Shen Qiao hatte ihr nichts mehr zu sagen. Der Bambusstock in seinen Händen blitzte, schnell wie ein Schatten, auf. Er schlug mit der Wucht einer heulenden Böe zu und durchflutete den engen Raum mit wahrem Qi. Die Fackel war längst erloschen, und das Mondlicht strömte ins Innere der Höhle und vermischte sich mit den Schlägen ihrer Handflächen wie ein Fluss von Sternen, die über den Himmel leuchteten und eine lebhafte, elegante Szene malten.
Wo immer ihr inneres Qi auftauchte und aufeinander traf,
schnitt es wie ein Messer. In kürzester Zeit waren Li Yues Gesicht und Hände
aufgeschlitzt und bluteten. Nur Yan Wushi saß weiter wie zuvor, scheinbar
unempfindlich wie ein Diamant. Wahres Qi und Schockwellen trafen ihn, aber sie
hinterließen kaum Spuren.
Bai Rong war ungeduldig und fürchtete sich vor den
ungewollten Wendungen, die der Kampf nehmen könnte, wenn er sich in die Länge
zog. Mit einer Bewegung ihres Ärmels streute sie zahllose Körner feinen Pulvers
aus – farblos und geruchlos begleiteten es ihre Handflächenschläge. Ein
normaler Kampfkünstler hätte Zeit gehabt, dem Pulver auszuweichen, aber egal
wie empfindlich Shen Qiaos Ohren waren, er konnte es nicht sofort wahrnehmen.
Nur einen Moment später breitete sich ein Taubheitsgefühl in seinem Körper aus,
seine Arme und Beine wurden schwach und verrieten ihm, dass er auf Bai Rongs
Trick hereingefallen war.
„Shen-Lang, oh Shen-Lang", sagte Bai Rong. „Du hättest
mir fast alles ruiniert, aber ich werde dir trotzdem Gnade erweisen. Die Droge
ist nicht giftig, sie wird deine Arme und Beine nur für einen halben Tag
lahmlegen. Du musst dich an diesen Gefallen erinnern, den ich dir erwiesen
habe. Aber könntest du jetzt bitte aufhören, mir in die Quere zu kommen?"
Sie klang immer noch sanft und süß, als würde sie mit ihrem
Geliebten schmusen, während sie mit ihrer Handfläche nach Shen Qiao schlug.
Schließlich war die Droge möglicherweise nicht vollständig wirksam, also war es
besser, ihn zu schlagen, bis er sich nicht mehr wehren konnte. Auf diese Weise
konnte sie sich in Ruhe um Yan Wushi kümmern.
Ihr Schlag traf ihn, und Shen Qiao prallte gegen eine raue,
zerklüftete Steinwand. Schmerz durchzuckte ihn, und er spürte, wie etwas Warmes
und Nasses durch seine Robe zu sickern begann.
„Shen-Lang, nimm mir meine Rücksichtslosigkeit nicht übel",
sagte Bai Rong sanft. „Du hast darauf bestanden, ihn zu beschützen, also musste
ich dich zuerst loswerden. Aber mach dir keine Sorgen! Ich habe meine Meinung
geändert – ein toter Yan Wushi würde mir nichts nützen, aber ein hirnloser
Idiot als Sektenanführer der Huanyue-Sekte? Das würde den Interessen der Hehuan-Sekte
weitaus besser dienen, also werde ich sein Leben verschonen!"
Sie hob ihre schöne, helle Handfläche, während sie sprach,
und schlug sie auf den Scheitel von Yan Wushis Kopf.
Bai Rong war sich sicher, dass sie die richtige Kraft
eingesetzt hatte. Mit diesem Schlag würde sie Yan Wushis Schädel nicht im
Geringsten beschädigen, sondern nur sein Gehirn.
Doch bevor ihre Handfläche ihr Ziel traf, musste sie zur
Seite ausweichen. Der Bambusstock sauste wie ein Schatten hinter ihr her.
„Hast du die Droge nicht inhaliert?" Bai Rong war
ungläubig.
„Ein bisschen schon", sagte Shen Qiao. „Aber ich habe
rechtzeitig die Luft angehalten." Shen Qiao hustete, seine Bewegungen
wurden etwas langsamer.
Bai Rong witterte ihre Chance und griff an, indem sie ihre ‘Sechzehn
Schritte vom Himmel bis zum Abgrund‘ nutzte, um wie ein Phantom vor Shen Qiao
zu erscheinen. Sie stach mit ihrem Zeige- und Mittelfinger auf Shen Qiaos Herz
ein und durchschlüpfte so seine Abwehrkräfte. Sie wollte ihn zum Rückzug
zwingen, aber Shen Qiao wich nicht zurück, sondern bewegte sich sogar vorwärts
und zwang Bai Rong, ihre Hand zurückzuhalten.
