Durch die roten Hügel wandere ich, um die Sanddünen winde ich mich. Frigides Eis sickert in mein Fleisch; die Kälte des Windes pocht in meinen Knochen.
Als Shen Qiao wieder in Chang'an eintraf, hatte sich sein
Gemütszustand geändert.
Er betrat die Stadt allein. Er trug ein Schwert und war in
eine daoistische Robe gekleidet, aber mit seinem kränklichen Aussehen, seiner
schlechten Sehkraft und seiner langsamen Gangart hatte er wenig Ähnlichkeit mit
einem Kampfkünstler aus der Jianghu. Stattdessen sah er eher wie ein wandernder
daoistischer Priester aus, der nur aus Angst vor dem Chaos ein Schwert bei sich
trug. Nichts an ihm wirkte auch nur im Geringsten bedrohlich.
In Chang'an wimmelte es von Beamten, und die Menschen
strömten wie Flüsse durch die Straßen, so wie es bei jedem seiner Besuche der
Fall gewesen war. Aber dieses Mal war es noch lebendiger als sonst.
Nach einigem Herumfragen erfuhr er, dass die meisten dieser
Leute sich auf die Reise in Tuyuhuns Hauptstadt vorbereiteten, um an der
Versammlung des sich windenden Drachen am neunten September teilzunehmen. Alles
nur, weil irgendein Wichtigtuer die Nachricht verbreitet hatte, dass in diesem
Jahr eine Schriftrolle der Zhuyang-Strategie erscheinen würde und dass
das Schwert Tai'e, ein Schatz, der mit dem ersten Kaiser von Qin vergraben und
später vom Tyrannen der Westlichen Chu-Dynastie ausgegraben worden war,
ebenfalls auftauchen würde.
Jeder wusste bereits, dass die Nördliche Zhou-Dynastie, die
Tiantai-Sekte und der Xuandu-Berg jeweils einen Band der Zhuyang-Strategie
besaßen ‒ sie hatten bereits einen Besitzer. Dennoch gab es immer mehr Leute,
die versuchten, sie in die Hände zu bekommen, obwohl es bis heute niemandem
gelungen war, diese Bände von den Fraktionen zu plündern, die sie aufbewahrten.
Es war klar, dass ein solches Kunststück enorm schwierig sein musste, so
schwierig, dass nicht einmal ein durchschnittlicher Kampfexperte es schaffen
konnte. Die Schriftrolle in der Tiantai-Sekte zum Beispiel ‒ selbst wenn man
versuchen würden, sie zu stehlen, könnten selbst Großmeister wie Yan Wushi und
Ruyan Kehui nicht unbeschadet davonkommen, ganz zu schweigen von jemandem mit
geringeren Fähigkeiten.
Die beiden übrigen Bände waren in alle Winde verstreut, ihr
Verbleib war unbekannt. Der Liuhe-Gilde war es gelungen, einen der Bände zu
beschaffen, und sie wollte ihn zusammen mit einer anderen Fracht nach Süden
transportieren, doch Yan Wushi machte auf dem Weg dorthin alles zunichte. Die
Schriftrolle wurde zerstört und verschwand für immer aus der Welt.
Wenn eine Schriftrolle der Zhuyang-Strategie
wirklich auf der Versammlung des sich windenden Drachen aufgetaucht war, dann
musste es sich um den letzten Band handeln, der noch keinen Besitzer hat. Es
wäre viel einfacher, diese Schriftrolle zu beschaffen, als die der
Tiantai-Sekte oder des Xuandu-Bergs zu jagen, ganz zu schweigen von den
Kampfkünstlern im inneren Palast der Nördlichen Zhou-Dynastie. Jeder in der
Jianghu würde sie begehren.
Reichtum mag die Herzen der meisten Menschen bewegen, aber
für die Menschen aus der Jianghu ist alles Gold und Silber der Welt nichts im
Vergleich zu der Verlockung unvergleichlicher Kampffähigkeiten. Einst konnte Qi
Fengge aufgrund seines Status als der Stärkste des Landes frei in der Jianghu
umherziehen, und alle mussten vor seinem Atem zittern. Welch Ehrfurcht
gebietende Macht! Sollte ein wahrer Mann nicht so sein?
