Als Ruan Hailou seine Akupunkturpunkte geöffnet hatte und auf das Haus der Gründer zustürmte, dachten alle, dass der Hass, der sich seit mehr als einem Jahrzehnt in ihm aufgestaut hatte, endlich seinen Höhepunkt erreicht hatte und dass er ihn an der Tafel von Hui Leshan auslassen wollte. Niemals hätten sie sich eine derartige Schlussfolgerung vorstellen können.
Ruan Hailous Gestalt war bereits vom Rand der Klippe
verschwunden, aber es dauerte lange, bis alle Anwesenden wieder zur Besinnung
kamen. Sie wussten nicht, ob sie seufzen oder mit den Zähnen knirschen sollten,
aber wenn sie an das schreckliche Schicksal der Schüler der Bixia-Sekte
dachten, konnten sie nur einen tiefen Seufzer ausstoßen.
Einen langen Moment später räusperte sich Yue Kunchi: „Shimei,
die Tafel von Shizun ist mit ihm zusammen gefallen. Sollen wir im Haus der
Gründer eine neue Tafel für Shizun errichten?"
Zhao Chiying schwieg eine Weile, dann sagte sie: „Lassen
wir es erst einmal dabei bewenden. Wir können später darüber reden."
Dann drehte sie sich zu Shen Qiao und Shiwu um. „Hat Daozhang
Shen etwas Zeit? Ich möchte Euch in einer Sache konsultieren."
„Bitte gehen Sie voran, Sektenanführerin Zhao.“
Zhao Chiying sah, dass Shiwu ihnen folgte, sein Gesicht war
von Nervosität gezeichnet, aber er lächelte trotzdem. „Shiwu sollte auch
mitkommen."
Shiwu war ein wenig verlegen. Von Natur aus schüchtern,
versteckte er zuerst sein Gesicht hinter Shen Qiao, dann schien er zu merken,
dass das ein bisschen unhöflich war. Schnell stieß er sich wieder hervor und
sagte: „Danke, Sektenanführerin Zhao."
Sogar Yue Kunchi fand Shiwu ziemlich niedlich, und ihm
entwich ein Schnauben vor Lachen. Aber er hatte seine inneren Verletzungen
vergessen - gleich nach dem Lachen zischte er heftig vor Schmerz.
„Ich habe dir gesagt, du sollst dich ausruhen, aber du hast
nicht auf mich gehört", sagte Zhao Chiying. „Wenn das so ist, kannst du
auch mitkommen." Zhao Chiying schüttelte den Kopf, offensichtlich war sie
mit diesem mit diesem Shixiong am Ende ihrer Kräfte. Sie wies mit der linken
Hand nach vorn. „Hier entlang, Daozhang Shen."
Sie führte die Drei zum Zhengyang Pavillon der Bixia-Sekte.
Hier empfing der Sektenanführer normalerweise Ehrengäste. Es war lange her,
dass der letzte Gast kam - nur wenige kamen nach dem Niedergang der Bixia-Sekte
vorbei. Als sie den Pavillon betraten, konnten sie den schwachen Geruch von
kalter Trostlosigkeit riechen.
Shen Qiao und Shiwu hatten gerade Platz genommen, als sie
sahen, wie Zhao Chiying mit feierlicher Miene vor ihnen kniete und sich dann
mit dem Kopf in Shen Qiaos Richtung verbeugte.
„Warum verbeugen Sie sich so tief?" Shen Qiao war
schockiert. Er stand auf und wollte sie hochziehen, aber Zhao Chiying hielt ihn
auf.
„Shixiong und Yuanbai haben es mir bereits gesagt. Ihr habt
Shiwu den ganzen Weg von Yecheng zur Bixia-Sekte hierhergebracht, nur um zu
erfüllen, was Zhu-Shixiong Euch vor seinem Tod anvertraut hat. Ein Versprechen
ist mehr wert als tausend Gold, und Ihr seid ein Mann, der sein Wort hält. Ihr
verdient diese Verbeugung des Respekts von mir."
Shen Qiao lächelte gequält. „Eure verehrte Sekte befand
sich in einer Krise, deshalb konnte ich es nicht vollständig erklären.
Sektenanführerin Zhao und der Älteste Yue wissen es wahrscheinlich nicht, aber
Zhu-Xiong ist meinetwegen gestorben."
Er erzählte ihnen, wie er in einem Kampf mit Sang Jingxing
schwer verwundet worden war und wie er sich, nachdem er dem Tod so nahegekommen
war, in den Bergen versteckt hatte. Wie Shiwu ihn gerettet hatte und wie der
Abt und seine Schüler ihn aufnahmen und so das tödliche Unglück vor ihre Tür
brachten.
Für Shiwu war es eine Qual, sich das alles wieder ins
Gedächtnis zu rufen – es bedeutete eine Szene nach der anderen die mit Blut und
Tränen gefüllt war. Aber Shen Qiao hatte ihm Mut beigebracht, und er war nicht
mehr das Kind, das bei jeder Kleinigkeit in Tränen ausbrach. Jetzt zwang er
seinen Kummer nieder, ballte die Hände zu Fäusten und sprach kein einziges
Wort.