„Magst du ihn so sehr?! Genug, um dein Leben zu geben, um
ihn zu beschützen?!", schrie Bai Rong, völlig verzweifelt.
Shen Qiao blieb stumm. Es war nicht klar, ob er nicht
bereit war, etwas zu erklären, oder ob er dachte, dass das Sprechen zu viel
Aufwand wäre.
In diesem Moment öffneten sich die fest geschlossenen Augen
von Yan Wushi.
Shen Qiao stand mit dem Rücken zu ihm, wodurch er es nicht
sehen konnte, aber Bai Rong sah es.
Ihr Herz machte einen Sprung vor Schreck, als sie sah, wie
Yan Wushi sie direkt anstarrte. Da sie nicht feststellen konnte, in welchem
Zustand er sich befand, sagte sie: „Shen-Lang, dein Geliebter ist aufgewacht!
Hast du noch die Zeit, gegen mich zu kämpfen?"
Da er sich sicher war, dass sie log, ignorierte Shen Qiao
sie natürlich. Erst als ihn eine kühle Brise von hinten erreichte, wurde er
sich dessen bewusst und war gezwungen, sich umzudrehen, um abzublocken.
Bai Rong nutzte die Gelegenheit und setzte sich leise in
der Nähe des Höhleneingangs in Bewegung. „Du dachtest, ich würde lügen? Nun,
ich werde euch zwei allein lassen. Ich hoffe, ihr habt eine schöne Zeit
miteinander! Ich werde mich nicht
einmischen!"
Mit einem weiteren Kichern verschwand sie aus dem Eingang
der Höhle.
Mit jemandem wie Shen Qiao konnte sie fertig werden, aber
mit jemandem wie Yan Wushi – zumal einem, der Kämpfen konnte – konnte es nur
den Tod geben. Als sie sich also sicher war, dass Yan Wushi wach war, entschied
sie sich sofort für die Flucht.
Ein brutaler Hieb von vorne ließ den Bambusstock durch die
Luft fliegen. Shen Qiao hatte nicht einmal Zeit zu sprechen, bevor seine Kehle
in einem brutalen Würgegriff gepackt wurde.
„Shen Qiao."
Die Stimme war eiskalt, keine Spur von Emotionen.
Der Griff um seine Kehle war so erdrückend, dass sein
Genick zu zerbrechen drohte!
Shen Qiao war kurz davor zu ersticken, doch in seiner Panik
holte er zu einem Handflächenschlag aus.
Doch Yan Wushi wich nicht aus, sondern nahm den Schlag
direkt entgegen. Sein Griff lockerte sich und er wich einige Schritte zurück,
aber er verlor kein Blut.
Währenddessen krümmte sich Shen Qiao in der Taille und
hustete so stark, dass ihm Tränen über das Gesicht liefen. Die verbliebene
Kraft schwand aus seinem Körper, und er sackte zu Boden.
Nach langer Zeit ergriff Yan Wushi wieder das Wort. „Warum
bist du hier?"
Seine Stimme klang viel näher an seinem normalen Ton, aber
Shen Qiao blieb misstrauisch. Er lehnte sich keuchend gegen die Steinwand. „Ihr
hattet eine Qi-Abweichung."
Yan Wushi schaute zu Li Yue, der immer noch in der Höhle
lag, dann richtete er seinen Blick wieder auf Shen Qiao. Plötzlich lächelte er.
„Ich liege doch nicht falsch, oder?", sagte er. „Dir wurde eine so gute
Gelegenheit geboten, und du hast sie nicht ergriffen und mich getötet? Du hast
dich nicht einmal versteckt und zugesehen, wie ich getötet wurde, sondern du
hast dich eingemischt."
„Warum sollte ich Euch töten?", fragte Shen Qiao.
Yan Wushi brach in Gelächter aus. „A-Qiao, hast du so viel
Zeit mit mir verbracht, dass du dich tatsächlich in mich verliebt hast?"
Shen Qiao keuchte weiter, dann sagte er langsam fünf Worte:
„Ich zahle meine Schuld zurück."
„Deine Schuld zurückzahlen?" Erstaunen färbte Yan
Wushis Lächeln.
„Ich erinnere mich, dass ich dir am Anfang gesagt habe,
dass ich dich nur aus einer Laune heraus gerettet habe. Ich wollte sehen, ob du
geeignet bist, mein Gegner zu sein. Und ich wollte es genießen, zu sehen, ob
eine arme Seele, wie du zusammenbrechen würde – jemand, der nichts hat, der von
seinen engsten Verwandten verraten und verlassen wurde. Ich wollte sehen, ob du
den Schock nicht verkraften kannst und den Verstand verlierst."
