Kapitel 73

A-Qing war ziemlich jung und war in der Provinz Wei aufgewachsen. Er war mit seinem jetzigen Leben zufrieden und hatte noch nie die Außenwelt gesehen, aber mit zwei zusätzlichen Personen im Haus wurde er natürlich ein wenig neugierig. Obwohl sein Onkel ihn immer wieder ermahnt hatte, die beiden nicht zu stören, wenn es nicht etwas Wichtiges gab, nutzte er die Gelegenheit, manchmal mit Shen Qiao zu unterhalten, wenn er ihnen das Essen brachte.

Natürlich wagte er es nicht, ein Gespräch mit Yan Wushi anzufangen ‒ nicht einmal, wenn er zehnmal mutiger wäre. Jugendliche besaßen einen tierähnlichen Instinkt: Er wusste sehr genau, mit wem er sprechen konnte und wen er nicht provozieren sollte.

Heute klopfte er wie immer an die Tür von Shen Qiaos Zimmer und brachte ihm eine warme Mahlzeit.

Es kam keine Antwort, aber daran war A-Qing gewöhnt. Nachdem er im Morgengrauen aufgewacht war, verbrachte Shen Qiao die meiste Zeit des Tages draußen im Hof und übte sich im Schwertkampf. A-Qing öffnete die Tür und trat ein, dann legte er die Stäbchen auf den Tisch und nahm nacheinander den Reisbrei und die Beilagen heraus.

Hinter ihm ertönten Schritte, und A-Qing sah sich grinsend um. „Shen-Langjun, Ihr seid zurück! Gerade noch rechtzeitig..."

Auf halbem Weg blieb er jedoch plötzlich stehen und erstickte fast an seinem eigenen Speichel. Schnell stand er auf, und sein strahlendes Lächeln verwandelte sich augenblicklich in ein zurückhaltendes und angestrengtes. „Hallo, Meister."

„Du siehst aus, als ob du mich nicht sehen wolltest", sagte Yan Wushi mit hochgezogener Augenbraue. Er kam herein, so gelassen wie immer.

Er trug nicht mehr das Frauenkleid, das er bei seiner Ankunft trug. Sogar das Haar an seinen Schläfen hatte wieder seine ursprüngliche Farbe angenommen. Er war dunkelblau gekleidet, der Schatten eines Lächelns lag auf seinem Gesicht ‒ gelassen und charmant.

Doch A-Qing bekam auf unerklärliche Weise Angst, so dass er Yan Wushi nicht in die Augen sehen konnte. Seine lässige Ausstrahlung verschwand, als er sich schnell aufrichtete und die Hände zusammenlegte. „A-Qing würde es nicht wagen. Onkel Wu hat A-Qing gesagt, dass er den Meister mit größtem Respekt behandeln und ihn in keiner Weise beleidigen soll."

Yan Wushis schmale Lippen kräuselten sich leicht, und er setzte sich an den Tisch, seine Haltung war entspannt. „Du bist mir gegenüber so zurückhaltend, aber gegenüber Shen Qiao so zwanglos. Du musst ihn offensichtlich sehr mögen?"

A-Qing stammelte: „Shen-Langjun... ist ein sehr freundlicher Mensch!"

„Hm", sagte Yan Wushi. „Er ist in der Tat zu jedem freundlich. Selbst wenn er genervt ist oder gestört wird, zeigt er das nie in seinem Gesicht."

Für A-Qing besaß Shen Qiao praktisch alle Eigenschaften der Perfektion, die er sich selbst wünschte: einen guten Charakter, gutes Aussehen, großartige Kampfkünste und ein freundlicher Umgang mit anderen. Das galt nicht nur für A-Qing: Jeder Jugendliche in seinem Alter würde so jemanden bewundern und verehren. In diesem Haus hatte A-Qing nur Onkel Wu als Gesellschaft; er hatte nicht einmal Spielkameraden in seinem Alter. Jetzt, da Shen Qiao hier war, wollte er ihm natürlich näher kommen und mehr mit ihm sprechen. Das war nur natürlich.

Aber als Yan Wushi das sagte, klang es doch ein wenig seltsam. Als A-Qing diese Worte hörte, war er traurig und enttäuscht zugleich und fragte sich, ob es ihn wirklich störte, dass er jeden Tag kam, um mit Shen Qiao zu sprechen.

Der Junge ließ den Kopf hängen. Er sah aus wie ein deprimierter Welpe.

