Der Grund dafür, dass Zenmeister Xueting zu den drei besten der Welt gehörte, war sicherlich nicht, dass er gut darin war, Freunde herbeizurufen, um seine Gegner in einen Hinterhalt zu locken, sondern weil er tatsächlich sehr stark war.
Daran hatte Shen Qiao nie gezweifelt. In dem Moment, in dem
Zenmeister Xueting aufgetaucht war, hatte er schon geahnt, dass es heute zu
einem harten Kampf kommen würde.
Zenmeister Xueting war nicht viel jünger als Qi Fengge,
aber sobald ein Kampfkünstler eine bestimmte Stufe erreicht hatte, blieb sein
Aussehen erhalten ‒ er alterte langsamer als ein gewöhnlicher Mensch. Als Qi
Fengge gestorben war, sah er nur etwa dreißig oder vierzig aus. Niemand hätte
ahnen können, dass sein wahres Alter bereits bei über hundert lag.
Wenn der Durchschnittsmensch Zenmeister Xuetings hübschse
Gesicht des betrachtete, würde er ihn bestimmt für den jungen Meister einer
reichen Familie halten, wenn ihm nicht die Haare fehlen würden. Aber er war
ruhig und gelassen, seine schöne Erscheinung würdevoll. Es gab keinen Hinweis
auf die säkulare Welt an ihm.
Auch Shen Qiao trug die erhabene Gleichgültigkeit eines
Unsterblichen gegenüber materiellem Gewinn in sich, aber er hatte auch ein sehr
weiches Herz. Wann immer er junge oder schwache Menschen sah, wollte er ihnen
die Hand reichen und ihnen helfen. Daher schien er manchmal sogar sentimentaler
zu sein als die meisten. Wenn man ihn mit Xueting vergleicht, Daoist gegen
Buddhist, war Xueting wie eine Buddha-Statue in einem Tempel: Mund und Herz
hart wie Eisen, ohne auch nur eine Spur von Mitleid. Shen Qiao hingegen war
eher wie ein azurblauer Teich: Ruhig in der Erscheinung, aber wenn ein Schwan
auch nur über die Oberfläche glitt, hinterließ er viele gefühlvolle Wellen in
seinem Kielwasser.
Das erste der Acala-Siegel: "Form ist Leere". Die
zahllosen Formen der physischen Phänomene sind nur eine Schicht nach der
anderen falscher Ausschmückungen. Die gewöhnlichen Menschen können dies nicht
erkennen, so dass sie leicht in die Falle tappten, ohne sich daraus befreien zu
können. Nur wenn man ein Herz hat, das so klar wie Glasur ist, kann man
Falsches für die Wahrheit aufgeben und Mara
außer Acht lassen und sich selbst treu bleiben.
Die Siegel kamen aus allen Richtungen und umgaben Shen Qiao
mit Schichten über Schichten von Handflächenschlägen. Als Xuetings schneeweiße,
makellose rechte Hand ins Unendliche anschwoll, wurden sie wie die Siegel von Vajrapani,
die Monster und Dämonen vernichten konnten, unvermeidlich und unausweichlich.
Doch Shen Qiao blieb fest an seinem Platz, die linke Hand
hinter dem Rücken, während er die Rechte leicht bewegte. Shanhe Tongbei bäumte
sich an seiner Seite auf, sein Gesang war wie ein Weinen, eine Ode oder ein
Schrei: lang gezogen und fern. Es durchbrach die Masse der Siegel, erkannte die
Wahrheit in den zahllosen Nachbildern und schlug direkt auf Xuetings rechte
Hand ein!
Xueting wechselte von einer offenen Handfläche zu einer
ausladenden Geste. Seine Fingerspitzen waren wie Weidenblätter im Wind, so
anmutig und schön, dass es unmöglich war, wegzusehen. Verglichen mit dem
unerbittlichen Schwung seines vorherigen Angriffs war es, als hätten sich die
eisigen Winde über den gefrorenen, verschneiten Feldern plötzlich in einen
Fluss im Frühling verwandelt, in dem sich die Wolken spiegelten, die hoch am
grenzenlosen Himmel hingen. Es gab Gänse und Pirole, Pfirsichblüten, die über dem
Wasser baumelten ‒ unbeschreiblich anmutig und wundersam.