„Egal aus welchen Motiven, es ändert nichts daran, dass Ihr
mich gerettet habt. Selbst wenn Ihr mich nur gerettet hättet, um mich später zu
töten, sollte ich dankbar sein, bevor ich getötet werde."
Yan Wushi brach in ein noch lauteres Lachen aus. „A-Qiao,
oh A-Qiao, ich glaube nicht, dass du ein Taoist sein solltest! Hättest du doch
nur den Buddhismus praktiziert. Mit deinem weichen Herzen hättest du dich
vielleicht schon zum höchsten der heiligen Mönche kultiviert! Dann wärst du
nicht von einer Klippe gestürzt und in einem so tragischen Zustand gelandet."
Shen Qiao ignorierte seinen Sarkasmus. Er holte tief Luft
und fuhr dann fort: „Jetzt, wo Yuwen Yong an der Macht ist, könnte man Zhou
fast als friedlich bezeichnen. Wenn Ihr nicht hier wärt und nur Bian Yanmei und
Yu Shengyan die Huanyue-Sekte anführen würden, könnten sie vielleicht die
Ambitionen der verschiedenen Mächte um Euch herum abwehren. Und wenn das
Unglück Yuwen Yong stürzen sollte, könnten die Minister und Beamten einem neuen
Kaiser weiter dienen. Aber wenn andere Länder die Gelegenheit nutzen, um den
Krieg zu erklären, dann werden am Ende nur die einfachen Bürger darunter
leiden."
Yan Wushi lächelte. „Nun, deine Zunge ist wirklich schärfer
geworden." Mitten in ihrem Gespräch wachte Li Yue auf.
Zuerst sah er fassungslos und verwirrt aus, aber als er
sah, dass Yan Wushi ihn interessiert musterte, verwandelte sich sein Schock
sofort in Panik. Er stolperte halb, kroch halb auf die Beine und stürzte ohne
ein weiteres Wort zum Ausgang.
Yan Wushi schnippte achtlos einen Kieselstein aus seiner
Hand. Die Steinscherbe streifte Li Yues Ohr und hinterließ ein feines Rinnsal
aus Blut.
Li Yue kreischte auf und rannte noch schneller davon.
Wenn Yan Wushi ihn hätte töten wollen, wäre er schon längst
eine kalte Leiche gewesen.
Shen Qiao wusste nicht, warum Yan Wushi seine Meinung
geändert hatte, und er hatte auch nicht die Kraft, es zu erraten. Er lehnte
sich an die Wand, aber die getrocknete Wunde auf seinem Rücken schmerzte immer
mehr. Ohne das wahre Qi, das durch seinen Körper zirkulierte, wäre er zu Eis
erstarrt.
Yan Wushi wandte sich ihm zu und sagte: „Ich werde ihn
nicht töten, denn es gibt unzählige Möglichkeiten, jemandem ein schlimmeres
Schicksal als den Tod zu bereiten. Da es ihm nicht gelungen ist, mich zu töten,
wird er von nun an in ständiger Angst vor meiner Vergeltung leben müssen. Sein
Leben wird niemals einfach werden. Ich brauche nur von Zeit zu Zeit Leute unter
meinem Namen zu schicken, um ihn zu belästigen, und er wird sich für mich halb
zu Tode ängstigen. Findest du das nicht viel unterhaltsamer?"
Doch Shen Qiao kam ein anderer Gedanke. „Selbst wenn ich
nicht eingegriffen hätte, hätten Li Yue und Bai Rong Euch nicht töten können,
oder?"
„Das ist richtig", sagte Yan Wushi. „Ich konnte mich
nicht bewegen, aber ich konnte trotzdem die Außenwelt wahrnehmen. Ich habe eure
Gespräche gehört – du hast das eiskalte Qi in mir entdeckt. Wenn du versucht
hättest, mich zu töten, wärst auch du von der Rückwirkung des kalten Qi
getroffen worden."
Shen Qiao seufzte leise. Plötzlich sagte er: „Bai Rong ist
gegangen“
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Bai Rong außerhalb der Höhle
gelauert, um sich zu vergewissern, ob Yan Wushi sich wirklich erholt hatte oder
nicht. Erst als Li Yue floh und das Gespräch zwischen Yan Wushi und Shen Qiao
hörte, gab sie schließlich auf und ging ebenfalls.