Doch Yan Wushi hatte nicht im Geringsten Mitleid mit ihm. Stattdessen goss er mit einem letzten Schlag Öl ins Feuer: „Du musst also mehr Selbstbewusstsein haben."

„Ja", sagte A-Qing. Seine Stimme war niedergeschlagen, er schien fast den Tränen nahe zu sein.

In diesem Moment trat Shen Qiao mit seinem Schwert ein. Auf seinem Gesicht glänzte ein leichter Schweißschimmer, aber das ließ seinen Teint nur noch heller erscheinen und verlieh ihm ein leichtes Leuchten.

„Was ist los?" Er sah die beiden an: einer stand, einer saß. Er hatte keine Ahnung, was vor sich ging.

„Warum seid Ihr in meinem Zimmer?" Die zweite Frage richtete sich an Yan Wushi.

Yan Wushi lächelte. „Ich habe den Duft von Essen gerochen, also bin ich gekommen, um etwas zu stehlen."

Shen Qiao runzelte die Stirn. „Hat A-Qing Euch nicht Euer eigenes gebracht?"

„Das Essen schmeckt besser, wenn es von jemand anderem ist", sagte Yan Wushi fröhlich. „Wenn man den guten Appetit eines anderen sieht, schmeckt das Essen noch besser."

Shen Qiao glaubte kein Wort von dem, was er sagte. Er hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, als wäre etwas passiert, bevor er eingetreten war.

„A-Qing?" Shen Qiao sah seinen gesenkten Kopf und fragte sanft: „Was ist los?"

„Nichts ‒ gar nichts! Der Meister und Shen-Langjun sollten ihre Mahlzeiten genießen. Wenn ihr fertig seid, komme ich und räume auf!" Damit drehte er sich schnell um und stürmte aus dem Zimmer.

Aus den Augenwinkeln sah Shen Qiao, dass die Augen des Jungen etwas rot waren. Er wurde noch misstrauischer, als er sah, wie A-Qing sich zurückzog. Er wandte sich an Yan Wushi. „Was habt Ihr gerade zu ihm gesagt?"

Yan Wushi lächelte nur. „A-Qiao, du klingst wie eine alte Glucke, die ihre Küken beschützt! Vergiss nicht, dass A-Qing zu meinen Leuten gehört. Ich kann ihn behandeln, wie ich will, und niemand würde mit der Wimper zucken. Er hat sich dir nur ein wenig genähert, und das hat gereicht, dass du ihm plötzlich Gunst erweist? Wir sind so lange zusammen gereist, warum hat sich deine Einstellung mir gegenüber nie geändert?"

Wenn Shen Qiaos Gesichtsausdruck früher sehr einfach war, so wirkte er jetzt völlig emotionslos. „Es ist ja nicht so, dass meine Haltung dem Yan-Zongzhu etwas bedeutet."

Jedes Mal, wenn sein Makel aufgedeckt wurde und sich seine Persönlichkeit veränderte, konnte Yan Wushi das spüren. Es war, als wäre ihm ein weiteres Paar Augen gewachsen und er beobachtete die Außenwelt, aber er konnte nur zusehen und seinen Körper nicht kontrollieren.

So konnte er "sehen", wie Shen Qiao mit seinen anderen Persönlichkeiten interagierte. Shen Qiao bewahrte sich sogar gegenüber dem aufrichtig sanften A-Yan eine gewisse Vorsicht. Es gab nur eine Ausnahme. Damals in Ruoqiang hatte Xie Ling, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht hätte erwachen dürfen, seine ganze Kraft eingesetzt, um die Kontrolle über seinen Körper zu erlangen und zu Shen Qiao zurückzukehren. Obwohl Yan Wushi damals in einem tiefen Schlummer lag, hatte er kühl beobachtet, wie Shen Qiao Xie Ling angelächelt hatte, und er hatte auch das Zittern in Shen Qiaos Herz gespürt.

Dieser Mann war von Natur aus weichherzig: Wenn ihm jemand eine Sache gab, gab er ihm zehn zurück. Wenn ein anderer Mensch das Gleiche durchmachte wie er mit Chen Gong und Yu Ai, würde er zwar nicht vor Hass schäumen, aber zumindest entmutigt und leidenschaftslos werden. Aber Shen Qiao schätzte die Freundlichkeit noch mehr, auch wenn diese Freundlichkeit in den Augen der anderen trivial erschien.

Deshalb hatte Shen Qiao begonnen, Xie Ling Gefallen zu erweisen.