Das Schwert Tai'e war einst der unschätzbare Nationalschatz
von Chu gewesen und wurde später vom Kaiser von Qin erworben. Das Schwert galt
seit jeher als Symbol einer wohlwollenden Herrschaft, und obwohl es an sich
schon eine hervorragende Klinge war, ging seine Bedeutung weit über die einer
bloßen Waffe hinaus. Die Legende besagte, dass derjenige, der dieses Schwert besitzt6,
die Welt beherrschte; es hatte die gleiche Bedeutung wie das berühmte Erbstücksiegel der Qin-Dynastie. Sowohl die Südliche
Chen-Dynastie als auch die Nördliche Zhou-Dynastie beobachteten die diesjährige
Versammlung des sich windenden Drachen sehr genau ‒ sie hatten sogar Männer
entsandt, um die Lage zu überwachen.
Unabhängig von ihren Zielen war eines sicher: Es gab eine
ganze Reihe von Leuten, die auf demselben Weg waren wie Shen Qiao. In keinem
der Gasthäuser der Stadt war ein Zimmer frei. Angesichts dessen beschloss Shen
Qiao, sich zu beeilen und in einer Stadt außerhalb der Stadt zu rasten.
Zu seiner Überraschung waren jedoch überall namhafte Männer
aus dem ganzen Land anzutreffen. Er sah nicht nur Praktizierende der großen
Sekten, sondern auch die einfachen, wenig bekannten Sekten hatten allesamt
Abgesandte geschickt. Einige von ihnen waren hier, um das Treiben zu beobachten
und ihr Wissen zu erweitern, während andere sehen wollten, ob sie von dem
Aufruhr profitieren konnten. Als Shen Qiao weiterging und der Vorhang der Nacht
fiel, schienen selbst die kleinen Städte außerhalb von Chang'an voll von
Reisenden zu sein.
Er suchte ein Gasthaus nach dem anderen auf, und jedes
sagte ihm, dass sogar die Holzschuppen besetzt seien, sodass er nicht weiterkam.
Mit seiner schlechten Sehkraft konnte er zwar bei Tageslicht vage erkennen,
wenn sich ihm jemand näherte, aber sobald die Nacht hereinbrach, konnte er
nichts mehr sehen. Das machte das Zelten in der Wildnis schwierig. Vollkommen
unerwartet, war die lange Reise vom Berg Tai nach Chang’an völlig reibungslos
verlaufen und erst in einer großen Stadt wie Chang’an wurde er von Problemen
geplagt.
„Entschuldigen Sie Daozhang ‒ wir sind derzeit komplett
ausgebucht. Wir haben sogar Gäste, die im Holzschuppen schlafen. Wir können
wirklich keinen Platz mehr für Sie frei machen!" Der Concierge des
Gasthauses rang die Hände und lächelte gequält.
Shen Qiao wollte gerade noch einmal nachfragen, als eine
sanfte Stimme von nebenan erklang. „Diese Hier hat bereits ein großes Zimmer
reserviert ‒ es ist geräumig genug. Wenn Daozhang nichts dagegen hat, kann er
sich ein Bett mit mir teilen."
Im Inneren des Gasthauses drängten sich die Leute.
Diejenigen, die sich in seiner Nähe befanden, hoben ihre Köpfe, um zu sehen,
wie eine hinreißende Schönheit mit einem kränklichen Priester kokettierte, und
waren augenblicklich verärgert.
Jemand sagte spöttisch: „Wenn das junge Fräulein sich
einsam fühlt, sollte sie sich wenigstens einen stärkeren Mann suchen! Dieser
Priester sieht aus, als könnte er von einer steifen Brise umgeworfen werden. Seid
Ihr Euch sicher, dass er es schaffen wird?"
Bei diesen Worten erhob sich neben ihnen ein schallendes
Gelächter.
Die Schönheit lächelte süßlich. „Aber diese Hier mag
hübsche Priester wie diesen Daozhang und keine perversen, verkommenen Männer!"
Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als der Mann, der sie
verspottet hatte, aufschrie. Er fasste sich an den Kopf, zu schockiert, um zu
sprechen ‒ die Hälfte seiner Haare waren plötzlich verschwunden.
Die Schönheit lachte. „Diese Hier ist heute gut gelaunt,
weil sie einem alten Freund begegnet ist. Ich möchte lieber kein Blutvergießen
sehen. Ihr solltet Euch wirklich bemühen, Euch zu benehmen. Wenn mein alter
Freund mich deswegen ignoriert, werdet Ihr sonst großen Ärger bekommen."
Während dieses Gesprächs hatte Shen Qiao das Gasthaus
bereits verlassen, ohne sich noch einmal umzusehen.
„Wer zum Teufel sind Sie?", rief der Mann, dem die
Hälfte seiner Haare ausgefallen war, voller falscher Überheblichkeit.
Aber die Schönheit hatte kein Interesse daran, sich weiter
mit ihnen zu beschäftigen. Sie verschwand blitzschnell und hinterließ dort, wo
sie einst gestanden hatte, nur einen duftenden Geruch.
„Das hier ist die kleine Pfingstrose, ist das nicht ein
schöner Name?"
Ihre Stimme klang noch immer in ihren Ohren nach. Alle
sahen sich entsetzt an. „Bai Rong von der Hehuan-Sekte?! Warum ist diese
Dämonin hierher gekommen?!"
Als Bai Rong das Gasthaus verließ, sah sie, dass der Mann
vor ihr bereits zu einer Silhouette in der Ferne geworden war. Sie biss die
Zähne zusammen und jagte mit ihrer Qinggong hinter ihm her. „Shen Qiao! Bleib
da stehen!", rief sie.
Vielleicht hatte er sie gehört, denn die Silhouette bewegte
sich endlich nicht mehr.
Shen Qiao drehte sich um und seufzte leise: „Womit kann ich
Ihnen behilflich sein?"
Bai Rong war in der Hehuan-Sekte aufgewachsen, wo sie die
tiefsten Tücken des menschlichen Herzens und die abscheulichsten Gesichter der
Menschen gesehen hatte. Sie hatte geglaubt, dass ihr Herz längst zu Stein
geworden war, dass sie nichts mehr bewegen konnte. Doch in diesem Moment,
angesichts von Shen Qiaos widerwilligem und zögerlichem Gesichtsausdruck,
durchströmte ein starker Anflug von Empörung ihr Herz.
„Daozhang Shen ist so gefühllos in seinen Beziehungen!",
spuckte sie aus. „An dem Tag, an dem du dich im Bailong-Kloster versteckt hast,
haben wir auf Befehl meines Meisters nach dir gesucht. Hätte ich dir damals
keine Zeit verschafft, würdest du heute nicht hier stehen! Ist das die Art und
Weise, wie du dich bei anderen für ihre Freundlichkeit bedankst?!"
Als Shen Qiao nicht antwortete, konnte sie sich ein eisiges
Lachen nicht verkneifen. „Oder gibt Daozhang Shen mir die Schuld am Tod der
beiden Priester? Damals war einer unserer Ältesten dabei, und Xiao Se war sogar
noch feindseliger, bereit, sich auf jeden Fehler von mir zu stürzen. Wolltest
du, dass ich mich für zwei Fremde, die ich noch nie getroffen hatte, einsetze?"
Shen Qiao schüttelte den Kopf. „Ich muss Ihnen in der Tat
für das danken, was an diesem Tag geschehen ist. Aber es ist auch wahr, dass
Zhu-Xiong und Chuyi starben, und das war ein Übel, das von der Hehuan-Sekte
begangen wurde. Jeder Groll hat seine Quelle, und jede Schuld hat ihren
Schuldner. Ich werde sie früher oder später auffordern, dafür zu büßen. Was
bereits geschehen ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden; es ist
sinnlos, sich darüber zu streiten, wer Recht oder Unrecht hatte."
Bai Rong biss sich auf die Lippe und schwieg einen Moment
lang.