Als Shen Qiao geendet hatte, legte sich eine schwere Stille
über den Zhuyang- Pavillon.
Nach einem Moment sagte Zhao Chiying streng: „Das sind zwei
verschiedene Dinge. Niemand konnte den Tod von Zhu-Shishu vorhersehen, und Ihr
seid der Letzte, der wollte dass das passiert. Er ist mit Stolz in diesen Tod
gegangen, also gehe ich davon aus, dass er völlig freiwillig gegangen ist.
Niemand hätte ihn aufhalten können, und er hat erreicht, was er wollte. Wie
kann Daozhang Shen sagen, dass es wegen Euch war? Die Hehuan-Sekte wusste, dass
Zhu-Shixiong der Bixia-Sekte angehörte, und sie haben ihn trotzdem
rücksichtslos ermordet. Die Schuld liegt auf ihrem Kopf, nicht auf Eurem."
Je vernünftiger sie war, desto schuldbewusster wurde Shen
Qiao.
Er behandelte andere gern mit Freundlichkeit, und es war
ihm egal, wie viel er im Gegenzug gewann oder verlor. Aber wenn andere Menschen
ihm eine ähnliche Freundlichkeit erwiderten, bis hin zu dem Punkt, dass sie
bereit waren, für ihn zu sterben, war das für ihn weitaus schwieriger, als wenn
er gar nichts bekommen hätte.
Als hätte er Shen Qiaos Gedanken gespürt, streckte Shiwu
die Hand aus, um seine zu halten.
Ein kleiner Fleck Wärme lag in seiner Handfläche. Shen Qiao
drückte Shiwus Hand zurück und hüllte diese Wärme in seine eigene Hand ein.
„Ich bin sehr dankbar für die Rücksichtnahme der
Sektenanführerin Zhao. Aber ich habe das hier verursacht, also sollte ich
derjenige sein, der das Problem löst. Es geht die Bixia-Sekte nichts an."
Als Zhao Chiying die tiefe Zuneigung der beiden zueinander
sah, als könnten sie es nicht ertragen, sich zu trennen, begann sie zu
überlegen. Gleichzeitig fragte sie: „War Zhu-Shishus letzte Bitte, dass Shiwu
der Bixia-Sekte beitritt?"
„Ja", sagte Shen Qiao. „Obwohl Zhu-Xiong die Sekte aus
eigenen Gründen verlassen hat und nie zurückgekehrt ist, hat er sich in seinem
Herzen immer als Mitglied der Bixia Sekte betrachtet."
Zhao Chiying nahm die Holztafel, die Shiwu ihr überreichte,
und strich über das ‘Zhu‘-Zeichen auf der Tafel. Für einen Moment huschte eine
Spur von Traurigkeit über ihren sonst so ruhigen und gelassenen
Gesichtsausdruck.
„Früher hatte die Bixia Sekte auch Mitglieder, die zu den
zehn Besten gehörten", sagte sie. „Aber durch unsere internen Fehden
schwanden unsere Talente und wir wurden von Tag zu Tag schwächer. Was heute
geschah, war, als ob sich Frost auf Schnee türmte – eine Katastrophe folgte auf
die andere. Fan Yuanbai hat gerade nachgezählt: Nur sechs unserer Schüler haben
überlebt."
Mit Zhao Chiying und Yue Kunchi waren es dann nur noch
acht. Was konnte eine achtköpfige Sekte überhaupt tun? Wenn sie keine
einigermaßen begabten Schüler hervorbrachten, würde ihre Sekte, selbst wenn sie
niemand mehr angriff, innerhalb des nächsten Jahrzehnts verschwinden und nur
noch dem Namen nach existieren.
Yue Kunchis Herz tat bei ihren Worten weh. Er versuchte,
wenig überzeugend, eine weitere Person zu ihrer Gruppe hinzuzufügen. „Ich habe
eine weitere Schülerin in Yecheng ..."
Eine Erinnerung rührte sich in Shen Qiao. „Meint Yue-Xiong
Han Eying?"
„Richtig", sagte Yue Kunchi. „Ihr Vater, Han Feng, ist
der Palastwächter von Qi. Sie ist recht begabt, aber aufgrund ihres besonderen
Status habe ich sie nicht als meine persönliche Schülerin aufgenommen, sondern
sie wie eine externe Schülerin behandelt und sie auf diese Weise ein wenig
unterrichtet. Hat Daozhang Shen sie getroffen?"
„Ich hatte das Vergnügen, sie einmal zu treffen",
sagte Shen Qiao.
Er hatte Han Eying nur kennenlernen können, weil Yan Wushi
ihn gerettet hatte. Und der einzige Grund, warum er jetzt hier war, war, dass
Yan Wushi ihn an Sang Jingxing übergeben hatte.
All diese Ursachen und Wirkungen schienen auf unerklärliche
Weise miteinander verbunden zu sein. Am Ende war es vielleicht unmöglich,
irgendetwas davon von diesem einen bestimmten Namen zu trennen.
Shen Qiao erinnerte sich plötzlich daran, was Pu Anmi
gesagt hatte: Dass Yan Wushi bald nicht mehr in der Lage sein würde, sich
selbst zu retten. Und Bai Rong hatte einmal etwas Ähnliches gesagt.