Vielleicht hatte Shen Qiao von diesem Moment an wirklich begonnen, Xie Ling wie eine eigene Person zu behandeln. Nur wenn er Xie Ling gegenüberstand, unterschied Shen Qiao ihn von Yan Wushi: So freundlich er zu ersterem war, so kalt war er zu letzterem.

Doch je mehr er dies tat, desto mehr wurde Yan Wushi neugierig.

In der Vergangenheit hatte er Shen Qiao aus zwei Gründen geärgert. Der erste Grund war, dass er diese Person für lächerlich hielt, weil er nach wiederholtem Verrat nie seine Lektion gelernt hatte ‒ dass jeder das Böse in seinem Herzen trug und der einzige Unterschied darin bestand, wie tief er es verbarg. Shen Qiao selbst konnte da keine Ausnahme sein. Er hatte alles versucht, um diese Bosheit in den Tiefen seines Herzens hervorzulocken. Zweitens wollte er den dämonischen Kern in Shen Qiao implantieren, um zu sehen, was passieren würde, wenn man einen dämonischen und einen daoistischen Kern miteinander verschmelzen würde. Shen Qiao war also sein Versuchskaninchen gewesen.

Aber das Leben ist unberechenbar. Shen Qiao ging nicht in die Richtung, die Yan Wushi ihm vorgegeben hatte, sondern schlug einen völlig anderen Weg ein. Obwohl er eine Prüfung nach der anderen erlebt hatte und immer wieder mit den Tücken des menschlichen Herzens konfrontiert worden war, hatte sich dieser Mensch geweigert, sich zu ändern. Er war sogar bereit, Xie Ling, der selbst aus Yan Wushi stammte, mit so viel Freundlichkeit und Aufrichtigkeit zu behandeln.

Sollte er diese Art von Person als töricht oder stur bezeichnen?

Aber in Yan Wushis Augen spielte es keine Rolle, ob es Xie Ling oder Yan Wushi war. Gut oder böse, schmerzhaft oder wunderbar ‒ er allein sollte für Shen Qiao etwas Besonderes sein. Es war nicht nötig, dass eine andere beliebige Person an dieser besonderen Wertschätzung teilhatte.

Als er Shen Qiaos Worte hörte, lachte Yan Wushi. „Wer sagt denn, dass es mir nichts bedeutet? Es bedeutet mir sehr viel! Wenn du bereit wärst, auch nur ein Zwölftel von dem, was du Xie Ling gibst, mit mir zu teilen, wer weiß, wie glücklich ich dann wäre."

Shen Qiao stellte sich taub. Er senkte den Kopf und konzentrierte sich darauf, seinen Reisbrei zu essen.

Solange es nicht um Xie Ling ging, hörte Shen Qiao nur einen Bruchteil von dem, was Yan Wushi sagte. Und diesen winzigen Bruchteil würde er aufbrechen, darüber nachdenken und analysieren, um nicht dieselben Fehler zu begehen. Es war wirklich ziemlich erbärmlich, zweimal in die gleiche Grube zu fallen, obwohl man eigentlich hätte lernen müssen, sie zu vermeiden. Obwohl Shen Qiao zugab, dass er kein clevererer Mensch war, war er auch nicht so dumm.

Als er sah, dass Shen Qiao nicht reagierte, lächelte Yan Wushi und sprach nicht weiter. Er nahm seine Schüssel Reisbrei in die Hand und begann zu essen.

Für die beiden waren die letzten Tage die ruhigsten und friedlichsten, die sie bisher erlebt hatten. Ganz sicher nichts im Vergleich zu den haarsträubenden Ereignissen, die sie in Ruoqiang erlebt hatten. Seit sie Tuyuhun verlassen hatten, musste sich Shen Qiao mit seinen ständig wechselnden Persönlichkeiten auseinandersetzen ‒ Yan Wushis Makel war ja noch nicht beseitigt worden ‒ und gleichzeitig seine Umgebung Auge behalten. Yan Wushi hatte Feinde auf der ganzen Welt, so dass sich Shen Qiao nicht einmal einen Moment lang entspannen konnte. Erst als er diesen Ort betrat, begann er sich wohl zu fühlen und konnte sich auf die Kultivierung des wahren Qi der Zhuyang-Strategie konzentrieren.

