Über zweihundert Meilen aus goldenem Sand, so weit das Auge reichte. Die Wüste Gobi schien so, als könnte man ein Leben langlaufen und würde nie ihr Ende erreichen.
Der lärmende Wind schlug ihm ins Gesicht. Es war schmerzhaft.
Yin Chuan hatte bereits einen ganzen Tag und eine ganze
Nacht ohne Wasser verbracht. Bei jedem Atemzug wehte ihm Sand in Mund und Nase,
und seine Kehle schmerzte, als würde sie mit einem Messer geschabt werden.
Aber trotzdem musste er weitergehen. Wenn er es nicht tat
und seine Verfolger ihn einholten, würde ihn nur noch der Tod erwarten.
Er wusste nicht, wie lange er schon gelaufen war ‒ weit vor
ihm und in der Ferne war die gleiche gelbe Fläche.
Yin Chuan war fast am Verzweifeln. Das Schwert auf seinem
Rücken fühlte sich abnormal schwer an und beeinträchtigte seinen Schritt und
seine Atmung. Es war so schwer, dass er sich danach sehnte, es abzunehmen und
weit wegzuschleudern.
Aber das konnte er nicht tun. Das Schwert existierte
zusammen mit dem Mann. Wenn das Schwert unterging, ging auch der Mann zugrunde.
Yin Chuans Familie hatte eine Blutschuld, und sie warteten darauf, dass er sie
eintrieb.
Sein Schweiß rann ihm die Stirn hinunter, tropfte in seine
Augen und trübte seine Sicht. Während der Wind um ihn herum heulte, glaubte Yin
Chuan, sein eigenes Keuchen noch zu hören. Obwohl sein Körper bereits an seine
Grenzen gestoßen war und er kaum noch weitermachen konnte, blieb ein Gedanke in
seinem Herzen, der ihn davor bewahrte, aufzugeben, der ihn davor bewahrte,
zusammenzubrechen.
Aus der Ferne ertönte das Geräusch von Hufschlägen.
Yin Chuan wusste nicht, ob er wirklich Verfolger hörte oder
ob er schon so erschöpft war, dass er Halluzinationen hatte. Aber sie trieben
wieder einmal seinen Überlebensinstinkt an: Irgendwie füllten sich seine Beine
mit Kraft, und er beschleunigte sogar seine Schritte.
„Dieser Langjun war einst so hübsch, ein Jadebaum im Wind.
Doch nach ein paar Tagen des Herumhetzens ist er so erbärmlich geworden! Wenn
ich ihn nur sehe, tut mir das Herz weh!"
Die sanfte, liebliche Stimme löste in Yin Chuan keine
überraschte Freude oder Neugier aus. Stattdessen war es, als hätte er ein
Gespenst gesehen ‒ sein Gesicht war voller Schrecken.
Der Grund dafür war einfach: Vorhin war eindeutig niemand in
der Nähe gewesen, und doch war die Stimme plötzlich in seinen Ohren explodiert.
Wenn nicht etwas mit seinem Gehör nicht stimmte, bedeutete dies, dass die
Kampfkünste der anderen Partei seine bei Weitem übertrafen.
Yin Chuan sammelte alle Kraft in seinem Körper und
beschleunigte noch mehr, doch diese Stimme hing an ihm wie ein Schatten und
folgte ihm ohne Unterlass.
„Warum ignoriert dieser Langjun mich? Reicht meine Schönheit
nicht aus, damit du stehen bliebst?"
Die Hände von Yin Chuan zitterten leicht. Seine Beine
schienen nicht mehr seine eigenen zu sein ‒ sie schmerzten und schmerzten bis
zur Taubheit. Sein Dantian war völlig leer, sein wahres Qi völlig erschöpft.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus und brach auf dem Boden zusammen.
Die Stimme unterdrückte ein Lachen und sagte dann süßlich: „Oh
je! Dieser Langjun ist so erbärmlich! Diese Hier wird dir helfen!"
Eine Hand, die so weich war, dass sie fast knochenlos
schien, ergriff Yin Chuan an der Schulter, hob ihn mühelos vom Boden auf und
setzte ihn unter einen Baum.
Yin Chuan schnappte nach Luft, dann wischte er sich den
Schweiß von der Stirn. Seine Sicht klärte sich allmählich, und er sah eine
junge, rot gekleidete Frau mit einem hübschen Gesicht vor sich stehen. Sie
starrte ihn an und lächelte, während sie mit ihrem Haar spielte.
Die Tage, die er auf der Flucht verbracht hatte, hatten Yin Chuan
von einem wohlhabenden jungen Meister, der keine Gefahren und Entbehrungen
kannte, in einen Mann verwandelt, der jederzeit wachsam war, sowohl im Schlaf
als auch beim Aufwachen. Trotz des harmlosen Aussehens des Mädchens wagte er es
nicht, sie zu unterschätzen. „Warum ist dieses Mädchen mir gefolgt?",
fragte er, unglaublich vorsichtig.
Das Mädchen lächelte: „Natürlich, weil du so gut aussiehst!"
Yin Chuan nahm einen Schluck Wasser aus dem Wassersack, den
er bei sich trug. Das beruhigte seine Kehle etwas: „Vielen Dank für die
freundlichen Worte des Mädchens. Ich werde jetzt gehen. Mögen wir uns in der
Zukunft wiedersehen."
Dass ein junges Mädchen im Frühling in der Wüste Gobi
auftaucht und sogar einem Mann folgt, den sie noch nie gesehen hat? Yin Chuan
tat so, als hätte er nichts Seltsames bemerkt. Als er spürte, dass er wieder zu
Kräften gekommen war, stand er schnell auf und machte sich auf den Weg.
Doch im nächsten Moment ließ ihn ein einziger Satz des
Mädchens innehalten.