Yan Wushi lachte. „Warum seufzt du, A-Qiao? Du bist den
ganzen Weg auf den Berg geklettert und hast alle Gefahren ignoriert, um mich zu
beschützen. Wie könnte ich dir da nicht einen Gefallen tun? Du magst es nicht,
wenn ich Leute töte, also lasse ich sie dieses Mal gehen. Das ist kein Problem
für mich. Und es wäre so schade, wenn das kleine Mädchen Bai Rong jetzt sterben
würde. Mit ihr in der Nähe kann sich die Hehuan-Sekte auf eine Menge Spaß
freuen!"
Er erhob sich und bückte sich, um Shen Qiao hochzuheben.
Doch in dem Moment, als seine Hand den Rücken des anderen Mannes berührte,
erschauderte Shen Qiao – wahrscheinlich, weil seine Robe an seiner Wunde rieb.
Yan Wushi bemerkte das und zog Shen Qiao stattdessen auf
den Rücken.
Er hatte gerade eine Qi-Abweichung erlitten und befand sich
in einer gefährlichen Situation, aber jetzt schien es ihm gut zu gehen, und er
schritt die Klippe von der Höhle hinunter, als wäre es ebener Boden. Nach
kurzer Zeit waren sie bereits am Fuße des Berges angelangt.
Nachdem sie in den Gästekomplex zurückgekehrt waren, nahm Shen
Qiao seine Medizin, regulierte seine Atmung, um sich zu erholen, und begab sich
dann direkt in eine dreitägige Abgeschiedenheit.
Als er drei Tage später wieder auftauchte, hatten die
Abgesandten von Zhou ihre Mission bereits beendet und bereiteten sich auf die
Heimreise vor.
Als Yuwen Qing hörte, dass er verwundet war, schickte er
viele Leute mit Stärkungsmitteln in den Gästekomplex. Er war insgeheim
neugierig, wie der Kampf zwischen Yan Wushi und Ruyan Kehui ausgegangen war –
er hatte gehört, dass er unentschieden ausgegangen war, aber er kannte keine
Einzelheiten. Da er nicht den Mut hatte, Yan Wushi persönlich zu fragen, wollte
er Shen Qiao aufsuchen. Leider hatte sich Shen Qiao zurückgezogen und war nicht
in der Lage, sich mit ihm zu treffen, und so wartete Yuwen Qing drei Tage lang
voller Unruhe, bis Shen Qiao endlich herauskam.
Dann machte er sich eilig auf den Weg, um Shen Qiao zu
finden. Zuerst erkundigte er sich nach seinem Befinden, dann sagte er verlegen:
„Ich hätte nicht gedacht, dass es an diesem Tag so voll sein würde. Ich wäre
beinahe von Yu Zi getrennt worden. Ich hoffe, Ihr seid nicht ernsthaft verletzt
worden."
„Vielen Dank, Yuwen-Xiong, für Eure Sorge", sagte Shen
Qiao. „Es waren nur ein paar kleinere Verletzungen. Die meisten sind bereits
verheilt."
„Ich will ehrlich zu Euch sein", sagte Yuwen Qing. „Wir
sind auf dem Weg zurück nach Zhou, und wenn alles wie erwartet verläuft, werden
einige von der Linchuan- Akademie dort sein, um uns zu verabschieden. Aber wer
genau hat den Kampf zwischen Junior-Präzeptor Yan und Akademiemeister Ruyan
gewonnen? Ihr habt den Kampf vom Rand aus beobachtet, also müsst Ihr alles
wissen. Der Junior-Präzeptor hat nichts gesagt, und ich habe zu viel Angst, ihn
um Antworten zu bitten, aber wenn er gewonnen hat, kann ich die Leute von der
Linchuan-Akademie ein wenig verspotten und das Prestige unseres Großen Zhou
zeigen!"
Shen Qiao hatte nicht damit gerechnet, dass Yuwen Qing
wegen einer so banalen Sache zu ihm eilen würde. Er fand das irgendwie komisch.
„Sektenanführer Yan hat mit knappem Vorsprung gewonnen, glaube ich."
„Ah." Yuwen Qing wölbte die Brauen vor Vergnügen, aber
da war auch etwas Unglauben. „Wirklich? Ich habe gehört, dass Ruyan Kehui ein
sehr mächtiger Kampfkünstler ist, der zu den drei besten der Welt gehört.
Vielleicht ist er sogar die Nummer eins?"
Yuwen Qing würde die Kampfkünste auch mit einer
ausführlichen Erklärung nicht verstehen, also wählte Shen Qiao die einfachste
Antwort. „In Wahrheit waren beide verletzt. Bei Sektenanführer Yan löste es
einige alte Verletzungen aus, aber im Falle von Akademieleiter Ruyan wurden,
wenn ich richtig liege, seine Meridiane beschädigt. Er wird wahrscheinlich
einen Monat lang nicht in der Lage sein, sein wahres Qi frei zu nutzen."