Was Yan Wushi betraf, so stellte Shen Qiao zwar keine detaillierten Nachforschungen an, aber er konnte an seinem Verhalten erkennen, dass sich die Persönlichkeit des Mannes allmählich stabilisierte. Es war selten, dass sich seine Persönlichkeit direkt nach dem Aufwachen so stark veränderte. Höchstwahrscheinlich hatte der Inhalt des Seidenstücks Yan Wushi etwas erleuchtet. Mit seinen Fähigkeiten wäre es nur eine Frage der Zeit, bis er den Fehler in seinem dämonischen Kern ausbessern könnte, und sobald das geschah, würde er mit den Fenglin-Schriften auf die nächste Stufe aufsteigen. Es war möglich, dass seine Kampfkünste so weit fortgeschritten waren, dass er in der ganzen Welt unvergleichlich sein würde. Selbst wenn er das nicht erreichen würde, wäre er nicht weit davon entfernt. Selbst wenn sich die fünf Kampfexperten wieder zusammentun würden, könnten sie Yan Wushi kein zweites Mal besiegen.

Es war nur schade, dass Xie Ling... Eine schwache Melancholie durchzuckte Shen Qiaos Herz. Er seufzte vor sich hin.

Yan Wushi fragte plötzlich: „Warum erweist du A-Qing eine solche Gunst? Liegt es daran, dass er Xie Ling ähnelt und du deshalb Xie Ling auf ihn projizierst?"

In seiner Gegenwart war Shen Qiao noch zurückhaltender als sonst. Wenn er nicht mit ihm zu sprechen brauchte, würde er es nicht tun. Aber Yan Wushi schien seine Stimmung erraten zu haben, denn er lächelte. „Du magst ihn, aber ich finde ihn lästig. Wenn du mir nicht den Grund dafür nennst, werde ich Onkel Wu bitten, ihn zu vertreiben, nachdem du gegangen bist."

Shen Qiao weigerte sich, mitzuspielen. „Yan-Zongzhu, Ihr habt immer getan, was Ihr wolltet. Warum sollte ich ein Mitspracherecht bei Euren Entscheidungen haben?"

Yan Wushi lachte. „Na gut, dann werde ich ihn nicht vertreiben. Kannst du mir es bitte sagen? Ich flehe dich an."

Ein wahrer Mann wusste, wann er sich beugen musste. Yan-Zongzhu war skrupellos, wenn es darum ging, seine Ziele zu erreichen, und er hatte sich nie um so etwas wie "moralische Integrität" gekümmert. Er war ein mächtiger Kampfkünstler, ein Großmeister, aber er konnte sogar Worte wie ‘Ich flehe‘ sagen. Ihn störte das nicht, aber als Zuhörer konnte Shen Qiao es nicht ertragen.

Shen Qiao konnte überredet, aber nicht eingeschüchtert werden. Yan Wushi hatte das vor langer Zeit gelernt. Auf jeden Fall würde es nicht schaden, ihm ein wenig zu schmeicheln. Andere Menschen würden vielleicht denken, dass es ihre Würde oder Integrität verletzen würde, so zu handeln, aber dämonische Praktizierende legten auf solche Dinge wenig Wert.

Es war keine Überraschung, dass Shen Qiao, obwohl er sich etwas unwohl fühlte, trotzdem sagte: „A-Qing ist ein wenig wie der Schüler, den ich aufgenommen habe."

Yan Wushi lächelte. „Warum habe ich nicht gewusst, dass du einen Schüler aufgenommen hast?"

„Ihr kennt ihn doch auch", sagte Shen Qiao schlicht und einfach. „Es ist Shiwu aus dem Bailong-Kloster."

In dem Moment, in dem er dies sagte, erinnerte er sich unweigerlich an den Abt und Chuyi und wie sie gestorben waren. Da er sich selbst die Schuld gab, verschwand auch jede gute Laune, die er für Yan Wushi hatte.

Nun gut, er hat also an Shen Qiaos Schorf herumgepfuscht. Yan Wushi war hochintelligent, und er war jetzt nicht verrückt. Natürlich konnte er herausfinden, was passiert war.

Aber er tat so, als hätte er die Ablehnung auf Shen Qiaos Gesicht nicht gesehen, die praktisch schrie: ‘Ich will nicht mehr mit Euch reden.‘ Stattdessen lächelte er weiter und redete. „Ich habe Shiwu tatsächlich schon einmal gesehen. Es stimmt, dass seine Grundlagen und seine Begabung ziemlich gut sind. Wenn er auf einen weisen Meister trifft, könnte er in der Zukunft große Leistungen erbringen."