Natürlich hatte jemand, der so launisch und ungezügelt war
wie Yan Wushi, unzählige Feinde. Aber wenn man Shen Qiao fragen würde, wer auf
dieser Welt wirklich in der Lage wäre, ihn zu töten, würde ihm keiner
einfallen. Yan Wushis Kampfkünste und sein dämonischer Kern mochten irgendwo
einen Makel aufweisen, aber er hatte die gewöhnlichen erstklassigen Experten der
Jianghu bereits weit übertroffen. Das zeigte sich in seinem Duell mit Ruyan
Kehui. Wäre der dämonische Kern von Yan Wushi nicht so instabil gewesen, wäre
Ruyan Kehui wahrscheinlich nicht mit nur ein paar Monaten Heilungszeit
davongekommen.
Qi Fengge war weg, und Cui Youwang auch. Es gab niemanden,
der es mit Yan Wushi aufnehmen konnte. So stark er auch war, selbst ein
wiederauferstandener Qi Fengge und Cui Youwang würden ihn nicht besiegen
können.
Aber es war klar, dass Pu Anmi bereits von einem gut
ausgeklügelten Plan wusste. Auch Bai Rong konnte nicht nur Unsinn reden ...
Shen Qiao runzelte die Stirn und verdrängte diese Details
für den Moment aus seinem Gedächtnis.
Wann immer er sich jetzt an Yan Wushis Namen erinnerte,
verspürte er ein seltsames Gefühl. Es war, als wäre er wieder in dem Wald am
Fuße des Bailong- Berges. Dieser intensive Gemütszustand, in dem er von dem
Wunsch beseelt war, alles zu zerstören und zusammen mit Sang Jingxing
unterzugehen, schien ihn ständig zu verfolgen.
Alles zu zerstören und neu aufzuerstehen – das klang so
einfach, aber es hatte ihn fast ein halbes Leben an Entbehrungen gekostet, und
er hatte die Kluft zwischen Leben und Tod selbst überqueren müssen. Er war mehr
Geist als Mensch gewesen, und von dort aus hatte er die tausend Meter hohe
Felswand erklommen und sich Stück für Stück dem Abgrund genähert.
Jetzt war der Himmel klar, aber damals hatte ihn die Angst
fast zerrissen. Es war ein Schicksal schlimmer als der Tod.
„Shen-Shi?" Shiwus besorgte Stimme drang zu ihm durch.
Shen Qiao schenkte dem Jungen ein beruhigendes Lächeln, um
ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung war. Dann sagte er zu Zhao Chiying: „Shiwu
ist jetzt wohlbehalten in der Bixia Sekte. Welche Pläne hat Sektenanführerin
Zhao für ihn? Wenn dieser bescheidene Taoist Euch helfen kann, dann lasst es
mich bitte wissen."
„Ich muss Euch tatsächlich um einen Gefallen bitten",
sagte Zhao Chiying. „Es geht um Shiwu."
Sie begegnete Shen Qiaos verblüfften Augen und sagte: „Shiwu
hatte bereits einen Shifu in der Bixia-Sekte – sein Shifu ist Zhu-Shishu. Diese
Tatsache wird sich nie ändern. Niemand sonst, auch ich nicht, hat ein Recht
darauf, Shiwus Shifu zu sein. Aber ich weiß, dass Daozhang Shen Shiwu auf eurer
Reise vieles beigebracht haben muss. Wenn Shiwu noch jemanden braucht, der ihn
beim Heranwachsen begleitet und ihm die Kampfkünste beibringt, dann möchte ich,
dass Ihr diese Person seid."
Shen Qiao war etwas verblüfft. „Ich fürchte, das würde
gegen Zhu-Xiongs Wünsche verstoßen ..."
Zhao Chiying schüttelte den Kopf. „Zhu-Shishu wollte, dass Shiwu
zu seiner Sekte zurückkehrt, weil er befürchtete, dass Shiwu in Zukunft
niemanden haben würde, auf den er sich verlassen könnte. Aber da Daozhang Shen
hier ist, braucht sich Zhu-Shishu keine Sorgen zu machen. Zhu-Shishu ist nicht
mehr in dieser Welt, aber die Tore der Bixia-Sekte werden für Shiwu immer offen
stehen, und wir werden ihn nicht daran hindern, sich einen anderen Meister zu
suchen. Ich kann sehen, dass Shiwu klug und talentiert ist. Im Moment ist die
Bixia-Sekte sehr schwach, und wir müssen wieder bei Null anfangen. Außerdem bin
ich nicht sehr gut darin, Schüler zu führen – ich fürchte, dass ich Shiwus
ausgezeichnete Begabung nur vergeuden würde. Es wäre das Beste für ihn, Daozhang
Shen zu folgen."
Dann wandte sie sich an Shiwu. „Shiwu, Ihr habt Daozhang
Shen noch nicht offiziell als Euren Shifu anerkannt, oder? Wenn wir heute schon
als Zeugen hier sind, warum nutzt Ihr nicht die Gelegenheit, Eurem Shifu eine Tasse
Tee anzubieten?"