„Ich habe gehört, dass der Herr der Familie Yin ein wahres
Heer von Konkubinen hatte und sich jede Nacht mit ihnen vergnügte. Warum also
benimmt sich der junge Meister wie ein kleines Kind, das noch nie eine Frau
gesehen hat?"
Sie kannte also seine Identität, und sie hatte etwas vor!
Yin Chuans Blick wurde augenblicklich misstrauisch, und
seine Hände umklammerten lautlos sein Schwert.
Als das Mädchen dies sah, lachte sie. „Du kannst mich nicht
einmal besiegen. Welchen Sinn hat es, so ein Theater zu veranstalten?"
Yin Chuan sah nur noch einen verschwommenen Fleck; in einem
Augenblick war sein Schwert aus seiner Hand geflogen und in der Nähe gelandet,
und auch seine Akupunkturpunkte waren getroffen worden, so dass er sich nicht
mehr bewegen konnte.
„Wer genau seid Ihr?!" Yin Chuan war sowohl wütend als
auch in Panik.
„Ich heiße Liu Xufei", stellte sich das Mädchen mit
einem Lächeln auf dem Gesicht vor, „Ich weiß, dass du von jemandem verfolgt
wirst. Wenn du bereit bist, in die Hehuan-Sekte einzutreten, kann ich für deine
Sicherheit garantieren."
Die Familie Yin hatte keine Erfahrung in der Kampfkunst; Yin
Chuan selbst war nur ein mittelmäßiger Kämpfer. Sonst hätte sie ihn nicht so
leicht überwältigen können. Dennoch wusste er von der Hehuan-Sekte.
Unter der Führung der Sektenanführerin Bai Rong wuchsen ihre
Macht und ihr Einfluss von Tag zu Tag, besonders jetzt, da sie die Gunst des
gegenwärtigen Kaisers erhalten hatten. Es gab Gerüchte, dass sie zusammen mit
dem Buddhismus die Unterstützung des Kaisers und der Kaiserin unter sich aufgeteilt
hätten.
„Ich bin kein Mitglied der Jianghu", sagte Yin Chuan, „Dieser
Yin kann die gütigen Absichten des Mädchens nur hinnehmen."
Liu Xufei ärgerte sich nicht über seine Ablehnung, sondern
lächelte nur weiter: „Ein einfacher Mensch trägt keine Sünde, aber der Besitz
eines Edelsteines macht ihn zum Sünder. Der größte Teil des Reichtums deiner
Familie ist versteckt, und nur du, das nächste Oberhaupt der Familie Yin, wirst
wissen, wo er ist. Das Volk von Tuyuhun will sein Land wiederherstellen und
wird dich deshalb niemals gehen lassen. Doch dir fehlt die Fähigkeit, diese
Dinge zu schützen. Früher oder später wirst du ihnen in die Hände fallen.
Anstatt dies zuzulassen, solltest du dich der Hehuan-Sekte anschließen und
unseren Schutz in Anspruch nehmen. Wir werden nicht das gesamte Vermögen der
Familie Yin an uns reißen, zumindest würden wir es mit dir halb und halb
teilen. Was hält Yin-Langjun davon?"
Vor vier Jahren hatte Yang Guang den Thron bestiegen und
anschließend einen Krieg gegen Tuyuhun begonnen. Er vernichtete Tuyuhun auf
einen Schlag und wandte sich dann gegen den Yin-Clan, die reichste Familie in
Tuyuhun. Die Familie Yin wurde niedergemetzelt, und nur Yin Chuan konnte
entkommen. Nach der Vernichtung der Familie Yin hatte der Hof ein
beträchtliches Vermögen erbeutet, aber das war weit entfernt von den Legenden,
die behaupteten, die Familie Yin besäße einen Reichtum, der dem eines ganzen
Landes gleichkäme. So verbreitete sich im Stillen das Gerücht, der Schlüssel
zur Schatzkammer der Familie Yin sei bei Yin Chuan versteckt, und nur er wisse,
wo sich diese Schatzkammer befinde.
Infolgedessen wurde Yin Chuan, der nach dem Massaker an
seinem Clan noch nicht wieder zu sich gekommen war, von allen Seiten gejagt.
Der kaiserliche Hof der Sui-Dynastie und die Überreste von Tuyuhuns Macht
suchten nach ihm. Und jetzt klopfte sogar die Hehuan-Sekte an.
Yin Chuan zwang sich zu einem Lächeln: „Ich werde dieses
Mädchen nicht anlügen.
Ich habe noch nie einen solchen Schlüssel besessen, und die
Familie Yin hat keine Schatzkammer. Meine Vorfahren haben zwar ein großes
Vermögen angehäuft, aber mein Vater hat alles vor langer Zeit verprasst, und
der kaiserliche Hof hat den Rest bereits geplündert. Ich habe gar nichts mehr."
Liu Xufei glaubte ihm natürlich nicht.
Die Familie Yin hatte viele Gäste beherbergt; jeder wusste, dass
ihre Mitglieder aus Bechern tranken, die aus Glasur bestanden, dass sogar ihre
Essstäbchen aus Gold gefertigt wurden und mit Jade eingelegt waren. Ein
schlaues Kaninchen hat drei Ausgänge zu seinen Höhlen ‒ wer würde glauben, dass
die Familie Yin es versäumen würde, sich einen Ausweg zu verschaffen?
Liu Xufei sagte sanft: „Soweit ich weiß, sind die Leute von
Tuyuhun nicht nur hinter deinem Vermögen her, sondern auch hinter deinem Leben.
Die Hehuan-Sekte will nur die Hälfte des Reichtums deiner Familie, und wir
garantieren sogar für deine Sicherheit. Ist Yin-Langjun nicht in der Lage,
seine Möglichkeiten abzuwägen und die richtige Entscheidung zu treffen?"