Dieses schamlose Verhalten... Shen Qiao musste es ihm wirklich lassen.

Er wollte seinen Gast gerade hinauswerfen, als von draußen ein leises Klopfen zu hören war.

Zwischen ihnen und dem Eingangstor lagen zwei Flure und ein Hof, aber Kampfkünstler hatten ein fantastisches Gehör, und so hörten sie beide A-Qings „Ich komme", als er hinüberlief, um das Tor zu öffnen.

In der Xie-Residenz war es immer ruhig gewesen; sie hatte nur wenige Besucher. Wenn Onkel Wu zum Einkaufen ging, nahm er gewöhnlich den Hintereingang. Er ging fast nie durch das Haupttor.

Shen Qiao und Yan Wushi spürten sofort, dass etwas nicht stimmte ‒ es war ein unbeschreiblich mysteriöses Gefühl, fast so, als hätten sie die Gedanken des anderen gelesen. Nur Kampfkünstler, die eine bestimmte Stufe erreicht hatten, konnten diese Reaktion zeigen.

Shanhe Tongbei war ganz in der Nähe. Als A-Qing die Tür öffnete, befand sich Shen Qiaos Hand bereits auf der Scheide.

„Wer ist da?" A-Qings Stimme drang aus der Ferne herüber.

„Ich hoffe, es geht Euch gut, junger Wohltäter. Darf ich fragen, ob dies die Xie- Residenz ist?"

In dem Moment, als er diese Stimme hörte, veränderte sich Shen Qiaos Gesichtsausdruck.

Obwohl er nicht viel mit diesem Mann zu tun hatte, wie hätte er ihn nicht erkennen können?

Aber sie waren auf der ganzen Reise so vorsichtig gewesen ‒ natürlich konnten sie nicht völlig fehlerfrei sein, aber sie hatten ihr Bestes getan, um keine Spuren zu hinterlassen. Wie konnte Zenmeister Xueting sie so schnell finden?

Könnte es das Werk von Chen Gong sein...?

Die beiden tauschten einen Blick aus. Yan Wushis Gesicht war erstaunlich ruhig. Tatsächlich hatte sich sein Gesichtsausdruck kaum verändert.

„Versteckt Euch zuerst", sagte Shen Qiao streng. „Ich werde mich mit ihm treffen."

Mit ihrer gegenwärtigen Kultivierung waren sie beide nicht in der Lage, Xueting zu besiegen. Aber Xuetings Ziel war nicht Shen Qiao, und selbst wenn er ihn nicht besiegen konnte, konnte Shen Qiao immer noch entkommen.

Yan Wushi hob eine Augenbraue. „Ich fürchte, es ist zu spät.

Kaum hatten diese Worte seinen Mund verlassen, ertönte Xuetings Stimme aus dem Innenhof. „Yan-Zongzhu ist wirklich bemerkenswert. Dieser bescheidene Mönch bewundert ihn sehr."

Im Handumdrehen war der Mann von den Toren in den Hof vor ihrem Zimmer gegangen. A-Qing brüllte immer noch wie am Spieß und hechelte ihm hinterher. Aber er konnte nicht einmal mit Xuetings Schatten mithalten, geschweige denn mit dem Saum seiner Robe.

Nur wenige Menschen in der ganzen Jianghu konnten diese Geschwindigkeit erreichen, bei der ‘das Land auf wenige Zentimeter zu schrumpfen schien und der Staub sich nicht einmal an ihren Füßen festhalten konnte‘.

Die Tür zu ihrem Zimmer war gar nicht verschlossen. Wo Shen Qiao und Yan Wushi standen, konnten sie sehen, dass ein schwarz gekleideter Mönch erschienen war.

Yan Wushi grinste. „Ihr seid so hartnäckig, kahlköpfiger alter Esel! Ihr seid wie ein böser Geist! Ich habe mich noch nicht einmal dafür revanchiert, dass Ihr an diesem Tag einen Haufen herumtollender Clowns mitgebracht habt, die sich gegen mich verschworen haben! Ihr besitzt wirklich eine Unverschämtheit, hier aufzutauchen!"

Zenmeister Xueting schlug die Hände zum Gruß zusammen und sagte: „Auch dieser bescheidene Mönch hat nicht erwartet, dass Yan-Zongzhu so mächtig ist. Ihr wurdet von fünf großen Kampfexperten überfallen und habt es dennoch geschafft, alle zu täuschen und heil herauszukommen."