Aber Shen Qiao nutzte seinen Vorteil nicht aus, sondern zog
sich sofort zurück und wich aus. Überall, wo Xuetings Handfläche sein wahres Qi
berührte, begannen die Steine auf dem Boden zu knacken und zu splittern. Sogar
A-Qing, der einige Meter entfernt stand, spürte einen seltsamen Schmerz in
seinem Gesicht, als ob eine scharfe Klinge darüber schabte.
Mit ‘Ein Regenbogen spannt sich über den Himmel‘ schwebte
Shen Qiao wie aufgewirbelter Staub und fegte einige Meter zurück. Dann sprang
er plötzlich wieder hoch. Kopfüber in der Luft schwebend, verwandelten er und
sein Schwert sich in ein Band aus weißer Seide, sein Schwertqi strömte von oben
herab wie eine Kaskade, die im Himmel geerdet war und deren Sprühnebel
Tausenden von Schneelöwen glich, die aus dem Boden sprangen. Es wurde von einem
donnernden Sturm begleitet ‒ die Klingenspitze stieß mit erdrückender Wucht
hervor, unaufhaltsam in ihrem Vormarsch!
Diese Reihe von Bewegungen hatte sich im Handumdrehen
vollzogen. Xuetings Gesicht, normalerweise so ruhig wie tiefes Wasser, das von
den Wellen nicht bewegt wird, verriet schließlich eine Spur von Erstaunen. Wie
ein Wirbelsturm verschlang ihn das Schwertqi von oben.
In diesem Moment hatte Xueting eine Reihe von
Möglichkeiten, aber aus dem Schwertqi auszubrechen war keine davon. Es wirbelte
einige Zentimeter weit weg, und als er die linke Hand hob, traf der goldene
Stab auf das Schwertqi, und beide explodierten mit einem donnernden Gebrüll.
Ihre Atemzüge schienen zu erstarren, wodurch beide nicht in der Lage waren,
auch nur einen Zentimeter vorwärtszukommen. Stattdessen wurden sie
weggeschleudert und beide Männer taumelten einige Schritte zurück.
„Es ist erst ein paar Monate her, aber Daozhang Shens Kampfkünste
scheinen sich auf eine neue Stufe gestellt zu haben! Das ist wirklich eine
lobenswerte Leistung!" Zenmeister Xuetings Gesichtsausdruck war ernst. Er
schenkte der Situation von Liansheng und Lianmie keine Aufmerksamkeit mehr,
sondern widmete seine ganze Aufmerksamkeit Shen Qiao.
Aber das waren keine guten Nachrichten für Shen Qiao.
Obwohl er tatsächlich Fortschritte gemacht hatte, bedeutete das nicht, dass
Xueting untätig gewesen war.
Für einen Kampfkünstler-Großmeister wie Zenmeister Xueting
war es sehr schwierig, weiter voranzukommen, aber er konnte immer noch
Kampfkünste praktizieren, und er konnte immer noch weitere spirituelle
Erleuchtung erlangen. Je geschliffener und perfektionierter der Geisteszustand
eines Menschen war, desto eindrucksvoller wurden seine Kampfkünste.
Shen Qiao hatte das schon früher festgestellt: Bevor er
verletzt wurde, hätte er gegen Guang Lingsan, Duan Wenyang und die anderen Unentschieden
kämpfen können, aber wenn es um Zenmeister Xueting ginge, hätte er
wahrscheinlich das Nachsehen gehabt. Daher war er in seinem jetzigen Zustand
sicher im Nachteil. Er hatte seinen Körper mit der Macht der Zhuyang-Strategie
wieder aufgebaut, und nun vereinte sein Fundament die Stärken der drei Lehren
des Denkens ‒ man könnte sagen, dass das Fundament seines zukünftigen Hauses um
ein Vielfaches stärker sein würde als das der anderen. Das bedeutete aber
nicht, dass er das Haus selbst schneller bauen konnte. Shen Qiao hatte bereits
die Stufe des Schwertherzens erreicht und war nur noch einen Schritt vom
Schwertgeist entfernt, aber seine innere Energie betrug nur noch sieben Zehntel
dessen, was sie vorher war. Er war völlig unfähig, sein Schwertherz in vollem
Umfang zu nutzen.