Auf Shiwus Gesicht erblühte Freude. Er musste zu Shen Qiao
schauen. „Darf ich, Shen-Shi?"
Shen Qiao konnte es nicht ertragen, den Jungen zu
enttäuschen, also lächelte er und nickte. „Natürlich."
Shiwu stieß unwillkürlich einen leisen Jubel aus und fiel
sofort vor Shen Qiao auf die Knie. Ernsthaft verbeugte er sich dreimal vor Shen
Qiao und nahm dann die Tasse Tee an, der Zhao Chiying ihm reichte. Er hielt sie
mit beiden Händen über seinen Kopf und sagte strahlend: „Gelobt sei Shizun! Von
diesem Tag an verspricht der Schüler Shiwu, seinem Meister zu dienen, die
Kampfkünste zu studieren und sich aufrichtig zu verhalten! Sollte ich diesen
Schwur jemals brechen, mögen die Fünf Donner auf mein Haupt fallen und Himmel
und Erde mich bestrafen!"
Shen Qiao sah ihn an, seine Augen waren zu lächelnden
Mondsicheln gebogen. Als Shiwu geendet hatte, nahm er ihm die Tasse Tee an und
trank seinen Inhalt in einem Zug aus. Dann zog er den Jungen hoch und klopfte
ihm den Staub von der Kleidung.
Zhao Chiying entkam ein Glucksen. „Zhu-Shishu hat einen
wirklich wunderbaren Shifu für Shiwu gefunden! Daozhang Shen behandelt Shiwu
nicht wie einen Schüler, sondern wie seinen eigenen geliebten Sohn!"
Shiwus kleines Gesicht errötete vor unverhohlener Freude.
Nachdem der Status von Shen Qiao und Shiwu als Meister und
Schüler offiziell bestätigt war, wandte sich Yue Kunchi wichtigeren Dingen zu. „Gerade
eben sagte Pu Anmi, dass sein Shifu, Kunye, bald eintreffen wird,
wahrscheinlich um ihn zu unterstützen. Wenn er hier ankommt und erfährt, dass Ruan
Hailou tot und Pu Anmi gefangen ist, fürchte ich, dass er dies als Grund für
einen Streit nutzen wird. Ich habe gehört, dass Daozhang Shen schon einmal mit
Kunye zu tun hatte – was für ein Mensch ist er? Können wir mit ihm fertig
werden?"
Shen Qiao überlegte einen Moment, bevor er antwortete. „Kämpferisch
gesehen ist er nicht ganz so stark wie sein Shixiong, Duan Wenyang, und es
fehlt ihm die Breite und Tiefe des Geistes. Aber er ist immer noch geschickt
genug, um als erstklassiger Kampfexperte zu gelten. Das könnte ein spannender
Kampf werden."
Yue Kunchis Gesicht wurde von Besorgnis getrübt. „Wenn er
den Berg allein besteigt, ist das eine Sache. Aber wenn er die
Kök-Türken-Kampfexperten mitbringt ... Die Bixia Sekte hat nur noch wenige
Leute. Selbst mit ihrer Stärke wird Shimei nicht in der Lage sein, alle Feinde
allein abzuwehren!"
„Es wird schon gut gehen", sagte Zhao Chiying. „Im
Moment hat die Bixia-Sekte nichts zu verlieren. Auch wenn wir in die Enge
getrieben sind, müssen wir kämpfen. Andernfalls erwartet uns nur, dass unsere
Namen aus der Jianghu gestrichen werden. Aber Yuanbai und Yexue sind noch jung -
Yue-Shixiong, bitte bring sie erst einmal den Berg hinunter, damit sie sich
verstecken und erholen können. Daozhang Shen sollte auch Shiwu wegbringen. Ich
habe mich zu lange zurückgezogen, und alle Verantwortung lag bei Shixiong. Das war
sehr mühsam für dich. Jetzt werde ich alles selbst in die Hand nehmen."
Die Augen von Yue Kunchi wurden rot. „Was sagst du da? Ich
werde nicht gehen!"
Eine Spur von Ungeduld zeichnete sich auf Zhao Chiyings
Gesicht ab. „Du hast schwere Verletzungen, und selbst wenn du bleibst, hilft
das der Situation nicht. Du würdest mir nur noch mehr zur Last fallen und mich
ablenken. Es ist besser, wenn du den Berg mit Daozhang Shen und den anderen
verlässt, anstatt vor meinen Augen herumzulaufen und zu nörgeln!"
Yue Kunchi lachte. „Ich weiß, dass du das sagst, um mich
aus der Gefahr herauszuhalten. Aber die Bixia-Sekte hat ohnehin nichts mehr zu
verlieren, und ob wir nun vorrücken oder uns zurückziehen, wir werden es
gemeinsam tun. Es war meine Schuld, dass das Bergtor heute durchbrochen wurde.
Ich werde mich auf keinen Fall vorzeitig zurückziehen."
Auch Shen Qiao meldete sich zu Wort. „Sektenanführerin
Zhao, Shiwu und ich werden ebenfalls hierbleiben."
Zhao Chiying runzelte die Stirn. „Aber Ihr ..."