Dann grüßte er auch Shen Qiao. „Daozhang Shen ist auch hier. Was für ein Zufall."

Zenmeister Xuetings Stimme war ruhig, ohne auch nur einen Hauch von Ärger. Ob in diesem ‘welch ein Zufall‘ auch Sarkasmus steckte, konnte nur er selbst wissen.

Yan Wushi brach in Gelächter aus. „Außer Euch, kahlköpfiger Esel Xueting, waren alle anderen nur mittelmäßig. Ihr konntet mich nicht einmal im Fünf-gegen-Eins-Kampf töten! Ein Haufen Abschaum! Und die haben die Frechheit, sich Experten zu nennen? Xueting, dass Ihr Euch so weit herablassen konntet, Euch mit denen in einen Topf zu werfen! Wirklich, je länger Ihr lebt, desto mehr fallt Ihr zurück!"

Zenmeister Xueting wurde nicht im Geringsten wütend. Er sah Yan Wushi mit ruhiger Miene an ‒ selbst sein Blick enthielt keine Feindseligkeit. „Die neue Generation wird die alte ablösen. Dieser bescheidene Mönch ist schon in die Jahre gekommen; früher oder später wird er seinen Platz an talentiertere Nachfolger abgeben. Mit der Zeit werden Wohltäter Duan und Wohltäter Dou diesem bescheidenen Mönch vielleicht nicht mehr unterlegen sein.

Yan-Zongzhu ist wieder zum Leben erwacht und ist derselbe wie immer. Dieser bescheidene Mönch muss zugeben, dass dies höchst bewundernswert ist. Yan-Zongzhu muss auch wissen: Je weiter man auf dem Pfad der Kampfkunst voranschreitet, desto schwieriger ist es, einen Gegner zu treffen, der einem ebenbürtig ist. Wenn es eine Wahl gäbe, würde auch dieser bescheidene Mönch lieber mit Yan-Zongzhu Tee trinken und Weiqi spielen, trainieren und Tipps austauschen. Sowohl Freunde als auch Konkurrenten zu sein.

Aber außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Methoden. An jedem Tag, an dem Yan-Zongzhu hier ist, wird Yuwen Yong ohne Skrupel handeln und den Buddhismus weiter unterdrücken. Damit der Buddhismus gedeihen kann, kann dieser bescheidene Mönch nur zu solchen Maßnahmen greifen. Er ist nicht aus persönlichem Groll hier und bittet daher den Yan-Zongzhu um Vergebung."

In seinen Worten lag eine Andeutung. Da er heute hierher gekommen war, würde er nicht mit leeren Händen gehen ‒ es musste einen angemessenen Abschluss geben.

„Darf ich den Großen Meister fragen", sagte Shen Qiao, „woher Sie wussten, dass Yan Wushi hier ist?"

„Mönche lügen nicht", sagte Xueting. „Um die Wahrheit zu sagen, traf dieser bescheidene Mönch Chen Gong in Chang'an. Da Yan Shou von der Hehuan-Sekte einmal meinen Schüler verletzt hatte und Chen Gong auch der Hehuan-Sekte nahe steht, wollte ich von ihm wissen, wo sich Yan Shou aufhält. Chen Gong sagte, er wisse es nicht, und um sich herauszureden, erzählte er mir, dass Yan-Zongzhu noch am Leben sei und dass er sogar eine Schriftrolle der Zhuyang-Strategie erhalten habe."

Bevor er gegangen war, hatte Chen Gong Shen Qiao versprochen, den Aufenthaltsort von Yan Wushi nicht preiszugeben, aber Shen Qiao hatte diesem Versprechen nie viel Glauben geschenkt. Als er dies von Xueting hörte, hatte er tatsächlich das Gefühl, dass dies erwartet wurde.

„Aber zwischen Chang'an und Tuyuhun liegen viele andere Provinzstädte. Chen Gong kann unmöglich wissen, wohin wir gehen oder wo wir anhalten werden."

„Richtig", sagte Xueting. „Dieser bescheidene Mönch suchte die ganze Reise von Chang'an nach ihm. Ich habe in der Provinz Wei Halt gemacht und wollte morgen aufbrechen. Doch dann belauschte ich unerwartet ein Gespräch zwischen zwei Leuten; der eine behauptete, ein Händler zu sein, der jeden Tag Gemüse an jeden Haushalt verkauft. Es gab einen Haushalt, der auf unerklärliche Weise seine Nachfrage verdoppelt hatte, also war er sehr glücklich."