Und gegen einen Experten wie Xueting gab es absolut keine
Chance für einen Zufallstreffer.
Deshalb konnte Shen Qiao nicht zulassen, dass der andere
Mann diese Details herausfand, denn das würde bedeuten, dass niemand vor Ort
Xueting aufhalten könnte.
Shen Qiao ließ seine Klinge sinken, während er auf der
Stelle stand. „Schließlich", sagte er langsam, „hegen die buddhistischen
Sekten keinen Groll gegen die Huanyue-Sekte, und der Große Meister hat Yan-Zongzhu schon einmal
getötet. Warum muss er ihn also weiterhin unerbittlich verfolgen? Selbst wenn
es weder Yan-Zongzhu noch die Huanyue-Sekte gibt, solange Yuwen Yong Kaiser
ist, wird es auch andere Mächte geben, die ihn unterstützen werden. Der Große
Meister ist weitsichtig und weise, also muss er das doch verstehen, oder?"
Auf der anderen Seite kämpfte Yan Wushi zwei gegen einen,
aber er nahm sich die Zeit zu sagen: „A-Qiao, es muss an meiner ehrwürdigen
Person liegen, aber dein Mundwerk hat sich wirklich verbessert! Du hast sogar
diesen kahlköpfigen alten Esel sprachlos gemacht! Ich bin sicher, er schämt
sich so sehr, dass er dich aus Wut weiter quälen wird!"
Früher hätten es selbst zehn Lianshengs und zehn Lianmies
nicht mit Yan Wushi aufnehmen können, geschweige denn einer von beiden. Aber
das konnte jetzt nicht mehr der Fall sein. Xueting wusste das auch, und deshalb
hatte er seine Schüler mitgebracht.
Und selbst wenn Liansheng und Lianmei Yan Wushi dieses Mal
nicht zu Fall bringen konnten, so konnten sie ihn doch aufhalten.
Xueting durchschaute die Absichten von Shen Qiao. Er
schüttelte den Kopf und sagte: „Daozhang Shen sollte wissen, dass es hier um
das Überleben des Buddhismus geht. Es hat keinen Sinn, noch weiter zu sprechen.
Heute ist dieser bescheidene Mönch nur wegen Yan-Zongzhu hierher gekommen. Wenn Daozhang Shen bereit
ist, sich zurückzuziehen und sich nicht einzumischen, wird dieser bescheidene
Mönch unendlich dankbar sein."
Dieser Mann war wirklich interessant. Obwohl er die
Oberhand hatte, war er immer noch so höflich zu Shen Qiao und zeigte keine Spur
von Verärgerung oder Ärger. Er war so gleichgültig wie eine leichte Brise ‒ er
besaß wirklich das Benehmen eines Großmeisters.
Wären die beiden nicht verfeindet, würde sich Shen Qiao
lieber mit ihm zusammensetzen, um die Theorie zu diskutieren, als ihm so
gegenüberzustehen ‒ mit gezückten Schwertern und gespannten Bögen, den Funken
des Krieges vor Augen.
Doch Yan Wushi schien mit Shen Qiaos neuer Sicht auf Zenmeister
Xueting nicht einverstanden zu sein. Als wäre er entschlossen, seine Sichtweise
auf ihn zu ändern, sagte er: „A-Qiao, diese Frage war wirklich zu dumm. Wie
kann der kahlköpfige alte Esel nicht wissen, dass das Töten von Yuwen Yong die
Lösung für all seine Probleme ist? Er verfolgt mich unerbittlich, weil der
Buddhismus sein gerechtes und ehrenhaftes Ansehen bewahren muss, das nicht
durch das Verbrechen des Kaisersmords befleckt werden darf. Selbst wenn sie ihn
töten wollen, müssen sie jemand anderen damit beauftragen, um ihre eigenen
Hände sauber und frei von dem kleinsten Staubkorn zu halten. Stimmt's, kahlköpfiger
alter Esel?"
