In seinem Leben gab es das Wort "Reue" nicht.
In dem Jahr, als er die Familie Xie verließ, hatte es
gestimmt. Und es war wahr gewesen, als er seinen Namen in "Wushi"
geändert hatte. Später, als er gegen Cui Youwang kämpfte, war es immer noch
wahr.
Der Himmel und die Erde waren weit, und er sah keine Herren,
keine Väter und keine Meister.
Himmel und Erde waren unermesslich, und niemand hatte je
eine Spur in seinem Herzen hinterlassen können.
Shen Qiao würde da keine Ausnahme sein.
Als er Shen Qiao zum ersten Mal getroffen hatte, war er für
Yan Wushi nur "Qi Fengges Schüler und Stolz". Die anhaltende
Unzufriedenheit, die er seit seinem Duell mit Qi Fengge hegte ... vielleicht
konnte er sie durch Shen Qiao beseitigen.
Aber er erkannte schnell, dass er sich geirrt hatte.
Shen Qiao war nur ein blinder Mann, der kaum noch
Kampfkünste besaß. Wenn man ihn irgendwo auf die Straße werfen würde, würde ihm
niemand auch nur ein einziges Kupfer geben. Der ehemalige Sektenanführer vom
Xuandu-Berg war bereits erledigt.
Yan Wushi grinste aus tiefstem Herzen, während er voller
Bosheit darüber nachdachte.
Qi Fengge war zu Lebzeiten ein Held der Helden gewesen, aber
sein Auge für Schüler war wirklich nichts Besonderes. Da Shen Qiao nicht sein
Gegner sein konnte, konnte Yan Wushi ihn nur zu seinem Spielzeug machen.
Konnte ein scheinheiliger Sektenanführer, dessen Hände mit
dem Blut Unschuldiger befleckt waren, noch sein ursprüngliches reines und
erhabenes Selbst bewahren? Sicherlich war das unmöglich. Das war höchstens eine
amüsante Ablenkung mit einem vorhersehbaren Ende, hatte Yan Wushi gedacht.
Sofort wurde es langweilig.
Aber er hätte nie gedacht, dass er sich einmal irren würde.
Dieser blinde Mann hatte es wirklich geschafft, immer wieder durchzuhalten. Er
war mit dem Verrat seiner Kampfgeschwister konfrontiert worden, und als Yan
Wushi seinen Gesichtsausdruck sah, dachte er fast, der Mann würde weinen. Aber
Shen Qiao tat es nicht.
„Alle haben gesagt, dass du im Unrecht bist, und du wurdest
von denen verraten, die dir am nächsten standen. Bist du immer noch nicht
verzweifelt?", hatte er Shen Qiao gefragt.
Doch der blinde Mann hatte nicht geantwortet. Stattdessen
wandte er den Kopf zum unaufhörlichen Nieselregen vor dem Fenster, zu den
schönen verwelkten Blumen. Doch Yan Wushi wusste, dass der Mann nichts davon
sehen konnte.
„Du keinen Ort, an dem du vorankommen kannst, und keinen
Ort, an den du dich zurückziehen kannst. Du bist allein und von allen Seiten
umzingelt. Es wäre einfacher, wenn du einfach sterben würdest", sagte Yan
Wushi leichthin, während er den blinden Mann ansah, „Meinst du nicht auch?"
„Nein", der Mann stieß einen leisen Seufzer aus, und
ausgerechnet in diesem Seufzer verbarg sich eine Spur von mitfühlendem Kummer, „Wenn
ich falschliege, werde ich es korrigieren. Aber ich werde nicht sterben. Ich
fürchte, ich werde Yan-Zongzhu enttäuschen müssen."
Ist das so? Yan Wushi schnaubte ein
tonloses Lachen. Das liegt nur daran, dass du noch nicht in der wahren
Verzweiflung angekommen bist.
Als er in der Vergangenheit mit Cui Youwang gekämpft hatte,
war Yan Wushis Taihua weggenommen worden. Viele Jahre lang hat er es nicht
wiedergefunden. Nach Cui Youwangs Tod war das Taihua in die Hände seines
Schülers Sang Jingxing gefallen.