Shen Qiao seufzte. „Der Große Meister ist wirklich akribisch und aufmerksam. Wenn er diese Fähigkeit nutzen könnte, um Diebe festzunehmen und Streitigkeiten zu schlichten, würde das ausreichen, um die Welt von Ungerechtigkeiten zu befreien."

„Ich danke Euch für Euer Lob, Daozhang Shen. Heute hat sich dieser bescheidene Mönch die Freiheit genommen, Yan-Zongzhu zu besuchen. Daozhang Shen ist ein Außenstehender, deshalb bitte ich Sie, sich nicht einzumischen, damit Sie nicht versehentlich verletzt werden."

„Was für ein Zufall", sagte Shen Qiao. „Der Große Meister will ihn töten, aber ich will ihn beschützen."

Zenmeister Xuetings Gesicht verriet eine Spur des Erstaunens. „Soweit dieser bescheidene Mönch weiß, haben sich die dämonische und die daoistische Sekte nie nahe gestanden. Und Yan-Zongzhu hat Daozhang Shen immer wieder viel Undankbarkeit entgegengebracht und seine Freundlichkeit mit Bösem vergolten. Warum sollte Daozhang Shen trotzdem versuchen, ihn zu schützen?"

„Es ist so, wie der Große Meister sagt", sagte Shen Qiao. „An jedem Tag, an dem er dort ist, wird Yuwen Yong sicher und gesund bleiben. Wenn ich mir alle Nationen ansehe, ist Qi bereits verschwunden. Nur die beiden Königreiche von Zhou und Chen können als stark bezeichnet werden. Aber die Südliche Chen-Dynastie wird von den Konfuzianern beschützt, so dass dort kein Platz für den Buddhismus ist. Die ständigen Versuche des Großen Meisters, Yan Wushi zu töten, ebnen den Kök-Türken den Weg, in die Zentralebene vorzudringen, nicht wahr?"

Xueting stieß einen Singsang aus. „Sagt Daozhang Shen, dass er auch auf der Seite des Herrn von Zhou steht?"

„Richtig", sagte Shen Qiao.

Xueting stieß einen leichten Seufzer aus. „Dann scheint es, dass dieser bescheidene Mönch heute zuerst Daozhang Shen passieren muss."

Als sein letztes Wort gefallen war, schlug sein goldener Stab leicht auf die dunklen Steinplatten unter ihnen, und ein schweres Geräusch schien in Shen Qiaos Ohren zu explodieren.

Gleichzeitig verließ das Shanhe Tongbei mit einem Klirren seine Scheide. Shen Qiao sprang auf, und Schwert und Stab trafen sich in der Luft. In einem Augenblick vermischten sich eine unendliche Anzahl von Lichtern und Schatten, während sich innere Energie von den Berührungspunkten ausbreitete. Jemand wie A-Qing, der über keinerlei Kampfkunstkenntnisse verfügte, wurde sofort von den Schockwellen getroffen. Er schrie auf, seine Ohren klingelten vor Schmerz, und er war gezwungen, zurück zu stolpern. Erst nachdem er sich hinter der Mauer versteckt hatte, ging es ihm etwas besser.

Shen Qiao war davon ausgegangen, dass Yan Wushi, der Situationen gut einschätzen konnte und wenig von der Last eines Großmeisters trug, keinen Grund sehen würde, sich einzumischen. Als er sah, dass Shen Qiao Xueting behinderte, hätte er sich sicherlich umgedreht und wäre zuerst gegangen. Doch stattdessen sah er, nachdem Shen Qiao mehrere Schläge mit Xueting ausgetauscht hatte, aus dem Augenwinkel, dass Yan Wushi immer noch regungslos auf seinem Platz stand.

„Warum geht Ihr nicht?!", rief Shen Qiao wütend. „Steht nicht einfach so herum!"

„A-Qiao, beruhige dich. Ich will ja gehen, aber du solltest den kahlköpfigen alten Esel fragen, ob er mich gehen lässt." Yan Wushis Lippenwinkel kräuselten sich ein wenig, aber seine Augen lächelten nicht im Geringsten.

Wie als Antwort auf seine Worte erschienen im Osten und im Westen zwei junge Mönche, beide barhäuptig und in schwarze Mönchsroben gekleidet, die auf den Dachziegeln standen.

„Dieser bescheidene Mönch ist Liansheng."

„Dieser bescheidene Mönch ist Lianmie."