„Ich habe gehört, dass du all deine Kampfkünste zerstört
hast, in der Hoffnung, meinen Meister mit dir zu Fall zu bringen", sagte
sie. „Und dass du von ihm schwer verletzt wurdest und fast dein Leben verloren
hast. Bist... bist du jetzt in Ordnung?"
„Mir geht es gut", sagte Shen Qiao. „Vielen Dank für
Ihre Besorgnis."
„Shizun hat ebenfalls schwere Verletzungen erlitten",
sagte Bai Rong. „Er hat Angst, dass Yuan Xiuxiu die Gelegenheit nutzt, um ihn
zu töten, und hat sich deshalb irgendwo versteckt, um zu kultivieren. Keiner
weiß, wo er ist."
„Nicht einmal Ihr?"
Bai Rong lächelte blass. „Was? Dachtest du, dass er mir
wirklich vertraut?"
Shen Qiao wusste, dass sie diesen Gesichtsausdruck
wahrscheinlich nur machte, um sein Mitgefühl zu gewinnen, aber er konnte sich
nicht dazu durchringen, sie zu tadeln.
„Ich weiß, dass du dich an Shizun rächen willst",
sagte Bai Rong leise. „Aber selbst wenn ich wüsste, wo er ist, würde ich dich
nicht einfach so in den Tod gehen lassen. Im Moment bist du ihm überhaupt nicht
gewachsen."
Shen Qiao nickte. „Danke, dass Sie mir das gesagt haben.
Aber im Moment habe ich nicht vor, nach ihm zu suchen."
„Wen suchst du dann?", fragte Bai Rong. „Wirst du an
der Versammlung der sich windenden Drachen in der königlichen Hauptstadt von
Tuyuhun teilnehmen? Willst du Yan Wushi retten?"
Sie war schon immer ungeheuer intelligent gewesen ‒
natürlich hatte sie bereits erraten, weswegen Shen Qiao gekommen war.
Als Shen Qiao nicht antwortete, seufzte Bai Rong. „Shen-Lang,
weißt du eigentlich, was du da tust? Es stimmt, Yan Wushi mag den Gipfel der
Kampfkünste erreicht haben. Nur wenige Menschen auf der Welt können es mit ihm
aufnehmen. Aber ein gemeinsamer Angriff von den fünf mächtigsten Kampfkünstlern
des Landes? Selbst wenn er ein Gott aus dem unsterblichen Reich Daluo wäre,
hätte er keine Chance, zu überleben. Und denk daran, was er dir angetan hat!
Wie kannst du das einfach so hinter dir lassen? Selbst eine Katze oder ein Hund
würde sich von jemandem fernhalten, der sie immer wieder verletzt, nicht wahr?
Gehen deine Gefühle für ihn wirklich so tief?"
Shen Qiao runzelte die Stirn. „Darf ich ihn nur aus
persönlichen Gefühlen heraus retten?"
„Warum musst du dann dein Leben für ihn riskieren, wenn du
nichts empfindest?", drängte Bai Rong. „Egal wie stark du bist, wenn es
einer gegen fünf ist, kannst du nicht gewinnen,. Es geht nicht nur um dich: Yan
Wushi kann es nicht, mein Shizun kann es nicht, und selbst wenn Qi Fengge
wiederbelebt werden würde, könnte er es nicht! Die Versammlung des sich
windenden Drachen findet am neunten September statt, aber der Hinterhalt ist am
achten, und heute ist bereits der Fünfte! Selbst wenn du jetzt dorthin eilst,
wirst du es nicht mehr rechtzeitig schaffen!"
Shen Qiao war still. Als sie das sah, bekam sogar das
unermüdliche Lächeln auf Bai Rongs Gesicht einen Hauch von Wut. „Verstehst du
denn nicht?", flehte sie. „Ich will nicht sehen, wie du dein Leben
wegwirfst!"
Bai Rong hatte Gefühle für ihn. Shen Qiao war nicht aus
Holz gemacht, natürlich wusste er da.