Aber Yan Wushis Kampfkünste hatten bereits einen zweiten Weg
eingeschlagen. Ob er nun Taihua hatte oder nicht, machte für ihn wenig
Unterschied.
Sang Jingxing wusste das nicht; er nahm nur an, dass der
Verlust seines Schwertes eine große Schande und Demütigung für Yan Wushi
gewesen war, also ließ er absichtlich jemanden eine Nachricht an Yan Wushi
überbringen: dass er Taihua gegen die Zhuyang-Strategie eintauschen
würde.
Natürlich würde Yan Wushi das niemals tun, aber er hatte
eine noch bessere Idee. Er würde Shen Qiao, den ehemaligen Sektenanführer der bedeutendsten
daoistischen Sekte der Welt, für den Tausch benutzen. Für Shen Qiao war dies
nicht nur eine äußerst tückische Situation, sondern auch die ultimative
Demütigung. Für den großen und erhabenen Sektenanführer des Xuandu-Berges war
es nicht mehr wert als ein entbehrliches Taihua-Schwert.
Yan Wushis Fingerspitzen landeten auf Shen Qiaos Stirn, dann
wanderten sie leicht zu seinem Kinn hinunter. Sein blasser Teint verriet seine
Krankheit, und der schlanke, zierliche Hals sah aus, als würde er schon bei
einem leichten Druck brechen. Doch hinter dieser Erscheinung verbarg sich ein
stählerner Kern, der niemals nachgeben würde.
Er kannte Sang Jingxing, und er wusste, was Sang Jingxing
mit dieser Art von Shen Qiao anstellen würde. Also, Shen Qiao, was wirst du
tun?
Die Entscheidung, die er traf, würde sehr interessant sein.
Als Yan Wushi an die Tore des Bailong-Klosters klopfte,
dachte er bereits darüber nach, wie die Antwort lauten könnte. Shen Qiao,
willst du dich beugen oder willst du lieber brechen?
Es war eine mondhelle Nacht.
Shen Qiao blickte Yan Wushi und Sang Jingxing, die nicht
allzu weit entfernt standen, eisig an. Vielleicht war es aber auch gar nicht
frostig, sondern nur das silberne Licht des Mondes, das sich auf sein Gesicht
ergoss und ihm ein Gefühl der Kälte verlieh.
Als Yan Wushi seinen heiteren Gesichtsausdruck betrachtete,
stieg plötzlich ein Hauch von Bedauern in seinem Herzen auf. Aber dieser Anflug
von Bedauern reichte nicht aus, um ihn umzustimmen.
„Du bist zu weich und schwach, A-Qiao", er beugte sich
in der Taille und strich das lose Haar an Shen Qiaos Schläfe sanft hinter sein
Ohr, eine Bewegung so zart wie die Weiden im Frühling, „Die Weichen und
Schwachen werden nie etwas aus sich machen, und sie sind noch weniger geeignet,
meine Gegner zu sein."
Shen Qiao sah ihn nur an, ohne zu sprechen.
„Ich hoffe, dass du überleben wirst", Yan Wushi lachte,
„Aber wenn du ein Shen Qiao wirst, der einfach nur halb tot ist und sich vor
anderen verbeugt, wirst du nicht mehr als ein gewöhnlicher Mensch ohne
irgendwelche bemerkenswerten Eigenschaften sein. Ist es nicht so?"
Er warf Shanhe Tongbei in die Arme des Mannes, dann klopfte
er ihm leicht auf die Schulter. „Ich wünsche dir viel Glück."
Dann erhob er sich. Und ging. Sein Qinggong war in der Lage,
riesige Entfernungen zu überwinden, als wären es nur Zentimeter, aber heute
setzte er es nicht ein. Stattdessen ging er Schritt für Schritt davon. Hinter
sich hörte er, wie Sang Jingxing Shen Qiao auslachte, und seine Stimme klang
spöttisch und verächtlich.
Yan Wushi drehte sich nicht um.
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