„Warum nur einen Monat? Ich würde sagen, er wird drei
Monate lang gegen niemanden kämpfen können."
Eine kühle Stimme kam aus der Richtung der Tür, und Yan
Wushi trat ein.
„Wenn Ihr etwas fragen wolltet, warum seid Ihr dann nicht
persönlich zu mir gekommen?"
Aus irgendeinem Grund versetzte der Anblick von Yan Wushi
Yuwen Qing immer in Unruhe. In dem Moment, in dem Yan Wushis furchterregender
Blick auf ihn fiel, war es, als würden Nadeln auf seinem Stuhl sprießen und ihn
unkontrolliert zusammenzucken lassen. „Der Junior-Präzeptor hat täglich
Tausende von Dingen zu erledigen", antwortete er sofort mit einem nervösen
Lachen. „Deshalb wage ich es nicht, Sie zu stören – ich wollte Sie überhaupt
nicht stören. Ich werde es gleich beaufsichtigen und dafür sorgen, dass das
Packen erledigt wird. Sobald wir abfahrbereit sind, schicke ich jemanden
vorbei, der es Ihnen sagt."
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, verließ er auch schon den
Raum. Yan Wushi wandte sich an Shen Qiao. „Wie war es?"
Shen Qiao wusste, worauf er hinauswollte. „Euer Kampf mit
Ruyan Kehui war brillant – er war außergewöhnlich. Vielleicht haben andere neue
Erkenntnisse gewonnen, aber ich habe in den drei Tagen meiner Abgeschiedenheit
außer der Heilung einiger alter Wunden keine Fortschritte gemacht. Es fühlt
sich an, als ob eine Art Barriere mich daran hindert, weiter voranzukommen. Ich
drehe mich auf der Stelle. Das einzig Gute ist, dass sich mein Kreislauf des
wahren Qi etwas beruhigt hat und meine Augen etwas besser geworden sind – ich
kann jetzt Licht und Schatten grob erkennen."
Wie schade, sagte eine Stimme
tief in Yan Wushis Herz. Kalt und lieblos, gefühllos und herzlos.
Aber nichts davon zeigte sich in seinem Gesicht.
Stattdessen schenkte er Shen Qiao ein kleines Lächeln. „Das ist gut."
Bald verbreitete sich die Nachricht vom Duell zwischen Yan
Wushi und Ruyan Kehui wie ein Lauffeuer.
Alle interessierten sich vor allem dafür, wer gewonnen
hatte.
In der Südlichen Chen-Dynastie war Ruyan Kehui nicht nur in
der Jianghu berühmt, sondern auch am kaiserlichen Hof eine bedeutende
Persönlichkeit. Der Herr von Chen behandelte ihn mit größtem Respekt, und auch
Kaiserin Liu stammte aus der Linchuan-Akademie. Daher war der Status der
Linchuan-Akademie in den Augen vieler Südländer so besonders und bemerkenswert,
dass er genauso gut das Oberhaupt des Konfuzianismus und der Kampfkünste in der
Südlichen Chen-Dynastie hätte sein können.
Bei dieser Art von Status und Ansehen war selbst die
Vorstellung, dass Ruyan gegen Yan Wushi verlieren könnte, praktisch
unvorstellbar.
Aber alle, die den Kampf an diesem Tag gesehen hatten,
sprachen von einem Unentschieden – das war eine Tatsache. Und seit Ruyan Kehui
zurückgekehrt war, hatte er sich in der Linchuan Akademie eingeschlossen und
sie nicht mehr verlassen. Ganz gleich, wer zu Besuch kam, man konnte kein
Treffen mit ihm bekommen. Yan Wushi war genauso – er blieb im Gästekomplex und
ging nie woanders hin. Dies heizte die Gerüchteküche nur noch mehr an. Die
einen sagten, beide seien schwer verwundet worden, die anderen, Ruyan Kehui
habe knapp gewonnen, und nun schäme sich Yan Wushi zu sehr, sein Gesicht zu
zeigen.
Zur gleichen Zeit schickte Yuwen Qing eine Nachricht, in
der er mitteilte, dass er Akademiemeister Ruyan zu einem Bankett einladen
wolle, das Sektenanführer Yan in seinem Gästekomplex gebe. Er sagte, er hoffe,
der Akademiemeister könne sich die Zeit nehmen, sie mit seiner Anwesenheit zu
ehren. Das war seine eigene Erfindung: eine Methode, die Südländer zu
blamieren, die er sich ausgedacht hatte, nachdem er Shen Qiaos Bericht über das
Duell gehört hatte. Wenn der Meister der Linchuan Akademie nicht auftauchte,
konnte er sie gnadenlos verspotten. Und wenn Ruyan Kehui anwesend war, würde
das auch funktionieren – schließlich hatte er nie gesagt, dass Yan Wushi beim
Bankett erscheinen würde.