„Ich fürchte nur, wenn ich erst einmal in eure Hände
gefallen bin, wird die Entscheidung nicht mehr bei mir liegen."
Liu Xufei war etwas erstaunt. Sie hatte nicht erwartet, dass
dieser zarte und verwöhnte Junge in der Lage sein würde, so tief zu denken.
Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Du hast sehr
gründlich darüber nachgedacht, aber ist dir nicht eine Sache entgangen, die du
übersehen hast? Die Entscheidung liegt nicht bei dir, nicht einmal jetzt."
Sie streckte ihren Arm aus, und ihr roter Ärmel flatterte
mit einem angenehmen Duft, der an die zauberhafte Szene von Jiangnan im späten
Frühling erinnerte, sanft und exquisit. Yin Chuan war bereits wie gelähmt und
konnte nur hilflos zusehen, wie diese Hand näher kam ‒ er konnte nichts tun.
Doch letztendlich berührte die Hand des Mädchens in Rot Yin Chuan
nicht. Im nächsten Augenblick war sie verschwommen vor ihm, und dann kämpfte
sie gegen einen Mann.
Yin Chuan freute sich nicht darüber, dass er gerettet worden
war. Stattdessen verschlechterte sich sein Gesichtsausdruck.
Er erkannte diesen Mann.
Dieser Mann war der Grund, warum er in den letzten Tagen um
sein Leben geflohen war ‒ Cheng Lugui, der Schüler von Tuyuhuns Staatspräzeptor,
der Kosa-Weise.
Die Roben der beiden Parteien flatterten und tanzten,
während sich ihre innere Energie in kräftigen Wellen entlud. Nur der
unbewegliche Yin Chuan hatte darunter zu leiden, denn von Zeit zu Zeit griffen
die Wellen ihn an.
Es ist unnötig, zu sagen, dass er ziemlich niedergeschlagen
war.
Yin Chuan dachte, dass die beiden wie Hunde waren, die sich
gegenseitig beißen und zerfleischen, wenn es um ein Stück fettes Fleisch geht.
Und sein Pech war dieses Fleisch, das der Gnade der anderen ausgeliefert war.
Ganz gleich, wer hier gewann, es würde ihm nichts nützen.
Liu Xufei war Cheng Lugui in den Kampfkünsten eindeutig
überlegen ‒ Cheng Lugui konnte sich bald nur noch erbärmlich verteidigen, und
Liu Xufei lächelte die ganze Zeit.
„Dieser junge Langjun hat seine Kampfkünste nicht richtig trainiert.
Ihr solltet in den Schoß Eures Shifu zurückkehren, um noch ein paar Jahre Milch
zu trinken. Warum seid Ihr hier aufgetaucht, nur um Euch zu blamieren?"
Sie war so zart und hübsch, doch ihre Worte waren so hart
und giftig, dass man sich vor Scham am liebsten in ein Loch verkriechen würde.
Cheng Lugui war wütend, sein Gesicht errötete. In stockender
Han-Sprache sagte er: „Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram! Dies ist nicht
die Zentralebene und schon gar nicht das Gebiet Eurer Hehuan-Sekte! Wenn Ihr
Eure Hand zu weit hineinsteckt, dann passt auf, dass sie Euch nicht abgehackt
wird!"
Liu Xufei lächelte strahlend: „Ich würde mich gerne zerhacken
lassen, aber ich fürchte, Euch fehlt die Fähigkeit dazu!"
„Hätte dieser Ehrwürdige denn die Kraft dazu?"
Plötzlich ertönte eine Stimme, der man das Alter anmerkte. Obwohl sie
unauffällig klang, fiel Yin Chuan plötzlich zu Boden. Ein Summen erfüllte seine
Ohren, und ein dumpfer Schmerz erwachte in seiner Brust. Beinahe hätte er einen
Mundvoll Blut ausgespuckt.
Liu Xufei, die den Sieg fest im Griff hatte, wurde plötzlich
blass. Da sie im Vergleich zu Yin Chuan schneller Gefahr witterte, schwebte
ihre rote Robe nach hinten, ihre Bewegungen waren so anmutig wie die eines
Schmetterlings, und sie ließ sich auf einem Ast nieder.
Auf dem fadenscheinigen Ast stand eine Person, doch er
schwankte nur ein wenig.
Liu Xufei wischte ihren schockierten Blick weg, und ihr
strahlendes Lächeln kehrte zurück. „Es war also der Staatspräzeptor von
Tuyuhun. Dieses kleine Mädchen entschuldigt sich für ihre Unhöflichkeit!"
Der Kosa-Weise trug eine Kasaya, aber nicht im Stil der
Buddhisten der Zentralebene, sondern er war wie ein Mönch jenseits der
Zentralebene gekleidet. Er hatte ein durchschnittliches Gesicht, seine Brauen
waren zu den Schläfen gewölbt, und seine Augen waren schmal und stumpf. Er
schien nur etwa vierzig Jahre alt zu sein.
Hätte Lu Xufei nicht seine Identität preisgegeben, hätte Yin
Chuan niemals vermutet, dass dieser Mann einer der bekanntesten
Kampfkunstmeister der Welt war, so berühmt wie der Sektenanführer von der Huanyue-Sekte,
Yan Wushi, und der Sektenanführer vom Xuandu-Berg, Shen Qiao.
In der Gegenwart dieses Mannes musste Liu Xufei äußerst
vorsichtig sein. Auch wenn ihr Gesicht lächelte, konnte es die Vorsicht nicht
verbergen, die in ihr steckte.
„Geht es dem Sektenanführer Ihrer geschätzten Sekte gut?",
fragte der Kosa-Weise.
Liu Xufei zuckte zusammen, aber sie erlangte ihr Lächeln sofort wieder. „Ich
fürchte, es ist schon zu lange her, dass der Weise die Zentralebene besucht
hat, und er ist ein wenig verwirrt. Im Moment ist Bai-Zongzhu für uns
zuständig."
