Jian zog die Stirn in Falten, und noch bevor Shen Qiao etwas
gesagt hatte, ergriff er das Wort.
„Li-Gongzi hat in der Tat unglaubliche Fähigkeiten, und
Jian bewundert Euch sehr. Doch je größer die Talente sind, desto
aufgeschlossener sollte man sein. Der arme Shen-Langjun hat Euch noch nie
beleidigt, warum also muss sich dieser angesehene Meister so aggressiv
verhalten? Findet Ihr als Angehöriger einer angesehenen Sekte ein solches
Verhalten nicht unehrenhaft?"
Li Qingyu warf Puliuru Jian einen Blick zu und sagte
nichts. Er blieb auch nicht, sondern wandte sich ab, um zu gehen.
Su Wei hielt ihn auf - erst verbeugte er sich, dann sagte
er mit lauter Stimme: „Das heutige Bankett wurde durch einen ungebetenen Gast
ruiniert, und das war die Schuld unserer Familie Su. Ich danke euch allen für
euren Mut, uns aktiv zu unterstützen und zu verteidigen. Wei entschuldigt sich
bei allen dafür und verspricht, dass wir an einem anderen Tag weitermachen
werden. Wir bitten Euch um Verzeihung."
Niemand hätte vorhersehen können, was an diesem Tag
geschah. Natürlich gab niemand den Gastgebern die Schuld, sondern einer nach
dem anderen sprach seinen Trost aus. Einige der Adligen, die mit der Familie
eng befreundet waren, besprachen sogar mit ihm, wie sie dem Kaiser ein Memorandum für die bevorstehende Klage vorlegen
könnten.
Einige Gäste verabschiedeten sich und gingen, während eines
der Zofen von Frau Qin Li Qingyu zunickte, aber er hatte noch kein Wort gesagt,
als sich etwas anderes ereignete.
„Als ich gerade gehen wollte, kam mir etwas in den Sinn. Da
ihr nicht bereit seid, Yuan Xiong und seine Frau auszuliefern, werde ich die
Dame als Gast einladen. Mal sehen, wen Ihr mehr schätzt: eure Mutter oder eure
Cousine!"
Es war eine Stimme, die von weit her kam, hell und
unvergleichlich klar, als ob sie direkt neben dem Ohr des Zuhörers sprechen
würde. Eine solch hohe Stufe der ‘Klangverschiebung‘ war noch schwieriger zu
erreichen als die Technik der ‘Klangübertragung‘.
Die Gesichter von Su Wei und Su Qiao waren vor Angst
verzerrt. Su Wei war durch und durch ein Gelehrter und hatte nicht einmal genug
Kraft, um ein Huhn fesseln, während Qiao gerade eine herbe Niederlage gegen
Duan Wenyang erlitten hatte. Seine rechte Hand war noch immer völlig
bewegungsunfähig, aber er konnte keinen Gedanken daran verschwenden, als er
sprang und stürzte sich dorthin, wo seine Mutter war.
Doch noch bevor er sich ihr nähern konnte, wurde er
plötzlich in die andere Richtung geschleudert und landete schwer auf dem Boden.
Die anderen konnten nicht einmal sehen, wie er verletzt worden war.
Niemand hatte erwartet, dass Duan Wenyang so schnell
zurückkehren würde, nachdem er gegangen war.
Aber natürlich hatte er nie versprochen, seine Forderung
nach Yuan Xiong und seiner Frau aufzugeben. Er musste dies von langer Hand
geplant haben und sich nicht von vornherein zu weit weg zurückgezogen haben.
In einem solch kritischen Moment wäre es mehr leeres,
nutzloses Gerede, ihn zu verurteilen, weil er zu solch hinterhältigen und
schamlosen Taktiken greift. Ganz gleich, ob es die Jianghu oder der Hof war
oder ob es richtig ist. Wer am härtesten zuschlägt, hat das letzte Wort.
In dem Moment, in dem Su Qiao in die Luft flog, traten Li
Qingyu, Dao Yanshan und Xie Xiang gemeinsam in Aktion und versuchten, Duan
Wenyang aufzuhalten.
Diese Männer waren derzeit das Beste, was es in der Jianghu
gab. Wenn es eine Lücke zwischen ihnen und den zehn Besten gab, dann war es ein
Kleiner. Li Qingyu zum Beispiel war wahrscheinlich bereits qualifiziert, in zu
den zehn Besten aufzusteigen - auch wenn er Duan Wenyang bei ihrem Duell vor
wenigen Augenblicken leicht unterlegen gewesen war. Aber wenn sie alle drei als
Gruppe angriffen, gab es keinen Grund, warum sie scheitern sollten.
Aber sie hatten sich verkalkuliert.
Duan Wenyang hatte es nicht auf Frau Qin abgesehen.
Stattdessen wechselte er auf halbem Weg das Ziel und ging direkt auf Su Wei
los!
Frau Qin war in ihrer Jugend eine Schülerin von Hulugu
gewesen. Auch wenn sie seit vielen Jahren nicht mehr gekämpft hatte, waren ihre
Kampffähigkeiten wahrscheinlich gut. Aber Su Wei war anders - der Herzog des
Bezirks Meiyang war nichts weiter als ein Gelehrter, und er hatte keine Ahnung
von der Kampfkunst. Duan Wenyangs Bewegungen waren direkt und wendig, völlig
unaufgeregt. Er hatte vorhin nur getrickst, das war von Anfang an geplant
gewesen.
Die Gruppe war bereits einen halben Schritt zurück, und nun
führte Duan Wenyang mit einem Schlag seines Ärmels einen Handflächenhieb aus,
der sie für einen weiteren Moment aufhielt. Als sie wieder angreifen wollten,
berührten Duan Wenyangs Finger bereits den Hals von Su Wei. Selbst wenn sie
göttliche Unsterbliche gewesen wären, hätten sie ihn nicht mehr rechtzeitig
retten können.
Su Qiao rief hilflos und alarmiert: „Xiaongzang!"
Frau Qins Gesichtsausdruck verdrehte sich, als sie höhnisch
sagte: „Fasst meinen Sohn nicht an!"
Dann stieß Duan Wenyang einen überraschten Laut aus.
Das lag nicht an den Rufen von Su Qiao und Frau Qin, und
schon gar nicht daran, dass Li Qingyu und die anderen es irgendwie rechtzeitig
zu ihm geschafft hatten.
Wie aus dem Nichts tauchte ein Bambusstock auf und
blockierte ihn von vorne.
Duan Wenyang streckte instinktiv die Hand aus, um ihn beiseitezuschieben,
aber irgendwie entglitt ihm der Stock immer wieder, er war so unmöglich zu
fangen wie ein Schleimaal, und ließ ihm keinen Raum, um richtige Kraft
anzuwenden. Wahres Qi breitete sich in überlappenden Wellen aus den Bewegungen
des Stocks aus, und obwohl es nicht erdrückend war, war es doch kraftvoll und
anhaltend. Duan Wenyang war gezwungen, Su Wei vorübergehend aufzugeben und
seine Aufmerksamkeit diesem neuen, unerwarteten Gegner zu widmen.
Als er endlich einen Blick auf seinen Gegner werfen konnte,
stand ihm der Schock ins Gesicht geschrieben und er war kurz davor,
überzulaufen.
Erklärungen:
Ein Memorandum ist eine Denkschrift, eine
Stellungnahme, ein kalendarisches Merkheft oder schlicht eine Notiz mit etwas
Denkwürdigem, in der Verwaltungssprache wird sie auch als Erinnerung bezeichnet
und steht für eine Stellungnahme.
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