Obwohl die beiden Länder ein Bündnis geschlossen hatten,
wusste jeder, dass es nur vorübergehend war. Im Moment hatten sie alle das
gleiche Ziel, aber sobald dieses Ziel verschwunden war, würden die Verbündeten
wieder zu Feinden werden. Die Aufrechterhaltung des Anscheins an der Oberfläche
funktionierte gut genug, aber unter der Oberfläche hatten die Kämpfe nie
aufgehört.
Nicht wenige Südländer waren über die Einladung verärgert.
Sie alle waren der Meinung, dass Yuwen Qing zu weit gegangen war. Einer nach
dem anderen kamen viele, die von ihren eigenen Kampffähigkeiten überzeugt
waren, in den Gästekomplex und forderten Yan Wushi heraus.
Aber Yan Wushi war ein Mann, der selbst seinen Egoismus und
seine Überheblichkeit für diejenigen reservierte, die ihm ebenbürtig waren. Der
mittelmäßige Rest war seiner Aufmerksamkeit nicht wert, also konnte es ihm egal
sein, was sie sagten oder dachten. Und wenn er sie wirklich ‘persönlich grüßen‘
würde, würden sie am nächsten Tag nicht einmal mehr die Sonne grüßen.
Tatsächlich brauchte Yan Wushi überhaupt nichts zu tun. Die
Männer, die mit Yuwen Qing gekommen waren, reichten aus, um mit den
Kampfkünstlern fertig zu werden, die gelegentlich bei ihm anklopften.
Zwei Tage später traf endlich eine Nachricht von der
Linchuan-Akademie ein. Sie lehnten Yuwen Qings Einladung dankend ab und
erklärten, der Akademiemeister sei in der Abgeschiedenheit und könne sich mit
niemandem treffen.
Diese Antwort schien Yuwen Qings Andeutungen zu bestätigen,
und die Stimmen, die die Abgesandten der Zhou für zu arrogant hielten,
verstummten über Nacht. Yuwen Qing war natürlich hocherfreut und wollte Shen
Qiao informieren, doch dann erfuhr er von Ruru, dass Shen Qiao bereits
abgereist war.
Da Ruru völlig im Dunkeln tappte, war Yuwen Qing gezwungen,
nach Yan Wushi zu suchen, auch wenn er sich nicht traute, mit ihm zu sprechen.
„Junior-Präzeptor", sagte er, „wissen Sie, wohin der Taoistische
Meister Shen gegangen ist?"
„Was sehnt Ihr Euch so sehr nach ihm?", fragte Yan
Wushi zurück.
Yuwen Qing schenkte ihm zaghaft ein entschuldigendes
Lächeln. „Nichts dergleichen. Der Taoistischer Meister Shen ist mit uns hierher
gereist, also sollte er auch mit uns zurückkehren. Aber jetzt ist er
verschwunden, also sollte ich mich erkundigen."
„Er ist gegangen", sagte Yan Wushi.
„Hm?"
Eigentlich hatte Yan Wushi kein Interesse daran, ihm zu
viel zu erzählen, aber Yuwen Qings enttäuschter und verwirrter Ausdruck
amüsierte ihn. „Er hat mir vor einer Weile gesagt, dass er allein gehen würde,
nachdem er das Duell dieses Ehrwürdigen mit Ruyan Kehui gesehen hat."
„Aber wohin kann er allein gehen?", murmelte Yuwen
Qing. „Hat er nicht gesagt, er könne nicht zum Xuandu Berg zurückkehren?"
Yan Wushi lachte. „Yuwen Qing, Ihr habt Eure geliebte
Konkubine mit auf die Reise genommen, aber jetzt wankt Ihr? Ihr macht Euch
solche Sorgen um Shen Qiao – ist diese ehrwürdige Person nichts für Euch?"
Obwohl er lächelte, als er sprach, durchlief Yuwen Qing ein
Schauer. Da er sich nicht traute, weitere Fragen zu stellen, entschuldigte er
sich und zog sich eilig zurück.
Yan Wushi beobachtete die erbärmliche Gestalt, die Yuwen
Qing beim Weglaufen machte, legte träge das Buch in seiner Hand ab und sah aus
dem Fenster.
Ein Lächeln umspielte noch immer seine Lippen, aber in
seinen Augen lag eine unheimliche Belustigung.