„Ist das so?", sagte der Kosa-Weise kühl. „Als ich
früher in der Zentralebene war, war Bai Rong nur ein kleines Mädchen, noch
feucht hinter den Ohren. Jetzt gibt sie sich sogar als Sektenanführerin aus,
und auch ihre Schüler haben keine nennenswerte Begabung. Wahrlich, jede
Generation ist der Vorherigen unterlegen."
Liu Xufeis Miene versteifte sich leicht. Obwohl sie wütend
war, wagte sie es nicht, es zu sagen: „Der Weise spricht zu ernst. Mit unserer Sektenanführerin
an der Spitze ist die Hehuan-Sekte größer und stärker geworden als je zuvor,
viel stärker als zu Zeiten von Sang-Zongzhu. Wenn der Kosa-Weise bereit ist, in
die Zentralebene zu reisen und uns als Gast zu besuchen, wird ihn die
Hehuan-Sekte auf das herzlichste Willkommen heißen."
Der Kosa-Weise lachte laut, doch der Klang war einzigartig kalt und teilnahmslos. „Eine Sekte, deren Anführerin sich ihren Platz durch den Charme einer Frau verdient hat, die einen Kaiser der Zentralebene verzaubert hat, wagt es, sich stark zu nennen? Glaubt nicht, dass dieser Ehrwürdige nichts von euren doppelzüngigen Machenschaften mitbekommen hat!"
Während er sprach, erhob sich seine gesamte Person in die
Luft, scheinbar ohne sich abzustoßen, völlig spontan. Im Handumdrehen stand er
vor Liu Xufei, seine Robe und seine Ärmel wehten wie vom Winde verweht auf sie
zu.
Liu Xufei erbleichte vor Schreck. Sie wusste ohne Zweifel,
dass sie bei einem Treffer seiner Handfläche sofort Knochenbrüche und einen
Mund voll Blut erleiden würde.
Es blieb keine Zeit, weiter nachzudenken, geschweige denn,
sich mit dem nahen Yin Chuan zu beschäftigen. Sie schleuderte sich sofort nach
hinten und ließ sich fallen.
Kurz bevor sie den Boden berührte, landete sie mit den
Handflächen zuerst und klopfte leicht auf den Boden. Dabei drehte sich ihr
ganzer Körper ‒ und im Nu war sie Dutzende von Schritten zurückgewichen.
Trotzdem war es klar, dass Liu Xufei nicht wagte, auch nur
einen Moment innezuhalten. Sie drehte sich sofort nach der Landung um und
rannte los, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Im Handumdrehen war sie
spurlos verschwunden.
„Der Weise ist ein edler und tugendhafter Mann!", eine
süße Stimme drang aus der Ferne zu ihnen herüber. „Xufei hatte das Glück, ihn
heute zu treffen, und war überglücklich! Ich werde nicht vergessen, meiner
Meisterin und den Ältesten davon zu berichten und wiederzukommen, wenn ich
eingeladen werde. Ich überlasse es dem Weisen, sich um den Jungen zu kümmern!"
Verwirrt fragte Cheng Lugui: „Shizun, warum haben wir diese
Dämonin nicht einfach gefangen genommen?"
„Sie und Bing Xian sind die Lieblingsschülerinnen von Bai
Rong. Sie gefangen zu nehmen, bringt uns nichts und würde nur eine Fehde mit
der Hehuan-Sekte auslösen. Das ist nicht unser Ziel."
Das reichte aus, um Chen Lugui das Wort zu entziehen.
Yin Chuan sah zu, wie Liu Xufei ging und nur der Meister und
der Schüler, der Kosa-Weise und Cheng Lugui, zurückblieben. Sein Herz war
verzweifelt. Er hatte gedacht, dass sie kämpfen würden ‒ wenn zwei Tiger
kämpfen, würde einer von ihnen unweigerlich fallen und ihm die Chance zur
Flucht geben. Stattdessen hatte Liu Xufei verloren und sich so schnell
zurückgezogen, dass seine Hoffnungen zunichtegemacht wurden. Jetzt, da er in
die Hände des Kosa-Weisen gefallen war, fürchtete er, dass ihn ein Schicksal
erwartete, das schlimmer ist als der Tod.
Während sich seine Gedanken drehten, war Cheng Lugui in
seine Richtung gelaufen. Er packte Yin Chuan an der Schulter und schleuderte
ihn dann brutal zu Boden.
„Wolltest du nicht noch weglaufen? Lauf! Mal sehen, wohin du
rennen kannst!"
Yin Chuan biss die Zähne zusammen und ertrug den Schmerz.
„Wohltäter Yin, Tuyuhun wurde vom Yang-Clan der Sui-Dynastie
zerstört, und sie haben auch Eure Familie ausgelöscht. Wir sollten
zusammenarbeiten. Wenn Ihr bereit seid, die Besitztümer Eurer Familie zu
übergeben, wird Tuyuhun, sobald die Wiederbelebung abgeschlossen ist, Truppen
zum Angriff auf die Sui-Dynastie entsenden, und Eure Blutschuld kann beglichen
werden. Auf diese Weise könnt ihr zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, also
warum seid Ihr so stur?"
Es war nicht das erste oder zweite Mal, dass Yin Chuan
solche Worte hörte. Die andere Partei wollte einfach nicht glauben, dass der
große Reichtum der Familie Yin völlig vergeudet, worden war. Yin Chuan hatte
keine Lust zu streiten, also schloss er einfach die Augen und schwieg.
Cheng Lugui grinste. „Shizun, dieser Bengel ist viel zu
starrköpfig. Ich werde dafür sorgen, dass er seinen Mund aufmacht."