Xueting hatte kein Interesse daran, Worte an ihn zu
verschwenden. Er skandierte ein leises "Amitabha" und sagte dann
kühl: „Daozhang Shen ist nicht bereit, aufzugeben; er besteht darauf, Yan Wushi
bis zum Ende zu schützen. Aus diesem Grund kann dieser bescheidene Mönch nur
dieses Vergehen begehen!"
Während er sprach, machte er nur einen einzigen Schritt,
und schon stand er vor Shen Qiao. Ein Glockenspiel aus Jade begleitete ihn,
sein Klimpern war süß und unendlich, und sein goldener Stab flog auf Shen Qiaos
Brust zu.
Seine Bewegungen waren sehr langsam, so langsam, dass
andere jedes kleine Detail sehen konnten, aber gleichzeitig so erschreckend
schnell, dass keine Zeit zum Reagieren blieb.
Shen Qiao erkannte mit Erschrecken, dass seine eigenen
Kampffähigkeiten einfach zu gering waren. Er konnte zwar voraussehen, wohin
Xuetings Hände gingen, aber sein Körper konnte trotzdem nicht schnell genug
reagieren. Kaum hatte er sein Schwert gehoben, traf ihn ein schwerer Schlag auf
die Brust. Von da an breitete sich der Schmerz schnell aus, und Shen Qiao
konnte nicht verhindern, dass er nach hinten flog und seine Kehle mit einem
salzig-süßen Geschmack gurgelte. Nach seiner kurzen Benommenheit spuckte er
einen riesigen Schluck Blut aus und prallte mit voller Wucht gegen einen
Pfeiler der Kolonnade!
Aber Shen Qiao hielt nicht einen Augenblick inne. Er
benutzte die Säule, und sein Schwertlicht wurde wie Mondlicht, das ins Wasser
eindringt und das Auf und Ab der Gezeiten des Flusses begleitet. Einen
Sekundenbruchteil später wurde sein Licht glänzend und brillant, überlagerte
sich wie Schichten eines prächtigen Brokats und strömte auf Zenmeister Xueting
zu. Selbst mit Xuetings Kultivierung war er einen Moment lang nicht in der
Lage, Mensch und Schwert zu unterscheiden.
Währenddessen arbeiteten Liansheng und Lianmie im Gleichklang.
Sie schienen sich auf natürliche Weise zu verstehen, ihre Gedanken und
Handlungen waren perfekt aufeinander abgestimmt. Yan Wushis Kampffähigkeiten
lagen weit unter denen seines früheren Ichs, und er musste noch den Fehler in
seinem dämonischen Kern ausbessern; seine Angriffe hatten immer einen gewissen
Spielraum, den die beiden ausnutzen konnten. Mit einem in der Offensive und
einem in der Defensive umzingelten Liansheng und Lianmie Yan Wushi. Sie
versuchten nicht, ihn zu töten, aber sie bewegten sich nahtlos zusammen wie Yin
und Yang, ohne nennenswerte Lücken.
Es war offensichtlich, dass sie vorher Xuetings Anweisungen
erhalten hatten. Sie kannten ihre eigene Stärke ‒ auch wenn Yan Wushis
Kampffähigkeiten stark nachgelassen hatten, wäre es ziemlich schwierig, ihn zu
töten. Also versuchten sie nur, Yan Wushi hinzuhalten und darauf zu warten,
dass Xueting Shen Qiao besiegte. Dann könnte er kommen und ihnen helfen.
Leider stand nach all dem Warten und dem Austausch von
mehreren Hundert Schlägen beiden der Schweiß auf der Stirn. Xueting wurde immer
noch von Shen Qiao aufgehalten und war völlig unfähig, sich zu befreien.
Liansheng wurde unruhig. Als sein Shidi Lianmie Yan Wushi
angriff, konnte er nicht umhin, einen Blick auf seinen Shizun zu werfen.
Und mit diesem einen Blick änderte sich die Situation
plötzlich!
