Kapitel 21

Natürlich weisen alle Kampfkünstler zumindest ein paar Merkmale auf, die zu einer solchen Rolle passen. Manche konnten ihren Stolz nicht ablegen, manche das Prestige ihrer Position. Die meisten Menschen mit hohem Status und Ansehen würden es nicht in sich haben, um ihre eigene Würde zu erschüttern, jemanden als menschlichen Schutzschild zu benutzen. Nur jemand wie Yan Wushi, der eine Schriftrolle der Zhuyang Strategie bedenkenlos zerstören konnte, konnte einen so schamlosen Schachzug durchziehen. Kein Wunder, dass Yu Ai wütend wurde und Shen Qiao selbst sprachlos war.

Yan Wushi brachte ihn den ganzen Weg den Berg hinunter und quer durch die Stadt Xuandu, bis sie an einer Relaisstation ankamen, die dort stand, wo sie zuerst die Außenbezirke der Stadt betreten hatten. Hier wuchs ein spärlicher Baumbestand, aber er war noch ziemlich offen.

Er setzte Shen Qiao ab.

Shen Qiao faltete seine Hände. "Vielen Dank."

Er war während seines Kampfes mit Yu Ai verletzt worden. Sein ganzer Körper war voller blockiertem Qi und stagnierendem Blut. Erst jetzt, nachdem einige Zeit vergangen war, spürte er, wie die Wärme langsam in seinen Körper zurückkehrte und Gefühl in seine Arme und Beine strömte.

Yan Wushi jedoch warf ihm ein unhöfliches Grinsen zu. „Also, was genau war der Sinn deiner Reise zum Xuandu Berg? Es hat nur bestätigt, was ich zuvor gesagt habe: Wenn eine Person von etwas profitieren kann, ist ihr Herz wertlos. Deine Kampfgeschwister — Menschen, mit denen du aufgewachsen bist — sie haben nicht gezögert, dich zu verraten, wenn es ihren Interessen diente. Sie lassen dich sorglos von einer Klippe stürzen, nur um sich den Titel des Sektenanführers zu sichern. Qi Fengge prahlte damit, dass seine Sekte aufrichtig und gerecht, ehrlich und offen sei, aber seine Schüler verhalten sich so, als würden sie in einer unserer dämonischen Sekten gelehrt! Wirklich unglaublich!"

Natürlich wusste er, dass der Xuandu Berg unermüdlich nach Shen Qiao gesucht hatte, nachdem er von der Klippe gestürzt war, und dass er mit leeren Händen zurückgekommen war, weil er selbst Shen Qiao gerettet hatte. Aber Yan Wushi hatte keinen Grund, sich für sie einzusetzen — er war mehr als glücklich zu sehen, wie Shen Qiao mutlos wurde, zu sehen, wie er von einem weichherzigen, unterdrückten Sektenanführer zu einem Mann wurde, der die ganze Welt hasste und ablehnte.

Aber Shen Qiao nahm das Gespräch nicht auf; er suchte einen Felsbrocken in der Nähe und bewegte sich langsam darauf zu.

Yu Ai neigte zu Sturheit und war stark utilitaristisch. Er strebte bei allem, was er tat, nach Perfektion, und das war er schon seit seiner Kindheit. Wenn er nicht beim Xuandu Berg gewesen wäre, wäre er jetzt vielleicht ein anderer Yan Wushi geworden. Aber all die Jahre hatte er sein Herz und seine Seele in den Xuandu Berg gesteckt, ohne auch nur ein bisschen versteckten Egoismus. Die Kampfgeschwister liebten sich alle hingebungsvoll, und es war genug, um selbst die härtesten Herzen zu erwärmen. Qiao hätte nie gedacht, dass er so etwas tun würde. Außerdem war Yu Ai nicht Yan Wushi. Aber vor seinem Verrat hätte Shen Qiao nie gedacht, dass er so etwas tun würde. Selbst wenn Qi Fengge wiederbelebt werden würde, würde er wahrscheinlich dasselbe denken.

Yu Ai hatte seine Niederlage durch Kunyes Hände herbeigeführt. Er ließ Shen Qiao vor aller Augen gegen den Kök-Türken verlieren. Mit seinem Ruf in Trümmern hatte Yu Ai einfach die Position von Shen Qiao übernommen. Es war ja nicht so, dass ihn irgendjemand für unqualifiziert halten würde, also würde von da an alles glatt laufen. Schließlich hätte Shen Qiao, selbst wenn er noch am Leben wäre, nicht das Gesicht, darum zu bitten, als Sektenanführer weiterzumachen.