Bai Rong war der Typ, der sich nur um ihre eigenen
Interessen kümmerte ‒ sie würde niemals ihr Leben riskieren oder ihre Sekte
verraten, nur weil sie Shen Qiao liebte. Sie würde nicht einmal ihrem Meister
oder die Ältesten um seinetwillen ungehorsam sein. Sie würde Shen Qiao
höchstens ein paar kleine Annehmlichkeiten gewähren, ein oder zwei Finger krumm
machen, solange es ihren Interessen nicht schadet. So viel war für sie schon
bemerkenswert.
Aber sie verstand Shen Qiao nicht, und Shen Qiao hatte
keine Lust, noch mehr zu erklären. Er wollte nicht, dass Bai Rong ihn
missverstand ‒ es war das Beste für sie, wenn er hier und jetzt eine klare
Grenze zwischen ihnen zog.
„Ich danke Ihnen für Euren Rat, aber ich muss trotzdem
gehen." Er starrte Bai Rong an. „In den Augen der Außenstehenden ist die
Hehuan-Sekte skrupellos und heimtückisch und verzehrt sogar die Knochen derer,
die sie vernichtet. Aber Ihr geht mit ihr um wie ein Kind mit Süßigkeiten."
„Also ist eine Dämonin, wie ich letztlich nur deine
Verachtung wert."
Shen Qiao schüttelte den Kopf. „Ihr habt das falsch
verstanden. Ich meine nur, dass ich weiß, dass Ihr Euch niemals damit
zufriedengeben würdet, eine gewöhnliche Schülerin der Hehuan-Sekte zu bleiben.
Ich habe kein Recht, etwas von Euch zu verlangen, aber ich hoffe, dass Ihr gut
auf Euch aufpasst und nicht so werdet wie Huo Xijing oder Sang Jingxing. Ihr
seid anders als sie."
Ihr seid anders als sie. Bai
Rongs Augen prickelten bei diesen einfachen Worten, aber sie zeigte keine Spur
davon und lächelte stattdessen süß. „Dann solltest du mich von Zeit zu Zeit
besuchen kommen. Beaufsichtige mich, damit ich nicht so ende wie sie!"
„Es tut mir leid", war alles, was Shen Qiao sagte,
dann drehte er sich um und ging.
Bai Rong stampfte mit dem Fuß auf. „Shen Qiao!"
Doch mit einem ‘Ein Regenbogen spannt sich über den
Himmel‘ war Shen Qiao bereits wie ein weit entfernter Schwan, der keine
Spur von Staub in seinem Kielwasser hinterließ. In einem Wimpernschlag war er
bereits Dutzende von Metern entfernt, die weiten Ärmel seiner daoistischen Robe
flatterten, während er weiter und weiter glitt, ohne sich umzusehen.
______________________________________
Der achte September. Fuqi, die königliche Hauptstadt von
Tuyuhun.
Das ganze Jahr über gab es in den westlichen Regionen mehr
Sandstürme als Regen, aber dieses Jahr war etwas ungewöhnlich: Seit
Herbstbeginn nieselte es ununterbrochen. Selbst die Gebäude der königlichen
Hauptstadt, die normalerweise das ganze Jahr über mit Staub bedeckt waren,
schienen in einem neuen Glanz zu erstrahlen.
Unter dem Einfluss der Kultur der Zentralebene sprachen und
schrieben die Adligen und Könige von Tuyuhun alle mit Han-Schriftzeichen, und
sogar der Han-Kleidungsstil wurde weitgehend übernommen. Als die Versammlung
des sich windenden Drachen näher rückte, kamen außerdem viele Menschen aus der
Zentralebene in die Stadt. Auf den ersten Blick war es fast so, als wäre man
wieder in Chang'an.
Außerhalb der Stadt befand sich ein Pavillon, der als
Schutz vor dem Regen gedacht war. Er wurde Yinyang-Pavillon genannt. Niemand
wusste, wann er erbaut worden war, aber mit den Bergen zur Linken und dem
Wasser zur Rechten und dem Pavillon direkt in der Mitte war er genau wie eine
Grenze zwischen Yin und Yang.