Yan Wushi war die ganze Zeit in der Defensive gewesen, aber
jetzt griff er plötzlich an. Er benutzte seinen Finger als Schwert und schlug
auf die Mitte von Lianmies Handfläche ein. Lianmie war Zeuge von Yan Wushis
unscheinbarem Auftritt geworden und hatte ihn schließlich unterschätzt, weil er
dachte, der Sektenanführer der Huanyue-Sekte sei nur mittelmäßig. Doch gerade
als dieser Gedanke aufkam, spürte er einen stechenden Schmerz in seiner
Handfläche, als ob eine glühende Eisenstange sie durchbohrt hätte.
Er konnte nicht anders, als aufzuschreien, und taumelte
reflexartig zurück. Ein Blick auf seine Handfläche zeigte, dass sie von einem
blutigen Loch durchbohrt worden war, aus dem frisches Blut sprudelte. Er konnte
schwach die Muskeln und die weißen Knochen darin sehen.
Liansheng hörte die Geräusche und drehte sich schnell um.
Er war schockiert über das, was er sah, aber bevor er reagieren konnte, wurde
er plötzlich von einem Schwertlicht getroffen.
„Lauft!", schrie Shen Qiao. Mit diesem einen Wort
packte er Yan Wushis Arm und stürmte in Richtung Südosten.
Shen Qiao wagte es nicht, Xueting auf die leichte Schulter
zu nehmen. Er trieb ‘Ein Regenbogen spannt sich über den Himmel‘ bis zum
Äußersten.
Andere Leute hätten gesehen, wie sich Shen Qiao und Yan
Wushi, der hinter ihm hergezogen wurden, in zwei Nachbilder im Wind
verwandelten ‒ aber Shen Qiao war besorgt, dass das nicht genug war. Aus Angst,
dass Xueting sie einholen könnte, schoss er unaufhaltsam vorwärts, wobei die
Bäume auf beiden Seiten zu bloßen Schatten wurden, als sie mit
Höchstgeschwindigkeit an ihm vorbeiflogen. Er wurde nicht im Geringsten
langsamer.
Obwohl er sich nicht umdrehte, konnte Shen Qiao deutlich
eine bedrohliche Präsenz spüren, die ständig hinter ihnen war, sowohl nah als
auch fern, wie eine Klinge in seinem Rücken. Es war offensichtlich Xueting, der
sie verfolgte und nicht aufgeben wollte. Selbst wenn Shen Qiao einen Schritt
schneller wäre, könnte er Xueting nicht so schnell abschütteln.
Shen Qiao zog Yan Wushi aus der Stadt und sprang dann auf
den Berg Guojian in der Nähe der Provinz Wei zu.
Am Fuße des Berges war ein dichter Wald, in dem man sich
leicht verstecken konnte, aber Yan Wushi sagte: „Geh auf den Berg."
Shen Qiao dachte nicht weiter darüber nach. Er stürmte den
Berg hinauf, ohne anzuhalten.
Es war früher Frühling. Die gefrorenen Flüsse waren
aufgetaut, Hunderte von Blumen blühten, die Berge waren erfüllt vom Gesang der
Vögel. Alles strotzte vor Leben. Die Waldbäume drehten sich und knarrten, die Bergfelsen
waren zerklüftet, der Bergpfad steil. Es gab keinen guten Halt ‒ wenn man auf
halber Höhe stand und nach unten blickte, betonten die bleistiftgeraden
Felswände, die kräuselnden Wolken und der Nebel die Steilheit noch mehr.
Etwa auf halber Höhe des Berges entdeckte Shen Qiao eine
Höhle, die von einem Dickicht verdeckt war. Das Innere der Höhle war dunkel und
verwinkelt, und ein kleiner Bach gluckerte darin. Die Höhle war ziemlich tief ‒
nachdem die beiden hineingegangen waren, gingen sie viele Meter weiter, bevor
sie sich öffnete und hell und geräumig wurde. Die Steinwände hier waren glatt
und glänzend, der Raum hatte etwa die Größe der Haupthalle einer wohlhabenden
Familie.