Er streckte zwei Finger aus und kniff Yin Chuan in die
Schulter, dann ließ er sie nach unten gleiten. Dabei ertönten knackende
Geräusche entlang des Arms, und Yin Chuan hielt es nicht mehr aus: Er begann
vor Schmerz zu schreien.
„Muskel von den Knochen reißen? Warum so weit gehen?"
Mitten in dieser extremen Qual und Folter schien Yin Chuan
diese Stimme seufzen zu hören. Er war jedoch nicht in der Lage, ihr die nötige
Aufmerksamkeit zu schenken, um sie zu erkennen ‒ er dachte sogar, er hätte sich
verhört.
Ein Stein flog auf das Handgelenk von Cheng Lugui zu. Der Kosa-Weise
grinste kalt und hob seinen Ärmel, um ihn zu Boden zu schlagen.
Doch Cheng Lugui konnte seine Folterung von Yin Chuan nicht
mehr fortsetzen ‒ es schien, als hätte ihn jemand heimlich von hinten
geschlagen. Er spürte nur einen Schmerz in seinem Rücken; auch sein
Akupunkturpunkt war getroffen worden, weshalb er sich nicht mehr bewegen
konnte.
Im selben Moment erkannte der Kosa-Weise, dass mit seinem
Schüler etwas nicht stimmte. Er befreite sofort Cheng Luguis Akupunkturpunkt,
kümmerte sich aber nicht weiter um Yin Chuan. Stattdessen war er schockiert und
wütend zugleich.
Er war wütend darüber, wie sein Gegner ihn getäuscht und
dann von anderer Stelle aus zugeschlagen hatte, und wie ihm ein hinterhältiger
Angriff direkt vor seiner Nase gelungen war. Und er war schockiert darüber, wie
dreist diese Person war, über sein überragendes Selbstvertrauen. Offensichtlich
waren er erschreckend stark.
Die andere Partei hatte nicht die Absicht, sich aus dem
Staub zu machen. Nach diesem Schlag traten sie hinter einem hohen Felsen
hervor, der nicht allzu weit entfernt war.
Flatternde daoistische Roben; ein Gesicht, das heiter und
schön war. Er sah aus wie ein Unsterblicher.
Der Kosa-Weise hatte es nicht eilig, zuzuschlagen. Wenn man
so alt ist wie er, entwickelt man natürlich die Fähigkeit, alle möglichen Dinge
zu beurteilen. Obwohl der Mann jung aussah, besaß er unglaubliche Kampffähigkeiten;
man konnte sein Alter nicht anhand seines Aussehens bestimmen.
In seinem Kopf tauchte schnell eine Liste von Personen aus der
Jianghu auf, die einen ebenso guten Ruf hatten, wie er selbst ‒ es fiel ihm
nicht schwer, den Mann vor ihm zu identifizieren.
„Die Vorstellung, dass derer große und erhabene
Sektenanführer des Xuandu-Berges wie ein Feigling einen Überraschungsangriff
auf seinen Junior durchführen würde. Er wird seinem Ruf wirklich nicht gerecht!"
Shen Qiao lächelte. „Aber der Kosa-Weise duldet, dass sein
Schüler einen Junior verletzt. Das scheint auch nicht gerade gerecht und aufrichtig
von ihm zu sein, nicht wahr?"
Sein Ton war sanft, ohne auch nur eine Spur von Provokation
oder Zorn.
Unter großen Qualen öffnete Yin Chuan die Augen und starrte
Shen Qiao ausdruckslos an. Er wusste nicht, ob die Ankunft dieses Mannes seine
Erlösung oder eine weitere Runde des Leidens bedeutete.
Der Kosa-Weise runzelte innerlich die Stirn. Der Ort, an dem
sie sich gerade befanden, war nicht gerade belebt, und doch war erst die
Hehuan-Sekte aufgetaucht, und jetzt war es der Xuandu-Berg. Es war klar, dass
die Situation der Familie Yin nun allen bekannt war. Um zu verhindern, dass
weitere Verzögerungen zu künftigen Problemen führten, musste er Yin Chuan
schnell wegbringen.
„Es gibt eine Geschichte zwischen unserem Tuyuhun und Yin Chuan,
und er hat sich Dinge genommen, die eigentlich Tuyuhun gehören, also muss mein
ehrwürdiges Selbst ihn natürlich wegbringen. Ich bitte Daozhang Shen, sich um
seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern!"
Als Yin Chuan dies hörte, war er fassungslos. Unfähig, sich
um etwas anderes zu kümmern, rief er: „Rettet mich, verehrter Daozun Shen! Ich
habe nichts genommen, was Tuyuhun gehört!"
Shen Qiao warf einen Blick auf Yin Chuan und sagte dann zum Kosa-Weisen:
„Er ist nicht der Schüler des Weisen, könnte der Weise mir also erlauben, ihn
mitzunehmen?"
Der Kosa-Weise grinste. „Daozhang Shen, Eure Worte sind
furchtbar bizarr! Aus welchem Grund muss mein ehrwürdiges Selbst jemanden von
mir an Euch ausliefern?" Als diese Worte fielen, ignorierte er jede
Antwort, die Shen Qiao hätte geben können, und schlug einfach nach ihm.
Das Qi strömte wie der Wind, der durch Wälder und Berge fegt
und die wolkenverhangenen Gipfel durchstreift. Es hob und senkte sich, und Yin Chuan
spürte nur einen enormen Druck auf seinen Kopf, der sofort zu pochen begann,
als ihn Übelkeit überkam. Shen Qiao handelte sofort ‒ er hob seinen Ärmel,
durchtrennte das Qi des Kosa-Weisen und kehrte es gleich darauf um. Er formte
das wahre Qi zu einer Kugel und schleuderte sie zu ihrem ursprünglichen
Absender zurück.