All dies klang sehr vernünftig. Aber zusammen mit Yu Ais Aufrichtigkeit, als er über seine eigenen Probleme gesprochen hatte und dass er gesagt hatte, er tue alles, damit der Xuandu Berg über den anderen Sekten der Welt stehen könne, sahen die Dinge ein bisschen seltsam aus.

Wenn die Probleme, von denen Yu Ai sprach, real waren und er wirklich einen anderen Grund für sein Handeln hatte, dann konnte er nicht nur davon gesprochen haben, mit Kunye zusammenzuarbeiten, um Shen Qiao von der Klippe zu stürzen.

Er arbeitete definitiv mit den Kök-Türken an noch größeren und wichtigeren Angelegenheiten.

Shen Qiao runzelte die Stirn, sein Kopf prickelte vor Schmerz, als würde er mit Nadeln gestochen werden. Egal, wie sehr er darüber nachdachte, er verstand es immer noch nicht.

Seit dem Umzug der Jin-Dynastie nach Süden und dem Aufstand der Fünf Barbaren hatte es häufige Regimewechsel gegeben. Aber obwohl das Zhou und das Qi starke nördliche Einflüsse trugen, waren sie immer noch der Han-Methode gefolgt und hatten sich so allmählich akkulturiert. Wenn sie diejenigen wären, die die Welt vereinten, dann würden die Menschen es akzeptabel finden, wenn auch vielleicht mit einigen Schwierigkeiten. Aber wenn es stattdessen, jemand wie der Königshof der Kök-Türken gewesen wäre — die immer noch wie brutale Nomaden lebten, ihr Vieh auf den Wiesen weiden ließen und regelmäßig in die Zentralebenen eindrangen — dann würden sie bei Weitem nicht als die erleuchteten Herrscher angesehen werden.

Das Bild des Kök-Türken als launenhaft, grob und rüpelhaft war tief in den Herzen der Menschen der Zentralebenen verankert. Yu Ai würde niemals eine solche allgemeine Verurteilung riskieren, wenn es nicht einen absolut astronomischen Vorteil geben würde.

Was also plante Yu Ai, und was würde er von den Kök-Türken dafür bekommen? Oder, anders formuliert, was hätte Xuandu Berg davon?

Shen Qiao brachte bei Yan Wushi solche Dinge nicht zur Diskussion.

Obwohl sie sich jetzt viel näherstanden, waren sie immer noch keine Freunde. Außerdem war Yan Wushi launenhaft, seine Moral unberechenbar; es war töricht, ernsthaften Rat einzuholen, wenn sie eine so oberflächliche Bindung hatten.

Shen Qiao konnte nur alleine darüber nachdenken, indem er das Thema so einfach und in seinem Kopf hin und herschob.

Aber egal, wie sehr er nachdachte, es fühlte sich an, als wäre ein dünnes Stück Fensterpapier zwischen ihm und der Antwort — er konnte nicht gut genug hindurchsehen, um es zu entwirren.

„Genug ausgeruht?“, sagte Yan Wushi plötzlich.

Shen Qiao blickte verblüfft auf. Seine Ablenkung ließ ihn mit einem etwas arglosen Ausdruck zurück.

„Wenn du genug Ruhe hast, lass uns kämpfen."

Shen Qiao brauchte einen langen Moment, um das zu verdauen. Er zwang sich zu einem schiefen Lächeln. „Sektenanführer Yan, wie könnte ich Euch gewachsen sein? Habt Ihr das nicht schon bewiesen?“

Verblüfft antwortete Yan Wushi: „Warum sollte ich dich sonst mitnehmen? Was geht es mich an, ob du lebst oder stirbst? Hätte ich nur die Schriftrolle der Zhuyang Strategie gewollt, wäre ich selbst direkt zum Xuandu Berg gegangen. Warum so viel Ballast mitbringen? Aber du hast zwei Bänder der Zhuyang Strategie in dir. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du deine Kampfkünste wiedererlangst. Solch ein Glück kommt nicht zu irgendjemandem. Ich wollte schon lange die Kampfkünste von Tao Hongjing mit jemandem lernen, der sich mit der Zhuyang Strategie auskennt. Ich kann aber nicht gegen mich selbst kämpfen, und ich kann schon gar nicht diesen kahlköpfigen Esel Xueting jagen, um gegen ihn zu trainieren. Macht dich das nicht zum geeignetsten Kandidaten?"