Der Pavillon war im Stil der Zentralebenen gehalten. Nur in
den Ecken des Dachvorsprungs konnte man einen Hauch von exotischer Ästhetik
entdecken. Im Laufe der Jahre war sogar der Schriftzug "Yinyang-Pavillon"
größtenteils abgeblättert, sodass unter der verblassenden schwarzen Farbe die
ursprüngliche Textur und Farbe des Holzes zum Vorschein kam.
Yan Wushi stand in der Mitte des Pavillons, die Hände
hinter sich verschränkt. Es war unklar, wie lange er dort gestanden hatte.
Er blickte aus dem Pavillon, seine Haltung war träge und
sorglos. Er schien den Regen zu beobachten, aber auch, als würde er auf
jemanden warten.
In der Ferne tauchte ein einzelner Mann aus den nassen
Bäumen und dem Gestrüpp auf.
Der Mann trug eine schwarze Mönchsrobe, und sein Kopf war
völlig glatt und kahl. Obwohl sein Gesicht außerordentlich gut aussehend war,
zeigten sich in seinen Augenwinkeln leichte Falten. Mit einem Regenschirm in
der Hand schritt er in gemächlichem Tempo auf Yan Wushi zu.
„Amitabha. Ist es dem Sektenanführer Yan gut ergangen?"
Er sprach beiläufig, als ob er ein alltägliches Gespräch
führen würde, aber seine Stimme klang klar und deutlich durch die Landschaft
und war trotz der Entfernung nicht zu hören.
„Euch ist kein einziges Haar gewachsen, seit wir uns im
Chuyun-Tempel getrennt haben", sagte Yan Wushi kühl. „Wahrlich, Eure Tage
müssen voller Mühen und Sorgen sein ‒ ein ärgerliches und unglückliches Leben.
Ist das zufriedene Leben eines einfachen Mönchs so schwierig für Euch?"
Zenmeister Xueting zwang sich zu einem Lächeln angesichts
des schneidenden Sarkasmus von Yan Wushi. „Sektenanführer Yans Worte sind so
unversöhnlich wie immer!"
„Derjenige, der mich eingeladen hat, war Duan Wenyang,
warum seid stattdessen Ihr erschienen? Es sei denn, der große und mächtige
frühere Staatspräzeptor von Zhou hat sich so weit abgewandt, dass er mit den
Kök-Türken konspiriert?"
„Das Wiedererscheinen des Sektenanführers Yan in der
Jianghu hat einen Sturm der Gewalt und des Blutvergießens ausgelöst",
sagte Zenmeister Xueting. „Ihr habt den ganzen Frieden gestört. Nach der Meinung
dieses bescheidenen Mönchs solltet Ihr einen Ort finden, an dem Ihr Eure
Energie auf die Meditation und Eure Kampfkünste richten könnt, damit nicht noch
mehr Mord und Übel aus Euren Händen kommen."
Yan Wushi brach in lautes Gelächter aus. „Ich habe es immer
gehasst, dass Ihr nichts anderes tut, als buddhistische Lehren auszuspucken, kahlköpfiger
Esel. Aber heute seid Ihr schlauer geworden; Ihr habt den ganzen Unsinn
weggelassen und kommt direkt zur Sache. Gut!"
Zenmeister Xueting senkte seinen Kopf und seine Wimpern. „Buddha
drängt uns zur Güte, unsere Hackbeile fallen zu lassen und die Erleuchtung zu
suchen. Aber denjenigen, die sich trotz wiederholter Belehrungen weigern, Buße
zu tun, kann er auch die donnernde Macht des Vajrapani
demonstrieren. Was nützt es, jemandem wie Sektenanführer Yan die
Wahrheiten des Buddhismus zu predigen? Wir können Euch nur mit Gewalt bezwingen
und einen Mörder aufhalten, indem wir Euch selbst töten."
„Lasst mich den Grund erraten, warum Ihr Euch bereit
erklärt habt, mich zusammen mit Duan Wenyang in einen Hinterhalt zu locken",
sagte Yan Wushi. „Yuwen Yong weigert sich, den Buddhismus zu erheben, also habt
ihr Tag für Tag Männer geschickt, um die Kök-Türken zu infiltrieren.