_________________________
In diesem Moment befand sich Shen Qiao auf einer Straße,
die nach Norden führte.
Die Sonne schien genau zur richtigen Zeit. Er war blau
gekleidet, trug seinen Bambusstock, die Enden seiner Robe flatterten, und er
konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, das sich um seine Lippen kräuselte.
Er blinzelte und legte eine Hand auf die Stirn, um das
Sonnenlicht abzublocken, und konnte so die Szene vor ihm erkennen. Obwohl er
nicht mehr so klar sehen konnte wie vor seinen Verletzungen, schätzte er die
Sicht, die er jetzt hatte, mehr denn je.
Bevor er abreiste, hatte er Yuwen Qing aufgesucht, um sich
zu verabschieden, aber der andere Mann war nicht da gewesen. Also schrieb er
einen Brief an Yuwen Qing und bat Ruru, ihn ihm in seinem Namen zu übermitteln.
Aber Ruru hatte große Angst vor ihrem Herrn, und so war es möglich, dass sie
den Brief zuerst an Yan Wushi weitergegeben hatte. Allerdings enthielt der
Brief nicht viel mehr als die üblichen Höflichkeiten.
Shen Qiao hatte gedacht, Yan Wushi würde sich weigern, ihn
gehen zu lassen, aber die Dinge liefen erstaunlich glatt – Yan Wushi sagte
wenig und stimmte sofort zu, was Shen Qiao etwas verwunderte.
Der Charakter dieses Huanyue-Sektenanführers war genau so,
wie ihn die Gerüchte beschrieben hatten: launisch und unberechenbar. Selbst
nachdem sie so viel Zeit miteinander verbracht hatten, wagte es Shen Qiao noch
immer nicht zu behaupten, dass er ihn völlig verstand.
Vielleicht lag es daran, dass er sich geweigert hatte, den
dämonischen Kern zu akzeptieren, und daran, dass das Projekt, seine Kampfkünste
wiederzuerlangen, so hoffnungslos erschien. Yan Wushi hielt ihn nicht länger
für einen würdigen Gegner und war in seiner Enttäuschung froh, ihn gehen zu
lassen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er mühsam auf Berge geklettert
war, um die Angriffe von Li Yue und Bai Rong abzuwehren, und dieser Akt hatte
Yan Wushi schließlich bewegt. Würde das nicht beweisen, dass, egal wie herzlos
und gefühllos ein Mensch war, tief in seinem Herzen immer noch eine Spur von
Menschlichkeit lag?
Shen Qiao schüttelte den Kopf und lachte hilflos über seine
eigenen Mutmaßungen. Vielleicht dachte er zu gut über andere, aber wenn es ihn
glücklicher machte, was war falsch daran, das Beste in den Menschen zu sehen?
Seine Reise aus Jiankang heraus verlief reibungslos. Die
Region südlich des Jangtse war seit dem Altertum immer wohlhabend gewesen. Sie
war von Land und Wasser umgeben und auch politisch stabil. Dort konnte man
leicht vergessen, dass die Welt immer noch in Aufruhr war.
Als er jedoch die Grenze von Chen überschritt und Qi
betrat, immer noch auf dem Weg nach Norden, nahm die Zahl der Reisenden und
Händler merklich ab, und auf ihren Gesichtern war weniger Zufriedenheit,
weniger Freude zu lesen. Stattdessen war eine gewisse Nervosität und Müdigkeit
zu erkennen.
Shen Qiao fand Gefallen daran, die Emotionen in ihren
Gesichtern zu beobachten, vielleicht weil er so lange Zeit den Zustand einer
Person anhand ihrer Stimme beurteilt hatte. Auch wenn er nicht klar sehen
konnte, gab es immer noch eine Menge zu entdecken.
Der April wurde zum Mai, während er reiste und sich in
einigen Abständen ausruhte. Sein Tempo war nicht langsam, denn wenn ihm danach
war, wandte er auch Qinggong an. Kaum jemand wusste, dass dieser reisende
Gelehrte, der sorglos und entspannt, gestützt auf einen Stock, umherwanderte,
in Wirklichkeit der geknechtete ehemalige Sektenanführer des Xuandu-Berges war,
der dem Dämonenfürsten hörig gewesen war.
Inzwischen hatte sich die Nachricht vom Kampf zwischen Yan
Wushi und Ruyan Kehui in der Bevölkerung herumgesprochen. Anscheinend fand in
der Provinz Liang eine große Kampfkunstkonferenz statt, denn Shen Qiao sah
viele Leute aus der Jianghu dorthin eilen und hörte, wie sie alle über das
Duell sprachen. Natürlich verehrten die Menschen in Qi Ruyan Kehui nicht so wie
die Menschen im Süden. Stattdessen waren ihre Worte voll des Lobes für Yan
Wushi. Es lag in der menschlichen Natur, Menschen mit großer Stärke zu
bewundern, und Yan Wushis Stärke brachte ihm viele Bewunderer ein – sogar einige,
die nicht der dämonischen Disziplin angehörten.