„In der Vergangenheit habe ich mich mit Kunye duelliert und
bin in der Niederlage von einer Klippe gestürzt. Auch wenn es eine andere
Geschichte dahinter gibt, die andere nicht zu kennen brauchen, eine Niederlage
ist eine Niederlage. Wenn es jetzt eine weitere Chance gibt, gegen Kunye zu
kämpfen, werde ich sie mit allem, was ich habe, ergreifen. Bitte gebt mir diese
Chance, Sektenanführerin Zhao."
„Und wenn ich mich weigere?", fragte Zhao Chiying.
Shen Qiao lächelte fröhlich. „Dann kann dieser bescheidene Taoist
hier nur schamlos herumlungern, bis Kunye auftaucht."
Zhao Chiying starrte ihn eine Weile an und stieß dann einen
plötzlichen Seufzer aus. „Was haben die Bixia-Sekte und ich getan, dass wir es
wert sind, einen Freund wie Euch zu haben?"
„Es gibt Menschen, die sich ein Leben lang nicht verstehen,
und es gibt Menschen, die bei einer einzigen Begegnung zu alten Freunden
werden. Zhu-Xiong hat sein Leben für mich geopfert, einen Fremden, den er nur
einmal getroffen hat. Natürlich werde ich auch für die Bixia-Sekte kämpfen. Und
es gibt in der Tat eine Geschichte zwischen mir und Kunye, die nicht nur der
Bixia-Sekte zugute kommt.“
Zhao Chiying war Shen Qiao nur ein paar Mal begegnet, sie
kannten sich kaum. Aber da sie gemeinsam die Krise der Bixia-Sekte überstanden
hatten, hatte sie einen hervorragenden Eindruck von ihm gewonnen. Und jetzt sah
sie, wie mutig er sich freiwillig für eine Sekte meldete, zu der er keine
Verbindung hatte, und sie war von Dankbarkeit überwältigt. „Ihre Freundlichkeit
ist zu groß, als dass man ihr mit Worten danken und gerecht werden könnte",
sagte sie. „Ich werde die Freundschaft von Daozhang Shen und Seine Mühe tief in
meinem Herzen bewahren. Ich kann nicht behaupten, dass ich es im Überfluss
zurückzahlen kann, aber wenn Ihr jemals etwas braucht, wird die Bixia-Sekte für
Euch durch Feuer und Wasser gehen, oder was auch immer nötig sein wird."
Sie diskutierten eine Weile über die Sache mit Kunye. Als
sie ihre Entscheidungen mehr oder weniger getroffen hatten, bemerkte Shen Qiao
die Müdigkeit auf Shiwus Gesicht. Er stand auf und verabschiedete sich, während
die anderen zurückblieben, und brachte Shiwu zurück in das Gästezimmer.
Auf dem Weg dorthin fragte Shiwu Shen Qiao: „Shizun, als
Sektenanführerin Zhao sagte, dass sie die Schwierigkeiten, die Ihr auf Euch
genommen habt, fest im Gedächtnis behalten wird, was meinte sie damit? Welchen
Ärger meinte sie damit? Das habe ich nicht ganz verstanden."
„Die Bixia-Sekte befindet sich im stetigen Niedergang",
sagte Shen Qiao. „Sektenanführerin Zhao hat nicht so viel gesagt, aber sie muss
sich furchtbar ängstlich fühlen. Sie weiß, dass in der Jianghu die Starken
herrschen, und so stürzt sie sich darauf, ihre Kampfkünste zu verbessern, und
hofft auf große Erfolge. Auf diese Weise kann sie ihre Sekte vor äußeren
Mächten schützen. Leider hat Lu Feng sie verraten. Er verbündete sich mit
Außenstehenden, um einen Angriff zu starten, als sie gerade an einem kritischen
Punkt in ihrer Kultivierung war. Sektenanführerin Zhao war gezwungen, ihre
Meditation zu unterbrechen. Auch wenn sie es nicht zeigt, hat sie im Moment
innere Verletzungen. Wenn sie sich mit Kunye duelliert, hat sie keine Chance
auf einen Sieg. Sie weiß, dass ich vorschlug, mich mit ihm zu duellieren, um
ihr aus dieser misslichen Lage zu helfen. Deshalb sagte sie, sie sei mir
dankbar für die Mühe, die ich mir gemacht habe."
Shiwu schnappte leise nach Luft und spürte, wie er nervös
wurde. „Und was ist mit Shizun? Kannst du Kunye besiegen? Ich habe gehört, dass
deine geschätzte Person schon einmal gegen ihn verloren hat. Ist er sehr stark?"
Die Sorge des Jungen hatte ihn in Panik versetzt, und er
sprach unbedacht. Jeder andere hätte vielleicht zuerst überlegt, ob seine Worte
Shen Qiaos Stolz verletzen würden.
Lächelnd antwortete Shen Qiao: „Er ist nicht der Stärkste,
aber er hat sicherlich seine Stärken, in denen er sich auszeichnet. Meine
Kampfkünste haben sich noch nicht vollständig erholt – ich kann nicht sagen,
dass der Sieg sicher ist."
„Wie stehen deine Chancen zu gewinnen?"