Als Shen Qiao nach oben blickte, stellte er fest, dass es
keine steinerne Decke über ihm gab. Das Sonnenlicht drang durch die Lücken im
komplexen Geflecht der Äste und ließ das tote Laub zu ihren Füßen aufblitzen.
„Hier ist es gut", sagte Yan Wushi. „Xueting würde nur
denken, dass wir uns in den Wäldern des Berges verstecken würden. Er würde
bestimmt nicht erwarten, dass wir hier hinaufklettern."
Shen Qiao löste endlich die Wachsamkeit, die er
hochgehalten hatte, aber was folgte, war nicht die Erleichterung der
Entspannung, sondern ein riesiger Mund voll Blut, als er sich bückte.
Das stammte von den inneren Verletzungen, die er sich
während des Kampfes mit Xueting zugezogen hatte. Als er mit Yan Wushi geflohen
war, hatte sein Brustkorb unerträglich zu pochen begonnen, aber er hatte Angst,
dass er, wenn er den Mund öffnete, seinen Atem und damit seinen letzten Antrieb
verlieren würde. Also hatte er bis jetzt nicht einmal gesprochen.
Nicht viele Menschen konnten einem Schlag eines der drei
besten Großmeister der Welt standhalten. Shen Qiaos Kampfkraft hatte sich noch
nicht vollständig erholt, aber er konnte Xueting so lange bekämpfen und ihm
dann mit Yan Wushi im Schlepptau entkommen. Das alles verdankte er seiner noch
unausgereiften Stufe des Schwertherzens. Aber die Anwendung einer Stufe auf das
eigene Schwert war nicht etwas, das man endlos aufrechterhalten konnte, im
Gegensatz zu innerer Energie oder wahrem Qi. Selbst vor ihrem Kampf hatte Shen
Qiao nie daran gedacht, gegen Zenmeister Xueting bis zum bitteren Ende zu
kämpfen ‒ er war bereits darauf vorbereitet, sich jederzeit zurückzuziehen.
Es war keine leichte Aufgabe, direkt vor der Zenmeister
Xuetings Nase zu fliehen, vor allem, wenn man eine "Last" trug, aber
Shen Qiao hatte es geschafft.
Obwohl die beiden die Idee des Rückzugs nicht eingehend
erörtert hatten, war es offensichtlich, dass Yan Wushi in dieser Hinsicht
ähnlich dachte. So waren sie in der Lage gewesen, ein stillschweigendes
Verständnis und einen Konsens zu erzielen, obwohl sie keine Worte gewechselt
hatten.
Mit diesem Mund voll Blut schwamm Shen Qiaos Kopf und seine
Sicht wurde unscharf. Er hatte kaum noch die Kraft, sich aufzurichten. Von
seiner überforderten Kampfkraft und seinen inneren Verletzungen überwältigt, schwand
seine Sehkraft und seine Ohren klingelten, als er nach vorne kollabierte.
Yan Wushi fing ihn ohne zu zögern auf. Er lächelte sogar
und sagte: „A-Qiao, ich weiß, dass du mich magst, aber du musst dich nicht
gleich in meine Arme werfen!!"
Seiner Stimme fehlte es an Vitalität ‒ es war
offensichtlich, dass auch er verletzt worden war. Aber das minderte keineswegs
die mutwillige Neckerei in seinem Ton.
Kaum hatte er dies gesagt, spuckte Shen Qiao einen weiteren
großen Schluck Blut aus. Fast die Hälfte seines Körpergewichts lastete nun auf
der Ellenbeuge von Yan Wushi. Sein Gesicht war kreidebleich, als würde er
gleich seinen letzten Atemzug machen.
Yan Wushi schnalzte einmal mit der Zunge. „Du hustest doch
nicht etwa vor Wut Blut?"
Natürlich hustete Shen Qiao kein Blut aus Wut, aber er
hatte nicht die Kraft, etwas zu erwidern. Er sagte nur schwach: „Wenn wir jetzt
weg sind, was wird dann aus Onkel Wu und A-Qing?"
„Xueting ist nicht Sang Jingxing", sagte Yan Wushi. „Er
muss immer noch das Ansehen des Buddhismus aufrechterhalten, und außerdem weiß
er, dass er mir mit den beiden sowieso nicht drohen kann. Natürlich wird er
nichts Sinnloses tun."