Shen Qiao befand sich gerade in einem Teehaus außerhalb der
Hauptstadt der Provinz Liang und hörte zu, wie sich andere Gäste über den
brillanten Kampf zwischen Yan Wushi und Ruyan Kehui unterhielten. Sie hatten
ihn zwar nicht persönlich miterlebt, aber ihre Berichte waren so übertrieben
und blumig, dass man meinen könnte, sie hätten ihn selbst gesehen. Shen Qiao
konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Neben ihm war ein Platz frei, und bald setzte sich jemand
darauf. Shen Qiao nippte mit gesenktem Kopf an seinem Tee, und bevor er
aufblicken konnte, hörte er den Neuankömmling sagen: „Was für ein Zufall!"
Shen Qiao fand keine Worte mehr.
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Mich wundert das es ein Kapitel ist stand in der Vorschau nicht was von 2 ? (ich bin nur kurz verwirrt gewesen)
AntwortenLöschenAber dieses Kapitel manchmal hab ich echt geflucht, Wushi verlieb dich doch ein bisschen Schneller und lass den aber A-Qiao doch nicht so einfach ziehen - was bist du nur für einer. Komm so enttäuscht kannst du doch nicht sein, immer ein Grund zur Freude Shen Qiao kann nun wieder besser sehen als vorher :D das freut mich mega, aber wohin will er denn nun genau hin ? Das er so lange unterwegs ist das so das so paar Wochen ins Land ziehen?
Ich hab so das Gefühl das am Ende Yan Wushi sich neben in gesetzt hat der Shen Qiao die Worte gefällt haben XD zu trauen würde ich es Wushi ja so unberechenbar er ist XD.
Muss aber noch sagen, das ich mich auch sehr freue mich nun mit mehr Leuten austauschen zu können :D über die Bücher und echt großes Lob für die Arbeit die ihr da macht mit den übersetzten.
Ups, da habe ich mich beim Wochenüberblick vertippt. Dabei habe ich doch schon vorher drei mal drüber geschaut. Tut mir sehr leid. Ich hasse sowas.
LöschenYan Wushi triezt unseren Shen Qiao auch zu gerne. Ob das wohl die Süße seines Alltags oder Lebens geworden ist?
Ich meine mir Shen Qiao hat aber auch eine Ausdauer mit dem Laufen. Ich würde mir nur ungern die Hacken krumm laufen, aber damals gab es halt keine Fahrräder geschweige den Autos.
Ich frage mich, was für eine Sehstärke Shen Qiao hat? Ist sie schlechter als meine, nein ernsthaft ohne Brille kann ich nicht einmal arbeiten, geschweige denn etwas klar erkennen das weiter als ca. 13 cm von mir entfernt ist. Könnte man Shen Qiaos Sehschwäche mit einer Brille oder Lasern fixen?
Ich fand es irgendwie süß, dass sich Yuwen Qing nach Shen Qiao bei YAN WUSHI erkundigt hat. Es ist echt toll, dass Shen Qiao allein durch sein Verhalten, Auftreten, etc. den Leuten im Gedächtnis bleibt ohne das er aktiv etwas dafür tut.
Shen Qiao will Yu Ai folgen und versuchen ihn irgendwie aufzuhalten. Genaueres erfährst du im nächsten Kapitel.
Ja, wer kann das wohl sein. Ich spoilere dich ein bisschen, ist ja eh etwas das man im ersten Absatz von Kapitel 43 erfährt.
Wären die Geschichten nicht so grandios würde mir die Arbeit des Übersetzens nur halb so viel Spaß machen und ich wäre vermutlich dabei nicht ganz so schnell wie jetzt.
Kein Thema passiert :)
LöschenDas macht er wirklich einfach zu gerne XD Aber Langweilig wird es deswwegen ja auch nicht.
Mhm seine Sehstärke wäre echt interessant, aber es kann ja nur noch besser werden. Was er aber mit Yu Ai vor hat :D bin gespannt wie das ablaufen wird.
Es wahr ja auch mega Süß wie er sich da erkdunigt hat bei Yan Wushi :D zu goldig.
Der vergessene Spoiler folgt. Es ist Yan Wushi der hier Shen Qiao, beim Entspannen und Ausruhen trifft.
LöschenXDDD das wahr doch so klar. Yan Wushi ist ein Stalker XD
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