Shen Qiao versuchte, Shiwus zusammengekniffene Brauen zu
glätten. „Etwa fünfzig-fünfzig.“
Shiwus Augenbrauen glätteten sich nicht nur nicht, sie
zogen sich sogar noch stärker zusammen. Shen Qiaos Worte hatten ihn
offensichtlich erschreckt.
Kunye war kein so starker Kampfkünstler wie Duan Wenyang,
aber er war auch nicht viel schwächer. Die Zusammenarbeit mit Yu Ai, um Shen
Qiao zu vergiften, entehrte seinen Sieg, aber an seinen eigentlichen
Fähigkeiten mangelte es ihm nicht. Wenn Zhao Chiying unverletzt gegen ihn
antreten würde, könnte der Kampf unentschieden enden. Aber jetzt war das schwer
zu sagen. Wäre Shen Qiao nicht hier, wäre die Bixia Sekte vielleicht wirklich
gezwungen, entweder die Sekte bis in den Tod zu schützen oder sich vorsorglich
zurückzuziehen. Aber wenn das geschähe und sie sich zurückzögen, würde der Zhunan-Gipfel
von Außenstehenden besetzt werden, und das seit Generationen bestehende Erbe
der Bixia-Sekte würde auf der Stelle zerstört werden.
Und so war das, was Shen Qiao versprach, mehr als ein Duell
oder ein Gefallen – es war etwas, das die bröckelnden, ramponierten Grundlagen
der Bixia-Sekte sehr wohl erhalten konnte.
Shiwu warf seine Arme um Shen Qiao und vergrub seinen Kopf
an Shen Qiaos Brust. „Musst du kämpfen?", murmelte er. „Deine Kampfkünste
sind noch nicht einmal vollständig zurückgekehrt!"
Shen Qiao umarmte ihn zurück. „Fünfzig-fünfzig, heißt
nicht, dass ich keine Chance habe. Wenn ich alles gebe, was ich habe, kann ich
den Kampf gewinnen. Als ich gegen Kunye verloren habe, war ich auf dem tiefsten
Punkt meines Lebens. Egal, wie viele Gründe oder Ausreden ich vorbringe, er ist
ein Stolperstein auf meinem Weg, ein persönlicher Dämon, dem ich mich stellen
muss. Ich bin gestolpert und gefallen, also muss ich jetzt lernen, wieder aufzustehen.
Verstehst du das?"
Shiwu klammerte sich weiter an ihn und sagte nichts. Es
dauerte lange, bis er flüsterte: „Ich verstehe ... Ich will nur nicht, dass dir
etwas zustößt ..."
„Mir wird nichts passieren." Shen Qiao lachte. „Ich
bin dein Shifu, also muss ich hundert Jahre alt werden! Ich habe versprochen,
sowohl Zhu-Xiongs als auch meinen eigenen Anteil am Leben zu erhalten. Wenn du
ein weißbärtiger alter Mann bist, wird dich dieser Meister immer noch an den
Ohren herumschleifen und dir den ganzen Tag lang Vorträge halten! Mal sehen, ob
du das dann als lästig empfindest!"
Shiwu stieß ein Lachen aus und konnte sich ein Lächeln
nicht verkneifen.
Shen Qiao seufzte und streichelte den Kopf des Jungen. „Andere
Meister haben ihre Schüler, die sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie ihrem
Meister Respekt erweisen können, und ich zerbreche mir den Kopf darüber,
wie ich dich glücklich machen kann! Ich habe eine so angesehene Rolle
übernommen, aber ich habe überhaupt keine Würde!"
Shiwu strahlte und entgegnete nichts. Du magst der am
wenigsten würdige Meister sein, dachte er bei sich, aber du bist der
beste Meister der Welt.
Allein der Gedanke, dass er der Schüler von Shen Qiao war,
erfüllte ihn mit Genugtuung.
Zwei Tage lang blieb es am Fuße des Berges ruhig, und kein
Außenstehender kam. Das gab der Bixia Sekte die Zeit, sich auszuruhen und neu
zu organisieren. Shiwu half Fan Yuanbai und den anderen, die im Kampf
gefallenen Schüler der Bixia-Sekte zur Ruhe zu betten, einen nach dem anderen.
Nach all dem Blut und dem Gemetzel war alles, was von dieser einst lebendigen
Sekte übrig geblieben war, eine leere Fläche.
Durch großes Glück hatten Fan Yuanbai und Zhou Yexue
überlebt, aber auf ihren Gesichtern war keine Freude zu erkennen. Sie trauerten
beide um die verlorenen Mitschüler und hatten Angst vor dem bevorstehenden
heftigen Kampf. Natürlich waren sie nicht in bester Laune.
Am dritten Tag läutete die Glocke vor dem Zhengyang-Pavillon,
und schon bald drang ihr Läuten überall in der Bixia-Sekte durch. Es war eine
Nachricht von den Schülern, die das Mittelgebirge bewachten: Jemand kam den
Berg hinauf, und sie konnten ihn nicht aufhalten.