Die beiden sagten unisono: „Wir grüßen Yan-Zongzhu!"




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4 Kommentare:

  1. Jetzt habe ich es geschafft und bin nun ebenfalls hier auf den neusten Stand. Nun zu "Stars of Chaos" rüber schiel. Das werde ich auch noch in Angriff nehmen, aber das wird noch etwas dauern. Aber es kommt auf jeden Fall noch dran!
    Aber nun zum eigentlichen. Ich muss sagen, es war von der Story etwas zäh. Man hatte das Gefühl, dass Shen Qiao das Pech förmlich anzog. Auch wenn Yan Wushi dabei nicht gerade unschuldig war. Ich mag die Szenen zwischen den beiden. Sie kommen mir manchmal vor wie Hund und Katz. Shen Qiao hatte es ja schwer, sehr schwer. So hintergangen worden zu sein, von jemandem den man vertraute, ist nicht schön. Selber erst durchgemacht und noch immer hat man die Wut und den Hass auf diese Person. Dieses Gefühl verschwindet nur sehr langsam.
    Und Shen Qiao ist so eine gute Person, das geht schon fast auf keine Kuhhaut mehr und Yan Wushi weiß das auszunützen. Bis er selbst sehr schlecht dran ist und er kann froh sein, das Shen Qiao ihm geholfen hat. Jetzt wo er wegen der schweren Verletzungen mehrere Persönlichkeiten hat, wird es sehr interessant zwischen den beiden. Mein Mitleid was Yan Wushi deswegen durchmacht, hält sich sehr in Grenzen. Dafür sind seine anderen Persönlichkeiten zu interessant XD
    Der Ärger lässt ja wieder nicht lange auf sich warten. Beide kommen kaum dazu ihre Verletzungen richtig und ordentlich mal zu verheilen.
    Mal sehen wie es da jetzt weitergeht.

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    1. Ich muss ehrlich zugeben, dass die Geschichte erst dann so richtig gut wurde, als Yan Wushi regelmäßiger bis hin zu dauerhaft seinen Auftritt hatte.
      Shen Qiao war auch in vielen Dingen zu gutmütig und naiv, er hat in allen Menschen immer nur das Gute gesehen, ohne zu erkennen, dass diese Menschen gerade eben die nur Böses wollen und das hat zu ziemlich vielen Problemen geführt.
      Shen Qiao wurde ja innerhalb eines Jahres - glaube ich zumindest - dreimal hintergangen.
      Einmal von Yu Ai, dann von Chen Gong und zum Schluss von Yan Wushi, das ist eigentlich schon ein ziemlicher Rekord.
      Yan Wushi nutzt Shen Qiaos Gutmütigkeit, aber so was von aus. Warte nur später führt das zu sehr lustigen und amüsanten Szenen zwischen den beiden.
      Ich hatte beim Lesen nicht ein einziges Mal Mitleid mit ihm, immerhin hat es selbst so gewählt und teilweise auch so gewollt.
      Ich wünsche dir dann noch viel Spaß bei Stars of Chaos. Ich muss da ehrlich sagen, ich bin bei den Kapitelvorschau immer total raus. Ich muss immer gefühlt das halbe Kapitel zu lesen, um zu wissen, was da passiert. Bei Husky und Thousand Autumns habe ich dieses Problem nicht.

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  2. oh da will einer nicht das wer mit shen redet. gerade essen zusammen und jetzt werden sie auch noch gestört. leider ist etwas eingetretten was sie vermeiden wollten. ausgerechnet der mönch hat sie gefunden und wer hat sie verraten natürlich cheng wer den sonst. shen hält in auf doch yan kann nicht weg weil andere seinen weg versperren. was wird woll nun geschehen. freu mich wenns weiter geht.

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    1. Ja, ja, Yan Wushi mag es nicht, wenn Shen Qiao jemand anderem als ihm eine besondere Aufmerksamkeit gibt.
      Xueting hat es aber auch sehr klug angestellt, sie zu finden und hatte Erfolg. Auch wenn Chen Gong seinen Teil dazu beigetragen - um ehrlich zu sein, ich hätte eh nicht geglaubt, dass er sein Wort hält, der verrät doch alles und jeden, wenn er seinen Vorteil daraus ziehen kann.
      Die Kapitel nach diesem werden auch recht süß und amüsant werden vor allem da Yan Wushi einiges ausprobiert, um Shen Qiao aus der Deckung zu locken.

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