Die Roben des Kosa-Weisen wogten in die Höhe ‒ er war nicht
mehr an seinem ursprünglichen Platz. Aber Shen Qiao hob nicht den Kopf, sondern
stürmte vorwärts. In dem Moment, in dem er sich bewegte, erschien eine Gestalt
an der Stelle, an der er zuvor gestanden hatte.
Es war der Kosa-Weise
Yin Chuan sah mit runden Augen zu, Schock und Entsetzen
mischten sich. Erst jetzt begriff er das wahre Ausmaß der Kampffähigkeiten des Kosa-Weisen.
Der einzige Grund, warum er bisher so weit hatte fliehen können, war, dass
Cheng Luguis Shifu nie persönlich aufgetaucht war.
In dem Moment, in dem er nach vorne stürmte, ergriff Shen
Qiao sein Schwert, und Shanhe Tongbei kam aus seiner Scheide hervor. Er sprang
in die Luft und führte einen rückwärts gerichteten Hieb aus. Wo auch immer das Schwertlicht
hinfiel, folgten ihm funkelnde Lichter ‒ seine Majestät hallte durch Himmel und
Erde.
Der Gesichtsausdruck des Kosa-Weisen veränderte sich leicht.
Er wagte es nicht, diesen Schlag einzustecken, sondern zog sich zurück und wich
aus. Doch in dem Moment, in dem er sich zurückzog, stellte er mit Erschrecken
fest, dass es ihm an Kampfeswillen mangelte ‒ dass er überhaupt den Wunsch
hatte, sich zurückzuziehen. Selbst wenn seine Fähigkeiten denen von Shen Qiao
ebenbürtig gewesen sein sollten, würde dieser kurze Ausrutscher seine
Niederlage sichern.
Natürlich verfolgte ihn das Schwertlicht auf Schritt und
Tritt. Shen Qiao hielt nicht eine Sekunde inne ‒ sein Schwertqi schoss hervor
und schnitt einen Teil des Ärmels des Kosa-Weisen ab.
Shen Qiao nutzte diese Gelegenheit, um Yin Chuan hinter sich
herzuziehen. Erst dann hielt er inne und richtete sich mit seinem Schwert auf.
Der Gesichtsausdruck des Kosa-Weisen veränderte sich
schlagartig. „Der Sektenanführer des Xuandu-Berges wird seinem Ruf wirklich
gerecht!"
„Der Weise ist zu gütig", sagte Shen Qiao großzügig, „Ich
fürchte, wenn Ihr alles gegeben hättet, wäre auch ich nicht so einfach
davongekommen."
Als der Kosa-Weise diese Worte hörte, beruhigte sich sein
Herz ein wenig, aber da er gerade gesehen hatte, wie die von ihm gekochte Ente
in die Hände von Shen Qiao gefallen war, wollte er die Sache natürlich nicht
auf sich beruhen lassen.
„Ich habe gehört, dass Yang Guang nach seiner
Thronbesteigung die Beziehung, die Yang Jian zuvor zum Daoismus hatte,
aufgegeben hat und stattdessen den Buddhismus unterstützt. Logischerweise
sollte Tuyuhuns Wunsch, unsere Nation wiederzubeleben, nicht mit den Interessen
von Daozhang Shen in Konflikt geraten. Im Gegenteil, wir können sogar
zusammenarbeiten. Wenn Daozhang Shen bereit ist, Yin Chuan auszuliefern, kann
mein ehrwürdiges Selbst die Hälfte des Vermögens der Familie Yin an ihn
abtreten."
Shen Qiao schüttelte den Kopf. „Der Weise hat ein paar Dinge
falsch verstanden. Die Zusammenarbeit der daoistischen Disziplin mit Yang Jian
war nie eine Beziehung von Unterstützern und Unterstützten. Yang Guangs
Verbundenheit mit der buddhistischen Disziplin ist seine eigene Angelegenheit.
Für alle Dinge in der Welt gilt: Solange sie sich mit dem Fluss bewegen können,
werden sie natürlich gedeihen. Der Daoismus ist so, und die Dynastien sind es
auch. Ich bin auf dem Rückweg von den Westlichen Regionen zurück in die
Zentralebene durch dieses Gebiet gekommen, und mein Eingreifen hat nichts mit
dem Reichtum anderer zu tun. Und selbst wenn die Familie Yin immensen Reichtum
besäße, so gehört dieser der Familie Yin. Da Yin Chuan nicht bereit ist, es dem
Weisen zu geben, warum fordert er es mit Gewalt?"
Der Kosa-Weise spottete. „Wie man es von einem Sektenanführer
des Daoismus erwartet. Völlig aufgeblasen und voll vom scheinheiligen Blödsinn.
Was solls, wenn dieser Ehrwürdige es mit Gewalt verlangt?"
„Es ist wichtig, sich seiner selbst bewusst zu sein, du
kahlköpfiger alter Esel."
Shen Qiao hatte diese Worte nicht gesagt, und es war noch
absurder, sich vorzustellen, sie könnten von Yin Chuan stammen. Sie schienen
aus dem Nichts aufgetaucht zu sein.
Der Gesichtsausdruck des Kosa-Weisen verdrehte sich
drastisch. Als Shen Qiao an diesem Ort eintraf, waren ihm Hinweise auf seine
Anwesenheit vorausgegangen, aber von diesem neuen Sprecher war keine Spur zu
finden. Der Kosa-Weise hatte keine Ahnung, wo sich dieser andere Mann versteckt
hatte oder wie lange er schon lauschte. Er hatte ihn überhaupt nicht bemerkt.
„Wer ist da?!", brüllte Cheng Lugui, während er die
Umgebung absuchte. „Genug mit den Tricks!"
Dann sahen sie, wie ein Mann von einem nahen Baum
heruntersprang, der fast kahl war und nur noch wenige Blätter hatte. Bis jetzt
war niemand auf dem Baum gewesen.