Als sie die Nachricht verstanden, eilten alle zu den Toren
des Berges. Dort sahen sie einen jungen Mann stehen, der die Hände hinter dem
Rücken verschränkt hatte und in ein fremdes Gewand gekleidet war. Ihm folgten
zwei weitere Personen mit schweren Brauen und hervorstehenden Nasen. Ihr langes
Haar fiel ihnen bis zu den Schultern und war zu Zöpfen geflochten, und um ihre
Köpfe waren Tücher gewickelt. Diese besondere Art der Kleidung verriet ihre
Identität auf einen Blick.
„Wir wussten nicht, dass wir ehrenwerte Gäste haben würden",
sagte Zhao Chiying streng. „Bitte verzeihen Sie uns, dass wir Sie nicht
empfangen haben. Ich bin die Sektenanführerin der Bixia-Sekte, Zhao Chiying.
Darf ich fragen, wie der Name dieses verehrten Meisters lautet?"
„Kunye von den Kök-Türken. Ich bin hier, um meinen
unwürdigen Schüler abzuholen", sagte der Mann stolz. Dann musterte er sie
mit einem messenden Blick und schüttelte den Kopf. „Ihr seid die
Sektenanführerin der Bixia-Sekte, Zhao Chiying? Gerüchten zufolge seid Ihr ein
außergewöhnliches Talent, das Eure Sekte wiederbelebt hat. Aber jetzt sehe ich,
dass nicht viel an Euch ist."
Fan Yuanbai und andere standen hinter ihr. Sie blickten ihn
wütend an, weil er so etwas gesagt hatte, aber insgeheim war Zhao Chiying
verblüfft.
Sie erinnerte sich plötzlich an Shen Qiaos Einschätzung von
Kunye: Er war im Khaganat hoch angesehen und ein Schüler von Hulugu. Daher war
er zwar unglaublich arrogant, aber seine Kampfkünste waren das einzig Wahre,
und das zu Recht. Er war nicht stark genug für die zehn Besten, aber er war
nicht weit davon entfernt. Unabhängig davon, ob er sich in das Duell auf dem
Banbu-Gipfel eingemischt hatte, war er jemand, mit dem man nicht spaßen konnte.
Wenn Kunye so etwas in dem Moment sagte, in dem sie sich
trafen, war es offensichtlich, dass er Zhao Chiying nicht einfach herabsetzen
oder sie provozieren wollte. Vielmehr konnte er erkennen, dass sie an inneren
Verletzungen litt und ihm nicht gewachsen war.
Seine Augen waren tatsächlich messerscharf, genau wie Shen
Qiao es beschrieben hatte.
Zhao Chiyings Herz sank ein wenig, aber sie ließ es sich
nicht anmerken. „Der weise König der Kök-Türken hat uns also mit seiner
Anwesenheit beehrt. Ihr Schüler und Ruan Hailou von der Dongzhou-Sekte haben
gemeinsam mit Lu Feng, einem Verräter unserer Sekte, gemeinsam unzählige
Schüler der Bixia-Sekte abgeschlachtet. Kann der weise König der Linken eine
Erklärung dafür liefern?"
Kunye stieß ein spöttisches Lachen aus. „Pu Anmi wurde von
den Ältesten eurer verehrten Sekte hierher eingeladen. Er kam als Gast auf den
Berg. Doch was ihn erwartete, waren nicht feine Weine und exquisite
Köstlichkeiten, sondern die Waffen der Schüler eurer verehrten Sekte. Als sein
Shifu weiß ich nicht einmal, ob er tot oder lebendig ist. Kann Sektenanführerin
Zhao eine Erklärung dafür liefern?"
Das war eine reine Spitzfindigkeit. Wenn Kunye und sein
Schüler nicht von vornherein vereinbart hatten, dass er den Fischer spielen
würde, der das Netz einholt – dass er zur Bixia Sekte kommen und von dem
Konflikt profitieren würde – wie konnte er dann wissen, dass Pu Anmi dort
gefangen gehalten wurde?
Auf den Gesichtern der übrigen Mitglieder der Bixia-Sekte
zeichnete sich Wut ab.
Zhao Chiying hatte Pu Anmi nicht getötet, nachdem sie ihn
eingesperrt hatte, aber sie konnte ihn auch nicht einfach freilassen. Wenn sich
herumgesprochen hätte, dass die Bixia-Sekte den Kök-Türken nachgegeben hatte, würde
ihr Ansehen in der Jianghu kaum noch vorhanden gewesen. Außerdem musste Pu Anmi
noch die Blutschuld begleichen, die er mit dem Tod unzähliger Schüler auf sich
geladen hatte.
„Wir beide wissen sehr gut, was Euer Schüler getan hat",
sagte Zhao Chiying kühl. „Es ist sinnlos, dass der weise König der Linken so
ein Theater macht. Solange es noch ein einziges Mitglied der Bixia-Sekte gibt,
werden wir nicht zulassen, dass Ihr Pu Anmi mitnimmt."
Kunye lachte schallend, als hätte er einen gewaltigen
Scherz gehört. „Zhao Chiying, so wie ich das sehe, stehen nicht einmal zehn
Schüler hinter Euch. Die Bixia-Sekte ist schon seit einiger Zeit nur noch dem
Namen nach eine Sekte. Woher nehmt Ihr das Selbstvertrauen, so kühn zu
sprechen? Wenn ich Euch heute töte, wird die Bixia- Sekte aufhören zu
existieren!"