Die Mundwinkel von Shen Qiao zuckten. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte.

Nach einer Weile antwortete er schließlich: „Ich habe nur noch drei Zehntel meiner Kraft zurück und ich wurde verletzt, als ich gerade mit Yu Ai kämpfte. Ich fürchte, meine Fähigkeiten werden mangelhaft sein."

„Deshalb habe ich dir eine große Gnade zuteilwerden lassen und dich eine Weile dort sitzen und ausruhen lassen."

„Ich habe langsam das Gefühl, dass der Hausarrest auf dem Xuandu Berg keine so schlechte Option war“, sagte Shen Qiao hilflos.

„Du hast dein Gedächtnis bereits wiedererlangt“, sagte Yan Wushi. „Das bedeutet, dass du dich an den Band der Zhuyang Strategie erinnern kannst, den du zuvor gelernt hast, und ihn nach Belieben verwenden kannst. Darüber hinaus reichte das Lesen des anderen Bandes im Chuyun Tempel aus, um ihn vollständig aufzunehmen und deine Fähigkeiten auf die nächste Stufe zu heben."

Shen Qiao dachte darüber nach und nickte dann aufrichtig. „Das ist in der Tat so.”

Obwohl Yan Wushis Motive nicht rein waren und er Shen Qiao immer wieder für seine eigenen Zwecke, und zur Selbstdarstellung benutzt hatte, hatte er das Gefühl, mehr Dankbarkeit zeigen zu müssen.

„Seitdem ich die Residenz verlassen habe, habe ich dem Sektenanführer Yan nicht mehr richtig gedankt“, sagte er. „Wenn Ihr nicht gewesen wärt, fürchte ich, wäre ich am Fuße des Banbu Gipfels zu einer verlorenen Seele geworden."

"Wem du danken solltest, ist dem wahren Qi der Zhuyang Strategie, das in deinem Körper ist", sagte Yan Wushi. "Wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich mich nicht darum gekümmert, dich zu retten."

Es war ein ziemlich düsteres Gespräch, aber Shen Qiao antwortete in guter Laune. „... In Ordnung, ich werde ein paar Räucherstäbchen für Shizun verbrennen, um seinem geschätzten Selbst zu danken, dass er die Zhuyang Strategie an mich weitergegeben hat."

„Ich konnte nichts vom wahren Qi der Zhuyang Strategie in Yu Ais Körper spüren, als wir kämpften, also glaube ich, dass Qi Fengge sie nur an dich weitergegeben hat."

Shen Qiao nickte. „Das stimmt. Ich war allein an dem Tag, an dem Shizun mir den Band der Verlorenen Wanderseele überbrachte und mir befahl, ihn durch Rezitation zu interpretieren. Er verbot mir, ihn aufzuschreiben. Ich weiß nicht, ob er noch da ist."

Yan Wushi fand das sehr interessant. „Wollte Qi Fengge nicht, dass das Vermächtnis des Xuandu Berges über Generationen weitergegeben wird? Wollte er nicht, dass sich jeder einzelne Schüler auszeichnet? Warum hat er dir nur den Band von Verlorene Wanderseele gezeigt?“

Shen Qiao antwortete langsam. „Ich habe Shizun schon einmal nach dem Grund gefragt, aber er hat nicht geantwortet. Shizun und der vollendete Meister Tao waren alte Freunde im Leben. Ich habe gehört, dass er, nachdem der vollendete Meister Tao die Zhuyang Strategie abgeschlossen hatte, von Bedauern erfüllt war. Er dachte, dass, wenn das Buch herauskäme, es zu endlosen Konflikten und Streitigkeiten in der Welt führen würde, dass viele Menschen als Folge davon sterben würden. Ich denke, vielleicht ging es Shizun bis zu einem gewissen Grad genauso. Er wollte, dass das Lebenswerk seines alten Freundes weitergegeben wird, aber er wollte auch nicht, dass es sich zu weit verbreitet, damit sich die Welt nicht darum streitet und tötet. Deshalb hat er eine so widersprüchliche Entscheidung getroffen."