Als Shen Qiao den Neuankömmling sah, machte er einen
Ausdruck der Hilflosigkeit. „Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst im Gasthaus
auf mich warten? Und schon wieder bist du gekommen, um Ärger zu machen."
Die Schläfen des Mannes waren leicht blass, aber sein
Gesicht war furchtbar schön, als er lächelte. „Dort gibt es nichts zu tun. Ich
habe nicht erwartet, etwas so Unterhaltsames zu sehen."
Die Erscheinung des neuen Mannes war so auffällig, dass der Kosa-Weise
seine Identität sofort erraten konnte.
„Yan Wushi?!"
Jetzt hatte sich sein Gesichtsausdruck endgültig verändert.
Ein einzelner Shen Qiao war schon ein heikles Problem für ihn, und nun war auch
noch der führende Kampfkunstmeister der Welt hier. Er hatte sofort jede Chance
auf einen Sieg verloren.
Es war fast so, als besäße der Name eine magische Kraft:
Alle, die ihn hörten, erblassten vor Entsetzen. Cheng Lugui hielt sein Schwert
quer über die Brust, seine Wachsamkeit unglaublich hoch. Doch auch diese
Maßnahme war wenig hilfreich.
Yan Wushi hob eine Augenbraue, als er den Kosa-Weisen
betrachtete: „Ich habe gehört, dass Ihr bei der letztjährigen Rangliste der
zehn Besten den fünften Platz belegt habt und damit um mehrere Ränge
aufgestiegen seid. Seitdem ist das Herz dieses Ehrwürdigen unruhig ‒ warum
machen wir nicht einen Übungskampf?"
Der Mund des Kosa-Weisen zuckte. „Dieser Ehrwürdige hat noch
einige wichtige Angelegenheiten zu erledigen. Ich werde den Vorfall mit Yin Chuan
vorerst in Erinnerung behalten und euch beide an einem anderen Tag um Rat in
Sachen Kampfkunst bitten."
Mit diesen Worten schnappte er sich seinen Schüler und ging.
Sein Qinggong hatte längst die Stufe der Transzendenz erreicht ‒ in wenigen
Schritten war er bereits Dutzende von Metern von Shen Qiao und Yan Wushi
entfernt.
Yan Wushi hatte keine Lust, ihn zu verfolgen. Stattdessen
sagte er zu Shen Qiao: „Ich habe ihn verscheucht.“
Shen Qiao fand das etwas komisch, konnte aber auch nicht
umhin zu sagen: „Der Kosa-Weise hat viele Jahre lang in Abgeschiedenheit
meditiert, daher sind seine Kampfkünste natürlich außergewöhnlich. Als ich mir
vorhin einen Schlagabtausch mit ihm lieferte, stellte ich fest, dass seine
Stärke nicht geringer, sondern eher mit der meinen vergleichbar ist. Leider ist
er zu sehr darauf bedacht, sein Land wiederzubeleben, und so ist er über seine
eigenen inneren Dämonen gestolpert."
Yan Wushi gab ein leichtes Brummen von sich. „Wir brauchen
uns nicht mit ihm zu beschäftigen. Lass uns essen gehen."
Er zerrte an Shen Qiao und machte sich auf den Weg.
Yin Chuan merkte plötzlich, dass er sich bewegen konnte. Als
er sah, was Yan Wushi tat, schob er die Schmerzen in seinem Arm beiseite und
warf sich auf die Seite, um sich an Shen Qiao festzuhalten. Doch mit einem
Schnipsen von Yan Wushis Ärmel wurde er wieder zurückgeschleudert.
„Dieser Hier ist Yin Chuan! Er bittet Daozun Shen, ihn als
Schüler anzunehmen!"
„Ich bin stärker als er", sagte Yan Wushi neugierig, „Warum
bittest du dann ihn und nicht mich?
Yin Chuan wagte nicht, etwas zu sagen wie: „Ich habe gehört,
dass Ihr launisch und unberechenbar seid“. Also konnte er nur antworten: „Mein
verstorbener Vater schätzte Daozhang Shen sehr, und auch unter den Gästen der
Familie Yin gab es solche, die seine Güte empfingen. Daher bewundert dieser Junior
das Verhalten von Daozun Shen sehr und hofft, dass er an seiner Seite dienen
kann. Selbst Reinigungsarbeiten und Gelegenheitsjobs wären eine große Ehre!"
Yan Wushi grinste ihn unverblümt an. „Ist das nicht nur ein
Versuch, Schutz vor den Fähigen zu suchen? Wenn du dich an A-Qiao klammerst,
wirst du nicht mehr gejagt werden."
Diese Worte ließen Yin Chuans Absichten auffliegen. Sein
Gesicht wurde ein wenig rot, aber zum Glück war er in den letzten Tagen auf der
Flucht um sein Leben ziemlich braun geworden, weswegen es nicht allzu
offensichtlich war.
„Wollt Ihr die Kampfkünste erlernen, um Euch zu rächen?",
fragte Shen Qiao.
Yin Chuan schüttelte den Kopf und lächelte verbittert. „Dieser
Junior wird ehrlich sein; meine Persönlichkeit war träge, und die beiden
Meister, die mich in der Vergangenheit in Kampfkunst unterrichtet haben, sagten
alle, dass mir das Talent fehle. Die meiste Zeit habe ich mich nur für Kalligraphie
und Malerei interessiert. Wenn ich nicht so nutzlos wäre, hätte ich meine
Familie retten können und wäre nicht als einziger Überlebender zurückgeblieben.
Außerdem stimmt es, dass der Grund für die Ausrottung der Familie Yin darin
lag, dass die Bäume, die
über dem Wald stehen, vom Wind verwüstet werden, aber wir selbst trugen
auch eine gewisse Schuld. Dies war das Ergebnis eines Kreislaufs des Karmas."