„Man kann Menschen töten, aber man kann nicht ihre Herzen
töten."
Es war eine furchtbar vertraute Stimme. Kunyes Augenbrauen
zuckten unwillkürlich und er drehte sich um, um nachzusehen. Ein Mann, der ein
Schwert trug, kam auf ihn zu.
Ein Gesicht, das vertrauter nicht hätte, sein können –
eines, das Kunye sogar in seinen Träumen sah.
Denn einst hatte er auf dem Banbu-Gipfel gegen diesen Mann
gekämpft.
Und dieses Duell hatte die Aufmerksamkeit der ganzen Welt
auf sich gezogen, und damit war Kunye in der gesamten Zentralebene zu Ruhm
gelangt.
Und damit war der Mann vor ihm völlig entehrt worden und
hatte seine gesamte Kampfkunst verloren. Obwohl er das Glück hatte, zu
überleben, blieb ihm für den Rest seines Lebens nichts anderes übrig, als zu
verkümmern und kraftlos nach Atem zu ringen.
„Shen. Qiao." Kunye zwang diesen Namen zwischen
zusammengebissenen Zähnen hervor. In seiner Stimme lagen so viele Emotionen,
dass sogar Kunye selbst sie nicht hätte beschreiben können.
„Ich hoffe, es geht Euch gut, Kunye."
Shen Qiao nickte ihm zu, so wie er es an jenem Tag auf dem
Banbu-Gipfel getan hatte. Aber damals war Shen Qiao ein Großmeister gewesen,
der eine Sekte leitete, jemand, den die ganze Welt bewunderte. Und Kunye war
gerade erst in die Zentralebene gekommen und hatte sich noch keinen Namen
gemacht.
Aber die Zeit war vergangen und die Dinge hatten sich
geändert. Ihre Positionen hatten sich gewaltig verändert. Kunye war nicht mehr
der Kunye, und Shen Qiao war nicht mehr der Sektenanführer des Xuandu-Berges.
Aber warum war er immer noch so ruhig?
Von dem Moment an, als sie sich gegenüberstanden, betrachtete
Kunye Shen Qiao genau, aber er konnte nicht einmal ein Flackern von Trauer oder
Niedergeschlagenheit entdecken.
Shen Qiao war immer noch derselbe Shen Qiao. Er schien sich
überhaupt nicht verändert zu haben.
Nein!
Irgendwo muss er sich doch verändert haben.
„Sektenanführer Shen", sagte Kunye plötzlich. „Ah
nein, ich kann Euch nicht mehr Sektenanführer nennen. Daozhang, seid ihr bei
eurem Sturz von der Klippe verletzt worden? Irgendetwas scheint an Euren Augen
seltsam zu sein."
„Ja", sagte Shen Qiao. „Allerdings haben meine Augen
nichts mit dem Sturz zu tun. Das hat Freudige Wiedervereinigung verursacht. Was
das Warum und Wie betrifft, so wissen Sie das sicher besser als ich."
Kunye schüttelte den Kopf. „Ihr solltet Eurem Shidi, Yu Ai,
die Schuld geben. Er war derjenige, der Euch vergiftet hat, nicht ich. Ich habe
Euch zu einem Duell herausgefordert, Euch einen Brief geschickt und dann auf
dem Banbu-Gipfel offen und ehrlich gegen Euch gekämpft. Jeder hat es gesehen,
ich habe nie etwas Unredliches getan."
Er betrachtete das Schwert in Shen Qiaos Hand und kicherte.
„Habt Ihr hier auf mich gewartet, weil Ihr mit Eurer Niederlage unzufrieden
wart? Oder setzt Ihr Euch nur für die Bixia-Sekte ein, obwohl sie nichts mit Euch
zu tun hat?"
„Die Angelegenheiten der Vergangenheit sind wie das
vorbeifließende Wasser: Sie können nicht zurückgebracht werden. Ich habe hier
nur auf Euch gewartet, um Euch zu einem Duell zu bitten. Wagt Ihr es, meine
Herausforderung anzunehmen?"
Langsam zog er sein Schwert aus der Scheide und ließ es mit
der Spitze zum Boden gerichtet und leicht zitternd hängen. Das schimmernde
Sonnenlicht glitzerte blendend auf dem Metall.
Der spöttische Blick auf Kunyes Gesicht verblasste, und
seine Miene wurde unvergleichlich ernst.
Auch er zog den Säbel von seinem Rücken.
Dieser Kampf war vorherbestimmt. Es war nur eine Frage des
Zeitpunkts gewesen.
Kunye spürte, wie ihm ein Kribbeln durch die Knochen fuhr.
Zwar hatte er Shen Qiao schon einmal besiegt, doch tief in seinem Herzen nagte
die Freude über das Wiedersehen auch an ihm. Die Zweifel daran, wie sein Sieg
zustande gekommen war, blieben.
Diesmal würde erShen Qiao dazu bringen, seine Niederlage
mit ganzem Herzen zu akzeptieren!
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