Yan Wushi schnaubte verächtlich. „Was für eine törichte Weichheit! Qi Fengge war schon immer so. Er hat Hulugu nicht erledigt, als sie kämpften, und am Ende hinterließ er eine Katastrophe, die auf seine Nachfolger wartete! Unvergleichlich in der Kampfkunst, aber mit dem Herzen einer unentschlossenen Frau. Wenn er sich so fühlte, warum sollte er dann den Schülern des Xuandu Berges Kampfkünste beibringen? Wäre es nicht besser, den Xuandu Berg in ein gewöhnliches taoistisches Kloster zu verwandeln? Wenn man sich eine Welt ohne Krieg wünscht, beginnt man bei sich selbst.“

Seine Worte waren hart und bissig, aber nicht völlig unbegründet.

Shen Qiao und sein Meister waren in einem Aspekt gleich, und das war ihr wohlwollendes Herz, immer rücksichtsvoll und sanft zu anderen. Aber er und Qi Fengge hatten auch ihre Differenzen. In diesen Tagen wanderte Shen Qiao durch die Außenwelt, und dort wurde er Zeuge der verarmten Lebensgrundlagen und des Leidens der einfachen Leute, den Mächtigen der Welt, und wie sie alle in ihr Schachspiel hineingezogen wurden. All dies zu sehen, veränderte allmählich Shen Qiaos Denkweise. Er hatte erkannt, dass der Xuandu Berg ebenfalls im Staub der Welt der Sterblichen stand, dass es für sie unmöglich war, sich friedlich von weltlichen Angelegenheiten zu lösen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie selbst ins Spiel einsteigen mussten.

Schade, dass er keine Zeit hatte, Reformen für den Xuandu Berg durchzuführen. Yu Ai sprang ein, um ihn zu ersetzen, und war fest entschlossen, den Xuandu Berg in eine unbekannte Richtung zu lenken.

Shen Qiao senkte den Kopf und versank in tiefer Kontemplation.

Aber aus der Nähe zeigte Yan Wushi schweigend und ohne Vorwarnung mit dem Finger auf Shen Qiao.

Seit Shen Qiao sein Augenlicht verloren hatte, hatte er bewusst seine Ohren trainiert. Jetzt hörte er ein leises, seltsames Geräusch und schlug schnell gegen den Felsbrocken, als er aufsprang und sich mit großer Geschwindigkeit rückwärts bewegte.

Das Qinggong des Xuandu Berges war unübertroffen. Als er diese Schritte mit dem Titel ‘Ein Regenbogen erstreckt sich über den Himmel‘ ausführte, war seine Gestalt wie ein Lotus über dem Wasser, der sanft unter der Liebkosung des Windes hin und her schwebte, oder wie eine Weide, die langsam ihre Zweige entrollte, deren Bewegung unbeschreiblich schön waren. Man konnte bereits den schwachen Schatten seiner Kräfte in voller Größe erkennen.

Aber Shen Qiaos Kraft hatte sich noch nicht erholt und Yan Wushi war viel schneller. Einen halben Schritt später zerschmetterte der Felsbrocken, auf dem er gesessen hatte, mit einem Brüllen, und seine Splitter flogen auf Shen Qiao zu.

Glücklicherweise beschwor Shen Qiao rechtzeitig sein wahres Qi herauf, sodasssodass er einem Trümmerregen im Gesicht entging, aber die messerscharfen Splitter zerfetzten seinen Ärmel und schlugen in sein Handgelenk ein. Sein blasses Handgelenk war sofort blutverschmiert.

„‘Die Quellwasserkräuselung, umarmt mein Spiegelbild; meine Wunschvorstellungen bröckeln, und nur Asche bleibt zurück.‘ Sein Ruf ist wirklich verdient." Shen Qiao ignorierte die Verletzung und richtete stattdessen seine ganze Aufmerksamkeit darauf, auf die Geräusche der Bewegungen seines Gegners zu lauschen.

Yan Wushi war es nicht gewohnt, Gnade zu zeigen, sobald er angegriffen hatte.

Nach all der Zeit, die sie zusammen verbrachten, war sich Shen Qiao in diesem speziellen Punkt sehr klar.

Er würde kämpfen müssen, bis sein Gegner zufrieden war, oder er würde sterben, und zwar vergeblich.

 

 

 

Erklärungen:

Relaisstationen waren früher der Ort, an dem für Reisende frische Pferde in Bereitschaft standen. Diese wurden für wichtige Relaisketten des Schnellkurierdienstes in geeigneten Abständen aufgebaut.

Der Utilitarismus ist eine zweckorientierte Ethik. Auf eine klassische Grundformel reduziert besagt er, dass eine Handlung genau dann moralisch richtig ist, wenn die Summe des Wohlergehens aller Betroffenen, maximiert ist.

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