Shen Qiao lächelte leicht. „Sie sind in der Tat eine
geradlinige Person. Ihr seid nicht untalentiert, aber Ihr seid ungeeignet für
den Xuandu-Berg und die Huanyue-Sekte."
Yin Chuan dachte nur, dass die andere Partei ihn höflich
abwies. Er war zwar enttäuscht, aber das Glück, überhaupt einem Zongshi der
Kampfkünste zu begegnen und sogar von ihm gerettet zu werden, war schon ein
Segen. Es wäre wirklich unangebracht gewesen, nachtragend zu werden, also sagte
er respektvoll: „Dieser Junior versteht das."
Shen Qiao lachte. „Ich war noch nicht fertig. Auch wenn wir euch
nicht als unseren Schüler annehmen werden, gibt es eine Person, die sehr gut
geeignet ist, Euer Shifu zu sein."
Ein Licht am Ende des Tunnels. Yin Chuans Lebensgeister
stiegen in die Höhe.
„Zhan Ziqian von der Linchuan-Akademie",
sagte Shen Qiao, „Obwohl er nur überdurchschnittlich gut kämpfen kann, ist er
ein berühmter Meistermaler der heutigen Zeit. Ich kann Euch jedoch nur zu ihm
bringen ‒ ob er Euch annimmt, hängt von ihm selbst ab."
Yin Chuan war überglücklich: „Jeder kennt den Namen von
Meister Zhan! Wenn ich sein Schüler werden kann, könnte dieser Junge hundert
Tode sterben, ohne es zu bereuen!"
Yan Wushi jedoch war unglücklich. „Willst du diese Last mit
uns zurück in die Zentralebene schleppen?"
Shen Qiao lächelte. „Das ist überhaupt kein Problem. Wenn
ich jemandem helfen kann, werde ich es tun. Das Einzige, was passieren wird,
ist, dass ich mit dir zur Huanyue-Sekte zurückkehre, nachdem ich ihn zu Zhan
Ziqian gebracht habe. Wie wäre es damit?"
Doch Yan Wushi stellte ihm absichtlich Fragen: „Oh? Hat dich
Bai Rong nicht zu einem Frühlingsfest eingeladen? Gehst du nicht hin?"
Shen Qiao schüttelte den Kopf. „Zurzeit ist die Hehuan-Sekte
zu sehr in die Interessen von Yang Guang verwickelt, deshalb möchte ich sie
nicht sehen. Wir werden uns in der Zukunft wiedersehen."
Yan Wushi grinste. „Berge und Flüsse sind leichter zu ändern
als der eigene Charakter. Die Hehuan-Sekte war schon immer so. Fall nicht
wieder in deine lästige Gewohnheit zurück, so zart und weich zu werden!"
Shen Qiao war am Ende seiner Kräfte. „Du ...!"
Die beiden gingen weiter, während sie sich unterhielten.
Obwohl ihre Schritte nicht schnell zu sein schienen, flossen sie so gleichmäßig
wie die Wolken und die Flüsse ‒ und in einem Augenblick waren sie schon weit weg.
Yin Chuan keuchte und schnappte nach Luft; er war kurz
davor, zurückzufallen. Doch dann sah er, dass Shen Qiao bereits angehalten
hatte und mit einem Lächeln auf ihn wartete.
Als er sah, dass er die Person sehen würde, die er sein
ganzes Leben lang bewundert hatte, fühlte Yin Chuan, wie sich sein Körper mit
unerschöpflicher Energie füllte, und er rannte schnell los, um sie einzuholen.
Es würde immer noch Hoffnung geben.
Erklärungen:
… die Bäume, die über dem Wald stehen,
vom Wind verwüstet werden: Der Baum, der über dem Wald steht, wird vom Wind
verwüstet, 木秀於林,風必摧之 ist im Grunde es eine Metapher. Es ist eine Redewendung,
die eine gängige daoistische Philosophie erklärt. Der Baum, der am höchsten
wächst, wird als der beste im Wald angesehen. Aber weil er am höchsten ist, ist
er auch anfälliger für natürliche Bedrohungen. Je größer das Talent eines
Menschen ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er Neid, Kritik und
Feindseligkeit von anderen Menschen auf sich zieht. Diese Redewendung warnt die
Menschen im Grunde davor, sich zu profilieren.
Für alle, die hier mit den Namen durcheinanderkommen. Yang Guang, der zweite Sohn, ist jetzt nach seinem Vater (Yang Jian) der neue Kaiser geworden und Bai Rong hat sich seine Gunst erschlichen und damit die Macht ihrer Hanyue-Sekte gestärkt.
Zhan Ziqian ist übrigens der Mann, der früher von Shen Qiao unbedingt ein Porträt malen wollte, anscheinend hat er sehr weit gebracht mit seiner Malerei.
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Ich weiß jetzt ehrlich gesagt nicht, was ich zu diesem Kapitel schreiben soll. o.o"
AntwortenLöschenDaher vielen Dank fürs Übersetzen und die ganzen Erklärungen die unten in den Kapiteln immer sind^^
Mir persönlich würde da auch kein wirklicher Kommentar zu diesem Kapitel einfallen.
LöschenVielen lieben Dank für deinen Kommentar. Die Erklärungen mache ich doch liebend gerne, das Recherchieren macht mir doch auch Spaß. Vor allem bei Zhan Ziqian habe ich erst nach mehrmaligen Lesen des Kapitels gescheckt, wer das sein könnte. Dann musste ich die Charakterguides durchgehen, um mir sicher zu sein, denn dieser Typ taucht gefühlt nur am Anfang auf und verschwindet dann für immer. Ich frage mich nur, ob er es endlich geschafft hat, das Bild von Shen Qiao zu malen und ob Yan Wushi das zugelassen hat.