Shen Qiao nickte. Seine Lippen waren noch immer
blutverschmiert, was ihre kalte Blässe noch blasser und das blutige Rot noch
lebhafter machte. Yan Wushi wischte es mit seinem Daumen weg.
In Shen Qiaos Brust herrschte ein dumpfer, unerträglicher
Schmerz. Selbst seine Atmung war flach; er war völlig unfähig, seine Energien
auf irgendetwas, um ihn herum zu konzentrieren. Auch seine Sinne waren träge
geworden, und er wurde überrascht, als Yan Wushi ihm etwas Kleines in den Mund
schob und ihn mit der Hand bedeckte, weswegen Shen Qiao es nicht ausspucken
konnte. Seine Augen weiteten sich, aber sein Körper hatte bereits die
vernünftige Reaktion gezeigt, den Gegenstand zu schlucken.
Seine Kehle war so trocken und schmerzhaft, dass er fast
erstickt wäre. Er begann heftig zu husten, was seine inneren Verletzungen
verschlimmerte, und sogar seine Augen wurden ein wenig feucht.
„Jade... Zistrose?"
Erklärungen:
Mara (aus dem Sanskrit abgeleitet von marati, ‘sterben‘, ‘morden‘) ist im Buddhismus das Prinzip des Todes und des Unheils. Er stellt ein Symbol der leidvollen Welt des Samsara dar, und bildet in seiner Verkörperung des Todes zusammen mit dem Altern das zwölfte Glied der Kette des bedingten Entstehens. Personifiziert wird er als der Versucher beschrieben und so manchmal mit dem christlichen Teufel verglichen.
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Man kann sagen, das ging gerade noch mal gut, auch wenn Shen Qiao schwer verletzt ist. Zumindest sind sie Zenmeister Xueting entkommen.
AntwortenLöschenAber Yan Wushi... „A-Qiao, ich weiß, dass du mich magst, aber du musst dich nicht gleich in meine Arme werfen!!" Ich liebe diese Neckerei XDD
Shen Qiao überlebt aber auch gefühlt alles, oder?
LöschenIch liebe auch Yan Wushis Neckereien, sie sind, um ehrlich zu sein, am Anfang der Grund gewesen, warum ich Thousand Autumns überhaupt gelesen habe.
Also ich habe selten einen so guten Schreibstil gelesen, allein die Beschreibung der Kampfszenen erinnert mehr an ein Gedicht. So schön. Ich bin jedes Mal wieder begeistert.
AntwortenLöschenUnd offensichtlich denken Yan Wushi und Shen Qiao doch sehr ähnlich, sonst könnten die zwei sich ja nicht wortlos verstehen :)
Ich bin mal so dreist und nehme ein Drittel dieses Lobes in Anspruch, danke dafür. Ich gebe dir da recht, Meng Xi Shi kann so was sehr schön beschreiben und findet immer wieder neue Wege, eine Kampfszene komplett neu zu beschreiben, ohne dass man das Gefühl hat, immer wieder dieselbe Leier zu lesen.
LöschenImmerhin waren Shen Qiao und Yan Wushi schon monatelang immer wieder gemeinsam unterwegs, auch wenn es am Anfang eher unfreiwillig von Shen Qiaos Seite aus war. Ich würde sogar so weit gehen, dass nicht einmal Yan Wushis Schüler Yu Shengyan und Bian Yanmei, ihn so gut verstehen wie es Shen Qiao tut.
Das Lob darfst du selbstverständlich für dich verwenden, jede Übersetzung ist auch ein neues Werk und damit gebührt dir genauso viel Lob wie der Autorin.
LöschenOhh, danke wegen dir werde ich noch ganz rot.
Löschenshen konnte in soweit aufhalten bis er einen weg sah zu entkommen. er hat sich sehr gut geschlagen auch yan hat sich auf seine art gut geschlagen. dann hoffen wir mal das er dieses versteck nicht findet sonst sieht es schlecht aus. aber die neckerei von yan ist einfach süß. einfach köstlich. freu mich wenns weiter geht.
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