Schließlich konvertierte sogar Taspar Khagan zum Buddhismus, aber die
Kök-Türken haben die Eigenschaften von Wölfen und Tigern: wild und
rücksichtslos. Der Einfluss des Buddhismus blieb begrenzt, und Eure einzige
Möglichkeit war, sich wieder der Nördlichen Zhou-Dynastie zuzuwenden.
Yuwen Yong ist dem Buddhismus gegenüber unglaublich
misstrauisch. Selbst wenn Ihr die Huanyue-Sekte zerstören würdet, würde er den
Buddhismus nicht wieder aufleben lassen. Das Beste wäre also, erst mich zu
töten, dann Yuwen Yong zu töten, dann den Kronprinzen Yuwen Yun aufsteigen zu
lassen und ihm schließlich die Treue zu schwören. Yuwen Yun ist anders als sein
Vater ‒ er ist dem Buddhismus sehr zugetan. Die Jahre, in denen Ihr ständig an
ihn appelliert habt, waren nicht umsonst! Sobald er an die Macht kommt, wird
der Buddhismus in der Nördlichen Zhou-Dynastie wieder zu seinem alten Ruhm
gelangen."
Zenmeister Xueting rief einen der Namen des Buddhas an. „Yuwen
Yong schwelgt in Krieg und Gemetzel", sagte er. „Er beutet das Volk aus
und verschleudert Reichtümer; er ist nicht im Geringsten ein erleuchteter
Herrscher. Sein Krieg gegen Qi hat dieses Mal das ganze Land noch mehr
belastet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Massen unter der Last
zusammenbrechen."
„Ihr wollt also sagen, dass Ihr stattdessen den Kronprinzen
Yuwen Yun für den wahren erleuchteten Herrscher haltet?", fragte Yan
Wushi, zutiefst amüsiert.
Zenmeister Xueting antwortete schlicht: „Der Kronprinz
verehrt und versteht den Buddhismus zutiefst. Es ist sein Schicksal, ein Buddha
zu werden."
Langsam breitete sich ein Lächeln auf Yan Wushis Gesicht
aus. „Wenn man bedenkt, was für ein Mensch Yuwen Yun ist, müsst Ihr Euch ganz
schön anstrengen, um Euch selbst so nach Strich und Faden anzulügen! Erstaunlich.
Ihr wollt mich einfach nur töten, richtig? Na dann, nur zu! Wo ist Duan
Wenyang? Sagt ihm, er soll herkommen!"
Als seine Worte fielen, durchdrang ein helles Lachen die
Luft. „Wie egoistisch von Sektenanführer Yan. Hat er nie daran gedacht, dass
heute der Tag kommen könnte, an dem er stirbt?"
Erklärungen:
Durch die roten Hügel wandere ich, um
die Sanddünen winde ich mich. Frigides Eis sickert in mein Fleisch; die Kälte
des Windes pocht in meinen Knochen: aus 白馬篇, oder das Lied vom weißen Pferd, von Shen Yue.
…Erbstücksiegel der
Qin-Dynastie, 传国玉玺. Das sagenumwobene kaiserliche Siegel aus
der Qin-Dynastie.
Vajrapani ist einer der “acht großen Bodhisattvas“ des Mahayana-Buddhismus. Er wird insbesondere im tibetischen Buddhismus angebetet wo er auch, als „Herr der Geheimnisse“ gilt und zur Vajra-Buddhafamilie gehört. Vajrapani gilt als die Verkörperung der Tatkraft aller Buddhas.
Ein Zenmeister oder eine
Zenmeisterin ist im Zen-Buddhismus jemand, der oder die eine tiefe Einsicht in
die Dharma-Lehre erlangt hat und von einem bestehenden Zenmeister oder einer
Zenmeisterin als qualifiziert erachtet wird, andere in der Zen-Praxis zu leiten
und zu unterrichten.
⇐Vorheriges Kapitel Nächstes Kapitel⇒
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen